Pflegeausbeutung in den eigenen vier Wänden
Der Pflegenotstand in Deutschland wird für Betroffene zunehmend zur menschlichen Katastrophe. Mangels staatlicher Unterstützung sind immer mehr Familien gezwungen, Pflegekräfte aus Ost- und Mitteleuropa einzustellen, um Kosten zu sparen. Sogenannte „Live-Ins“, die rund um die Uhr in privaten Haushalten von Pflegebedürftigen leben, müssen oft unter extrem unfairen Bedingungen arbeiten. Eine Besserung ist bislang nicht in Sicht – denn zu sehr profitiert auch der deutsche Staat von dieser Ausbeutung. Von Bernhard Emunds[*].
Dieser Artikel ist ein Auszug aus Bernhard Emunds neuem Buch „Damit es Oma gutgeht. Pflegeausbeutung in den eigenen vier Wänden“).
In Deutschland halten die politisch Verantwortlichen am Grundsatz »ambulant vor stationär« fest, obwohl sie wissen, dass das Potenzial zur Angehörigenpflege schwindet. Zwar gibt es immer wieder einzelne Leistungsverbesserungen für die häusliche Pflege beziehungsweise für pflegende Angehörige; aber diese lösen das grundlegende Problem der Überforderung pflegender Angehöriger nicht. Dazu würde es gut geknüpfter Netze der Unterstützung häuslicher Pflege bedürfen, durch welche die Angehörigen von einem erheblichen Teil der Pflegearbeit entlastet würden: von einigen der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten und von einigen der Aufsichts- und Betreuungsaufgaben. Aber der Ausbau der Pflegestützpunkte sowie der Verhinderungs-, der Kurzzeit- und der teilstationären Pflege kommt nur schleppend voran; die Angebote erreichen viel zu wenige pflegende Angehörige. Und was ist mit einer Förderung der haushaltsbezogenen Dienstleistungen, die die Angehörigen ja auch entlasten könnte? In Deutschland weitgehend Fehlanzeige! So bleibt es bei einer Politik, die einem Grundsatz folgt, der immer weniger zu verwirklichen ist. Eine solche Politik ist mit hohen Lasten verbunden. Diese haben vor allem die Betroffenen zu tragen – gerade auch die pflegenden Angehörigen, von denen nach wie vor die meisten Frauen sind.
Mit dem Grundsatz »ambulant vor stationär« setzt die deutsche Pflegepolitik auf die Familie und auf deren Potenzial wechselseitiger Unterstützung – und unternimmt doch viel zu wenig, um es den Familien zu ermöglichen, die steigenden Lasten der Pflege zu tragen, oder um ihnen einen Teil der Aufgaben abzunehmen, damit sie in der Lage sind, den Rest selbst zu übernehmen. Die Pflegepolitik in Deutschland wirkt so, als halte sie noch immer an der Fiktion fest, dass die Familie in der Lage sei, alle Aufgaben der Pflege selbst zu leisten, so, als werde Pflege – wie in früheren Jahrzenten – von der Familie beziehungsweise von den Frauen ganz selbstverständlich und spontan erbracht. Den Familien trauen die politisch Verantwortlichen die Pflege zu und – so scheint es – sie vertrauen ihnen. Zumindest glauben sie, sie bräuchten nicht näher hinzusehen, wie die Familie all das leistet und ob die Pflegenden vielleicht überfordert sind und an den Lasten einer übergroßen Pflegeaufgabe zu zerbrechen drohen. Sie scheinen zu glauben: Der Respekt vor der Privatsphäre verbiete es, dass Personen, die nicht zur Familie gehören, einen Blick darauf werfen, ob die Pflegebedürftigen gut gepflegt werden und welche Lebens- und Arbeitsbedingungen diejenigen haben, die die Pflegearbeit leisten.
Die Erwerbsarbeit in den Pflegehaushalten muss reguliert und gefördert werden
Letztlich scheint die deutsche Pflegepolitik auch heute noch zu unterstellen, dass Pflege einfach eine Aufgabe der Familien sei – vor allem eine Aufgabe der Frauen in den Familien. Dabei war schon vor gut zwanzig Jahren die Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes von der Einsicht geleitet, dass Pflege eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« ist. Würde Pflege tatsächlich als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« verstanden, dann müsste die stationäre Pflege ausgebaut und im Sinne guter Pflege und gerechter Pflegearbeit weiterentwickelt werden, und sie müsste für alle, die dies wünschen, ohne Sozialhilfebezug zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig meint Pflege als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« keineswegs, sich von der Angehörigenpflege zu verabschieden. Schließlich bietet die häusliche Pflege – bei aller Belastung – Pflegebedürftigen und Angehörigen, die pflegen wollen, viele Möglichkeiten, Nähe zu erfahren und zu sehen, wie gut es tut, von Familienmitgliedern umsorgt zu werden oder diese zu umsorgen. Warum sollte der Staat die Angehörigenpflege, wenn sie vom Pflegebedürftigen und von seinen Angehörigen gewünscht wird, nicht fördern? Pflege als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, das meint daher auch, dass die pflegenden Angehörigen durch ein ganzes Netz von Unterstützern entlastet und begleitet werden müssen. In diesem Netz können Ehrenamtliche, die die Pflegepersonen begleiten, eine wichtige Rolle spielen. Die meisten Knoten dieser Netze müssten aber von Personen geknüpft werden, für die diese Unterstützung Erwerbsarbeit ist, und zwar eine Erwerbsarbeit, die sie unter fairen Bedingungen leisten können.
Schon zur Entlastung, Unterstützung und finanziellen Absicherung der pflegenden Angehörigen geschieht zu wenig. Wenn es aber um die Gestaltung der »24-Stunden-Pflege« und die Live- In-Pflegekräfte geht, dann duckt sich die deutsche Politik einfach nur weg; sie entzieht sich ihrer Verantwortung. Im Folgenden gehe ich zuerst auf dieses Politikversagen näher ein. Anschließend zeige ich allerdings auch die besonderen Probleme auf, die sich bei der Aufgabe stellen, die Erwerbsarbeit von Live-Ins zu regulieren. In drei weiteren Abschnitten entwickele ich einen dreiteiligen Vorschlag, wie Bundesregierung und Gesetzgeber versuchen könnten, diese besonderen Beschäftigungsverhältnisse zu gestalten. Ich ende mit kursorischen Bemerkungen zur Verteilung der Finanzierungslasten, die mit dem Politikvorschlag verbunden sind.
Eine Politik, die sich ihrer Verantwortung entzieht
Wer sich einmal mit dem Thema der »24-Stunden-Pflege« auseinandergesetzt hat, weiß, dass Angehörige Angst vor der ungewohnten Arbeitgeberrolle haben, dass sie befürchten, die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen zu können, dass sie oft ihre Aufgaben als Arbeitgeber aus dem Blick verlieren, zu denen es auch gehört, der Arbeitnehmerin ausreichend Freizeit einzuräumen. All das dürfte also auch den Pflegepolitikerinnen und -politikern bekannt sein. Trotzdem gibt es für private Haushalte keine vereinfachten Verfahren, eine Beschäftigung jenseits der Minijob-Schwelle anzumelden. Auch wurden bisher nirgendwo öffentliche Beratungs- und Servicestellen eingerichtet, die die Angehörigen bei der Abwicklung der Formalitäten und der Bewältigung anderer Arbeitgeberaufgaben unterstützen könnten. Dabei sind es nicht einmal zuerst die Arbeitgeber, die die deutsche Pflegepolitik im Regen stehen lässt, sondern vor allem die Arbeitnehmerinnen, also die Live-In-Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. Für deren Arbeits- und Lebenssituation scheinen sich die politisch Verantwortlichen nicht zu interessieren. Dabei verstößt die (beinahe) vollständig entgrenzte Arbeitszeit der Live-In-Pflegekräfte – wie im vorherigen Kapitel dargestellt – gegen deren Menschenwürde. Denn das Arbeitszeitregime der »24-Stunden-Pflege« lässt den Arbeitnehmerinnen keinen Freiraum für ein selbstbestimmtes Leben; die dadurch verursachte Dauerbelastung führt häufig zu chronischen Krankheiten. Zugleich steht es im Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zu völkerrechtlich bindenden Verträgen, die die Bundesrepublik eingegangen ist. Die Bundesregierung entzieht sich der Aufgabe, gegen die zum Teil menschenunwürdigen Arbeitsverhältnisse der Live-Ins vorzugehen. Im Gegenteil, sie bemüht sich, möglichst alle Live-In-Pflegekräfte von sämtlichen gesetzlichen Höchstgrenzen für die Arbeitszeit auszunehmen. Mit dieser Politik steht die Bundesregierung im Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Auftrag des Staates, zu verhindern, dass auf dem Territorium der Bundesrepublik systematisch gegen das Recht einer Gruppe von Menschen auf körperliche Unversehrtheit verstoßen wird.
Bei alledem kann man den Eindruck gewinnen, die Politik verdränge, dass es hier um ein Arbeiten und Leben mitten in Deutschland geht. Ganz zu schweigen davon, dass es mehrheitlich um das Arbeiten und Leben von Polinnen geht, also von EU-Bürgerinnen, die – abgesehen von der Beteiligung an politischen Prozessen – die gleichen Rechte haben wie Deutsche; es geht um das Arbeiten und Leben von Bürgerinnen eines Landes, dem sich die Bundesrepublik beziehungsweise das Gros der politischen Entscheidungsträger sowie der Bürgerinnen und Bürger besonders verbunden weiß – aufgrund einer besonders schwierigen Geschichte mit vielen besonders schweren deutschen Fehlern und in der Verpflichtung einer ganz besonderen Aussöhnung. Und trotzdem kümmert es nicht, wenn mehr als hunderttausend Polinnen ohne effektiven Rechtsschutz bei uns beschäftigt sind. Es kümmert nicht, dass sie unter Bedingungen erwerbstätig sind, unter denen kein Deutscher arbeiten würde. Es kümmert nicht, wenn Tausende von ihnen ausgebeutet werden von Menschen, die gewissen- oder eben auch nur gedankenlos die Einkommensmisere und den ineffektiven Rechtsschutz vieler Live-Ins ausnutzen.
Man stelle sich vor, die in den deutschen Privathaushalten tätigen Live-In-Pflegekräfte wären mehrheitlich deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger. Wären die politische Öffentlichkeit, der Bundestag und die Bundesregierung auch dann untätig geblieben?
Mit der Arbeitgeberrolle überforderte Angehörige, ungerechte Arbeitsbedingungen, kein Schutz der Live-Ins vor Ausbeutung: Die Politik überlässt die Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen in der »24-Stunden-Pflege« sich selbst – ein klarer Fall von Politikversagen! Tatsächlich sind es letztlich die politischen Entscheidungsträger, welche die Hauptverantwortung für die ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse in der »24-Stunden-Pflege« tragen. Vor allem sie sehe ich in der Verantwortung, Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer Verbesserung der Arbeits- und Pflegeverhältnisse in den Pflegehaushalten führen.
Natürlich haben auch andere Akteure jeweils ihren Teil zu den ungerechten und menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Live-Ins beigetragen und stehen entsprechend auch in der Pflicht, das ihnen Mögliche für eine positive Entwicklung der Arbeitsverhältnisse zu tun. Die meisten Inhaber und Mitarbeiter der Vermittlungsagenturen kümmert es nicht, dass viele der von ihnen vermittelten Pflegekräfte in den Privathaushalten schlecht behandelt werden. Sie versprechen den Familien, dass die Live-Ins jederzeit verfügbar sind. Manche zahlen den Pflegekräften nur geringe Löhne oder Honorare aus und setzen sie massiv unter Druck. Die Agenturen könnten den von ihnen vermittelten Live-Ins bessere Konditionen bieten, die Pflegehaushalte nach dem Arbeitsbeginn der jeweiligen Live-In weiter begleiten und darauf achten, dass die Arbeitnehmerinnen fair behandelt werden. Auch die Familien der Pflegebedürftigen stehen in der Pflicht. Faktisch sind sie fast immer die Arbeitgeber der Live-Ins und sind als solche für die Arbeits- und Lebensbedingungen der bei ihnen lebenden Arbeitnehmerinnen erstverantwortlich. Viele von ihnen nehmen gedankenlos die Zusagen der Vermittlungsagenturen für bare Münze, versetzen sich nicht in die Situation ihrer Beschäftigten und erwarten, dass diese rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche das Familienmitglied mit weit fortgeschrittener Demenz oder mit einem sehr hohen Pflegebedarf umsorgen, versorgen und gegebenenfalls beaufsichtigen. Einige andere Angehörige nutzen gewissenlos die schwache Position und den geringen Arbeitnehmerschutz der Pflegekräfte aus. Der Frage, was die Familien mit Pflegeverantwortung tun können, um zu einem aus ethischer Sicht vertretbaren Beschäftigungsverhältnis zu kommen, werde ich mich im nächsten Kapitel widmen.
Die Politik jedoch ist verpflichtet, für die Beschäftigung von Live-In-Pflegekräften geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Nur wenn die politischen Entscheidungsträger sich dieser Aufgabe stellen, werden sie der Verantwortung gerecht, die mit dem Bekenntnis zur Pflege als »gesamtgesellschaftlicher Aufgabe« verbunden ist. Nur wenn sie die Arbeitsverhältnisse der Live-Ins zu gestalten versuchen, entsprechen sie auch dem Auftrag des Staates, für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse zu sorgen, die die Erwerbstätigen nicht krank machen.
Bernhard Emunds: „Damit es Oma gutgeht. Pflegeausbeutung in den eigenen vier Wänden“, Westend Verlag, 17,50 Euro, 17. März 2016
[«*] Bernhard Emunds ist Leiter des Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt am Main