“Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“ – Über die Unfähigkeit zu lernen
Am 26. April 1986, also heute vor dreißig Jahren, kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zum GAU. Götz Eisenberg erinnert an diese Katastrophe und unsere Unfähigkeit, aus Katastrophen wie diesen zu lernen.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich, als es noch den Ostblock und die Sowjetunion gab. Das machte es gewissen Leuten leicht, das Problem zu externalisieren. So sprach Franz-Josef Strauß prompt von einer „kommunistischen Katastrophe“ – mit der Unterstellung, dass die Atomkraftwerke im hochentwickelten kapitalistischen Westen absolut sicher seien und nur der Kommunismus zu solchen Schlampereien imstande sei. Aber: Hatten nicht auch wir ähnlich alte Anlagen? Biblis A ging 1974 ans Netz, Neckarwestheim und Brunsbüttel 1976, insgesamt stammen sieben Anlagen aus der Frühzeit der AKW‘s. Die Anzahl der Störfälle in deutschen Akw’s ist Legion. Auch die Laufzeiten dieser veralteten Atommeiler hat die schwarz-gelbe Bundesregierung verlängert. Wer außer Politikern sagt uns, dass nicht auch hierzulande ein Gau oder gar Supergau möglich ist? Ein „sicheres Atomkraftwerk“ ist ein Oxymoron – also die Zusammenziehung zweier sich widersprechender Begriffe zu einem – wie es sich Orwell nicht besser hätte ausdenken können.
Ich erinnere mich, dass ich in den späten Apriltagen 1986 nach dem Baden in einem kleinen Teich auf einer Wiese im Vogelsberg in der Frühlingssonne saß und Tilmann Mosers Buch Grammatik der Gefühle las. Plötzlich wurde ich von einem Schwarm Bienen angegriffen. Sie waren ungewöhnlich aggressiv, und ich trug rund ein Dutzend Stiche davon, bevor ich mich ins Auto flüchten konnte. Abends hatte ich Fieber und erfuhr aus den Nachrichten vom Reaktorunglück in Tschernobyl und der radioaktiven Wolke, die Richtung Westeuropa trieb. Bienen haben offenbar ein Sensorium zur Wahrnehmung von Strahlungen, über das wir Menschen nicht verfügen.
Seit Tschernobyl kann man nicht mehr so ohne weiteres sagen: „Mairegen bringt Segen“. Die Wolken trugen aus Nordosten den atomaren Fallout mit sich und regneten ihn bei uns ab. Auf der Insel Reichenau wurden die Salatköpfe umgepflügt, monatelang durften Kinder nicht im Sandkasten spielen. Auch Nicht-Muslime trugen plötzlich Kopfbedeckungen und ließen die Straßenschuhe vor der Wohnungstür stehen. Manche Pilzsorten sind bis heute kontaminiert.
Alexander Kluge schrieb zehn Jahre später: „Bis zu drei Generationen glauben wir zu übersehen, wenn wir noch die Großeltern kennen und auf Enkel hoffen. Das ist ein Umkreis von 90, höchstens 180 Jahren Lebenserfahrung. Die durch Höhenwind und Regen vom Tschernobyler Explosionsherd über die Ackerfurchen unseres Landes verteilte Strahlung besteht aus verschiedensten radioaktiven Elementen. Einige davon haben Halbwertzeiten bis zu 300.000 Jahren. Wer kann sich einen solchen Zeitraum vorstellen? Wer glaubt, dass irgendeine menschliche Institution Kontrollen und Vorsorge für einen solchen Zeitraum bereitstellen kann? Der Untergang des Römischen Reiches ging vor weniger als 2000 Jahren vor sich. Lange Zeit (mehr als tausend Jahre) war dies ein Gemeinwesen, das Verantwortung übernehmen konnte, danach zerfiel es. Tatsächlich hat das Land, in dem die Katastrophe von Tschernobyl stattfand und wo zuvor von Staats wegen alle Voraussetzungen für die Katastrophe zusammengefügt wurden, die Explosion des Kernkraftwerks um ganze fünf Jahre überlebt. Danach war die Sowjetunion, als planende, haftende, der Annahme nach ausreichend große Struktur, entschwunden.“ (Die Wächter des Sarkophags, Hamburg 1996, S. 8/9)
Tschernobyl – wie zuvor bereits der Reaktorunfall von Harrisburg im Jahre 1979 – wären zu lesen gewesen wie Menetekel: eine mahnende Schrift an der Wand, der abzulernen gewesen wäre, dass die technischen Omnipotenzgefühle des Menschen eine Illusion, ja ein Wahn sind. Tschernobyl und Harrisburg waren Lehrstücke in puncto „Dialektik der Aufklärung“: Die Menschen bringen gegen die äußere Natur Wissenschaft und Technik in Stellung. Im Laufe des Prozesses fortschreitender Naturbeherrschung emanzipieren sich die Mittel zu Zwecken und die Menschen verwandeln sich in bloße Anhängsel der kapitalfixierten Technik, die sie schließlich verschlingt und vernichtet.
Alexander Kluge spricht in diesem Zusammenhang vom „Napoleonismus der Dinge“ – ein Begriff, der von einer autoritären Herrschaftsform abgezogen ist, die Napoleons III. (ein Neffe Napoleons I.) am 2. Dezember 1851 durch einen Staatsstreich errichtete. „Napoleonismus der Dinge“ beschreibt eine Extremform von Entfremdung, eine Herrschaftstotalität von Verdinglichung, die Vorherrschaft der schon getanen, toten Arbeit vergangener Generationen über die lebendige Arbeit der gegenwärtigen. Der Überhang der toten Arbeit droht uns zu verschlingen, die von uns selbst geschaffenen Dinge stellen sich auf die Hinterbeine, nehmen ein gespenstisches Eigenleben an und erschlagen uns. Wir kommen zu spät mit unserem Lernen, das uns zu der Erkenntnis hätte führen können, dass man bestimmte Dinge überhaupt nicht tut.
Wer aber nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl auf eine Art von Katastrophendidaktik gehofft und geglaubt hatte, die einmal eingetretene Katastrophe würde zu einer grundlegenden Kurskorrektur der Fortschrittsrichtung und zu ihrer Entbrutalisierung führen, sah sich schnell enttäuscht. „Der Druck des Alltags“, fährt Kluge fort, „ist mächtig. Das Gefühl wehrt Erfahrungen, die nur die eigene Ohnmacht bezeichnen können, nach einiger Zeit wirksam ab. Mächtige Kräfte führen zur Abstumpfung der ‚neuen Sensibilität’, wie sie der Mai 1986 bei vielen Menschen, nicht nur den kritischen, hervorgebracht hatte.“ Die Hoffnung, dass größtes menschengemachtes Unheil zu Maßnahmen zur Verhinderung seiner Wiederholung führen würde, wurde enttäuscht. Hunderte Menschen starben unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe, die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis auf den heutigen Tag etwa 50.000 Menschen an ihren Folgen starben – von Missbildungen und chronischen Krankheiten einmal abgesehen. Und auch nach der Katastrophe von Fukushima kam es zu keinen mentalitätsverwandelnden Einsichten und keinem prinzipiellen und nachhaltigen Zweifel an der Gangart des gesellschaftlichen Prozesses. Walter Benjamin schrieb: “Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“
Womöglich greift die auf Günther Anders zurückgehende Rede von der „Apokalypseblindheit“ als Erklärung für unsere Unfähigkeit, aus Katastrophen zu lernen, zu kurz. Vielleicht geht von der Vorstellung der Apokalypse eine ruinöse Lockung aus und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir es mit einer im Untergrund der Zivilisation wirksamen Apokalypsesehnsucht zu tun haben. Urs Widmer sagte in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen:
„Und die Apokalypse ist auch deswegen eine reizvolle Option, weil am letzten Tag alle sterben, Sie auch, nicht nur ich, allein, von keinem der für einmal noch Überlebenden besonders beachtet.“ Auch der Autor Günter Steffens hat der Verschwiegenheit seines Tagebuchs das „Verlangen nach der tellurischen Katastrophe“ anvertraut. Angesichts des Sterbens der geliebten Partnerin schien ihm „die Zeit gekommen für’s Ende aller Zeiten, weil die Zeit für ihr Ende gekommen schien. Jedes Leben sollte erlöschen mit dem ihren. Man braucht kein gescheiterter Tyrann zu sein, um – dennoch triumphierend in einem Sieg über allen Siegen – die ganze Welt mitreißen zu wollen in den Untergang der eigenen.“
Wobei diese Option trügerisch ist, denn die uns bevorstehende Apokalypse wird aus einer Kumulation von Teil-Apokalypsen zusammengesetzt sein und in einer gestreckten Agonie bestehen. „Die Apokalypse neuen Typs“, heißt es bei Harald Welzer, „ erlaubt nicht einmal die narzisstische Befriedigung, dass mit einem selbst auch der Rest der Menschheit untergeht; der Untergang findet selektiv und sukzessive statt, ist fies und ungerecht, sortiert Verlierer und Gewinner. Wobei allerdings fraglich ist, wie viele Mitglieder die zweite Gruppe ab der übernächsten Generation noch zählen wird.“ Die zeitgemäße Apokalypse „ist kein Weltenbrand, keine Sintflut, kein Höllenfeuer. Sie ist nicht einmal ein Unfall. Sie ist bloß, was geschieht, einfach so.“
Vor einiger Zeit hatten wir in unserer Kulturgruppe im Butzbacher Gefängnis den Frankfurter Schriftsteller Andreas Maier zu Gast. Er las unter anderem einen Text, den er bereits im Jahr 2003 in der ZEIT veröffentlicht hat. Der Text heißt „Die Legende vom Salzstock. Ratlos in Gorleben: Wo ist der Castor wirklich? Die Geschichte einer Selbsttäuschung“. Zu seiner Verblüffung stellte Andreas Maier als Gast im Wendland fest, dass die Castor-Behälter, in denen der Atommüll nach Gorleben transportiert wird, nicht in einem als „Endlager“ dienenden Salzstock landen, wie er angenommen hatte, sondern in einer grünen Halle. Diese grüne Halle ist das Zwischenlager, wo die Castoren überirdisch stehen und erst einmal abkühlen, also: vor sich hin strahlen. Der einigermaßen irritierte Andreas Maier startete eine Befragung im Kreis seiner Freunde, Bekannten und Familienangehörigen: Stehen die Castoren unterirdisch oder überirdisch? Alle antworteten: unterirdisch. Manche „wussten“ sogar, dass die Castoren im Salzstock stehen, so wie er es vor einem halben Jahr auch noch „wusste“. Auch wir, die wir Andreas Maier an diesem Nachmittag zuhörten, mussten uns eingestehen, dass wir genauso ahnungslos gewesen und auf semantische Tricks hereingefallen waren.
Ich erinnere mich, dass ich nach der Katastrophe von Fukushima eine Dokumentation über den Umgang der DDR mit den Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl sah. Der Transit-Verkehr zwischen Ost- und Westeuropa hielt auch nach dem Gau in Tschernobyl an. Doch für Lastwagen aus dem Ost-Block, die mit strahlendem Staub und Dreck verseucht waren, war an der deutsch-deutschen Grenze Schluss. Sie wurden von den westdeutschen Grenzschützern nicht durchgelassen, sondern in die DDR zurückgeschickt. Dort sollten sie zunächst gereinigt werden. Eine dieser Reinigungsstationen war das Verkehrskombinat im thüringischen Mühlhausen. Otto Zöllner und sieben weitere Mitarbeiter hatten die Lastwagen zu waschen. Die Männer wurden über die radioaktive Gefahr im Dunkeln gelassen. Sie hatten keine Strahlenanzüge und am ersten Tag auch noch keinen Geigerzähler. Otto Zöllner erinnert sich: “Ich weiß noch, dass Messungen dabei waren, wo der Geigerzähler bis hinten hinausgeschlagen hat.” Am Ende des Interviews sieht man Otto Zöllner über einen Friedhof gehen, auf dem seine inzwischen gestorbenen Kollegen beerdigt sind. Alle sind den Spätfolgen ihrer Dekontaminierungsarbeit erlegen, kaum einer von ihnen ist älter als 60 Jahre geworden.
Es ist zum Haare-Raufen und Verzweifeln. „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren“, heißt es bei Gotthold Ephraim Lessing
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. In der Edition Georg Büchner-Club erscheint demnächst unter dem Titel Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst der zweite Band seiner Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus.