Zu „Aufbau Ost dauert noch 320 Jahre“
Die Rheinische Post berichtete am 20.06.08 über eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, wonach trotz guter Konjunktur in Gesamtdeutschland der Astand zwischen Osten und Westen kaum kleiner würde. Hielte der schwache Wachstumstrend in den neuen Ländern an, komme der Osten erst nach 320 Jahren auf West-Niveau. Den Beitrag von Alexander von Gersdorff kommentierte für uns der Ökonom Karl Mai.
Schon allein die pointierte Überschrift zeigt, dass kein wirkliches Verständnis für die Dynamik Ostdeutschlands in den nächsten Jahren beim Autor besteht: die lineare Projektion (von 0,2 % Angleichungsfortschritt je Jahr) in eine so ferne Zukunft ist absoluter Unsinn, weder wissenschaftlich haltbar noch politisch legitim. Es ist schon bei einer Vorausschau auf die nächsten 50 Jahre unmöglich, zutreffende Aussagen zu machen, die von den derzeitigen Prämissen ausgehen.
Aber sicherlich zielt der Autor nur darauf ab, einen Impuls des Entsetzens in der Öffentlichkeit zu erzeugen, um das Problem des Aufholens zu verdeutlichen. Und in der Tat, dieses Problem verdient stärkstes öffentliches Interesse, obgleich es derzeit keine Wege in der Praxis gibt, hier schneller zufriedenstellende Ergebnisse in der wirtschaftlichen Angleichung Ost-West zu realisieren. Aus der wissenschaftlichen Forschung sind optimistische Projektionen hierfür längst verbannt, und dafür gibt es gute Gründe: an erster Stelle ist der Rückgang der Transfers aus dem Solidarpakt II bis 2019 und der fortschreitende Rückgang der Wohnbevölkerung in Ostdeutschland zu nennen, überlagert von einem erzwungenen Abbau der öffentlichen Verschuldung der meisten ostdeutschen Gebietskörperschaften bei anhaltend hohen Zinslasten.
Dringt man analytisch tiefer in das Problem „Aufholprozess“ ein, so erweist sich die von Gersdorf getroffene Vorschau insofern als zweckoptimistisch, als sie einen kontinuierlichen Fortschritt im Aufholen unterstellt. Gerade hierin wir eine gefährliche Illusion geweckt, da die reale Dynamik nicht auf gleichbleibenden Determinanten basiert, sondern unter zeitlich variablen Faktoren erfolgt. Die quantitativen Annahmen (Prämissen) hierzu sind oft subjektiv eingefärbt oder willkürlich festgesetzt, um Modellrechnungen überhaupt lösbar zu gestalten. Daher wird auch in dem von Gersdorf zitierten IWH-Papier (nach Pressemitteilung 22-08) eigentlich nichts konkret zur langfristigen Perspektive der Angleichung Ost-West ausgesagt.
Interessant ist dagegen die Bemerkung des IWH:
„Die Absorption von Gütern und Dienstleistungen übertrifft nach Schätzung des IWH das Niveau der gesamtwirtschaftlichen Produktion nur noch um etwa 10 % ….“ (S. 3) Hieraus lässt sich dann die Erwartung ableiten, in wenigen weiteren Jahren eine Angleichung des Niveaus der regionalwirtschaftlichen „Endverwendung“ an die Eigenleistung in den neune Bundesländern zu erreichen. Diese Erwartung ist jedoch nicht gleichbedeutend mit “Aufholen Ost-West“ im Sinne der üblichen Interpretation des „Leistungsanstiegs BIP je Einwohner“. Im Gegenteil, sie verdeckt die Aussage, dass dann die ostdeutsche Region nur so viel verbrauchen wird, wie sie selbst erzeugt. Das lässt eigentlich keine Erwartung zu, dass hierbei jemals ein Aufholen einsetzen könnte, denn ein Aufholen kann bekanntlich ohne weitere investive Mittelzufuhr (privat und staatlich) in die ostdeutsche Unterentwicklungsregion nicht funktionieren. Begründung: überproportional höhere Investitionsquoten im Osten aus der niedrigeren eigenen Wertschöpfung im Osten sind langfristig nicht möglich.
Diese negative Implikation der zitierten IWH-Aussagen hat der Autor Gersdorf aber wahrscheinlich gar nicht erkannt. Das wirft einen Schatten auf die so eifrige publizistische Vermittlung von Studien der offiziellen Wirtschaftsforschung.