Die üblichen Nachrufe auf Hans-Dietrich Genscher: „Geschichtsverfälschende distanzlose Lobhudelei“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:
Albrecht Müller

Auf unseren Versuch, in den NachDenkSeiten das Lebenswerk des ehemaligen Außenministers und FDP-Vorsitzenden Genscher differenziert zu betrachten, haben eine Reihe von NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern reagiert, weiterführend und kritisch, einschließlich der Kritik, ich sei mit Hans-Dietrich Genscher zu freundlich umgegangen. Das kann sein. Wir geben im Folgenden – auszugsweise – eine Reihe der Zuschriften wieder. Albrecht Müller

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Unsere LeserInnen erinnern an die zweifelhafte Rolle von Genscher im Fall Chodorkowski, an seine Versäumnisse bei der Hilfe für Deutsche, die in die Hände der argentinischen Militärjunta und Mörder gefallen waren, an seine Balkanpolitik u.a.m.. Genscher warb für Geschäfte mit der privaten Altersvorsorge. Vielleicht gelingt der amtierenden Politik und den deutschen Medien im Umfeld des kommenden Staatsaktes für den Toten eine differenziertere Betrachtung.

Dass so viele Medienschaffende kritiklose bis euphorische Betrachtungen über die FDP-Politiker Genscher und Westerwelle schreiben oder senden, hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass ihren Interessen die FDP nahesteht und sie diese bei jeder Gelegenheit hoch loben und wieder in die Parlamente bugsieren wollen.

Zuschriften von NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern zu unserem Artikel vom 6. April „Gedenken an Genscher. – Muss man wirklich übertreiben, um einem Toten gerecht zu werden?

Sehr geehrter Herr Müller,

herzlichen Dank für Ihren heute erschienenen Nachruf auf den ehemaligen Außenminister Genscher. Ich war ja nun nie so nah drin im politischen Alltagsgeschäft wie Sie, aber auch aus der Distanz habe ich Genscher immer sehr kritisch gesehen. Ich bin sehr dankbar für ihre distanzierte Würdigung Genschers. Die Medienreaktion auf seinen Tod finde ich kaum auszuhalten. Kaum eine kritische Darstellung seiner „politischen Lebensleistung“ wie Sie es in Ihrem Beitrag geschafft haben, sondern meist eine völlig geschichtsverfälschende distanzlose Lobhudelei, also wolle sich niemand dazu hergeben, über einen Verstorbenen sich auch einmal kritisch zu äußern.

Mir scheint, die Menschen in Deutschland haben nur noch seine Mitteilung im Kopf, die zu seinem Tod immer und immer wieder in den Medien gezeigt und erwähnt wurde, in der er die Ausreise der DDR-Dissidenten bestätigt. Als wäre dies allein seine persönliche Leistung gewesen… Aber so ist nun mal offensichtlich die Wirkung von gelungener öffentlicher Propaganda, sie lässt das weniger Schöne oft in den Hintergrund treten und macht es in den Köpfen des Volkes schnell vergessen.

Mit den besten Grüßen und Wünschen!

C.H.

Guten Tag Herr Müller,

Ihre differenzierte Sicht des Politikers Genscher teile ich voll und ganz.

Trotz “De mortuis nil nisi bene” hier mal aus meiner Sicht Klartext zu Genscher: Genscher hat mein politisches Weltbild zerstört. Sein Ableben konnte ich daher auch nicht als Verlust empfinden.

Meine studentische Politisierung orientierte sich am Wirken und an der Person Brandts, Schmidt war dann schon zu “machtpragmatisch”. Die Rolle der FDP unter Genscher und Lambsdorff in der sozialliberalen Koalition konnte ich noch als den Preis der Macht und vielleicht auch als liberales Korrektiv akzeptieren. Trotzdem war die Aufkündigung der Koalition für mich politischer Verrat. Von da an war die FDP für mich auch wahltaktisch nicht mehr wählbar. In der Tat war sie der Türoffner für den hemmungslosen Neoliberalismus, unter dem das Land heute leidet.

Von daher ist die historische Rolle Genschers mehr als fragwürdig. Seine Rolle bei der Wiedervereinigung wird geschönt, er war wie Kohl nur ausführendes Organ. Die Impulsgeber waren, wie Sie sagen, die Initiatoren der Entspannungspolitik.

Für mich war Genscher ein politisches Chamäleon. Seine politischen (Un-)Tiefen und Verbindungen, worunter auch seine zwielichtige Rolle im Guillaume-Skandal fällt, sind noch immer klärungsbedürftig……

Mit freundlichen Grüßen

R. M.

Die undifferenzierte Betrachtung Westerwelles passt dazu.

Gruß

R. M.

Sehr verehrter Herr Müller,

neben all den Tricksereien empört mich an Genschers „Lebensleistung“ und der nun stattfindenden Lobhudelei ganz besonders sein Verhalten im Falle der Deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger (Elisabeth Käsemann ist ja nur die bekannteste), die von der argentinischen Militärjunta gefoltert und bestialisch ermordet wurden – ohne dass Genscher irgendetwas tat, um diese Menschen zu retten, für die er als deutscher Außenminister mehr verantwortlich war als irgendjemand sonst! Dass es möglich war, die eigenen Staatsangehörigen zu befreien, zeigt das Beispiel der Franzosen. Aber selbst WENN es irgendwelche „Verstimmungen“ zwischen der Bundesrepublik und den (US/CIA-gestützten) argentinischen Menschenschlächtern gegeben hätte: WELCHE hätte schwerer gewogen als Menschenleben? WENN Genscher „alles Mögliche“ oder auch nur irgendetwas ernsthaft versucht hätte, wäre es kein Problem, alle betreffenden Akten als Beweise dafür freizugeben……….

Freundliche Grüße und vielen Dank in die Einblicke in das Intrigenspiel Genschers, das mein Bild von ihm vollends bestätigt.

B.K.

Und Genscher hat eine sehr unrühmliche Rolle im Fall “des Mädchens” Elisabeth Käsemann gespielt. Er hat als Bundesaußenminister die junge Frau den argentinischen Folterknechten überlassen. Elisabeth Käsemann könnte heute noch leben, hätte Genscher auch nur den kleinen Finger gerührt im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft. Die Engländer haben ihre Geiseln auch freibekommen. Zu Recht haben sich im Nachhinein die deutschen Nationalspieler empört.

Genscher wollte dazu zeitlebens nicht Stellung nehmen.

G.H.

Hallo Herr Müller,

endlich konnte ich heute in den NDS eine Meldung lesen, die auch meinen Erinnerungen an Genscher entspricht.

So war beispielsweise in der Sondersendung (Brennpunkt) am Todestag kein Wort über seinen Verrat an Schmidt gefallen. Die Darstellung in den nds entsprechen auch meinen Erinnerungen, Ihren Ausführungen im Buch “Brandt aktuell” und auch daran, was Helmut Schmidt in seinem Buch “Außer Dienst” über Genscher geschrieben hat.

Geärgert hatte mich damals auch die Lobhudelei um Genschers Bemühungen für die Freilassung des Milliardärs Chodorkowski, ausgerechnet eines Oligarchen, der seine Milliarden in der  Schweiz bunkert; für wie viele andere hätte es eher dieses Engagements bedurft?

In swr.de hatte ich bei dem Hinweis auf Genschers Tod auch auf seinen Verrat im Jahre 1982 hingewiesen, woraufhin kurzfristig die Meldung verschwunden war.

Daher meine Gratulation zu Ihrem Mut und bitte weitermachen!

Mit besten Grüßen
P.B.

Eventuell sollte man auch an seine Rolle denken, die er im Jugoslawien Krieg gespielt hat……

Mit freundlichen Grüßen

K.K.

Hallo Herr Müller,

habe gerade Ihren Bericht von gestern auf NDS gehört.

Ich möchte zu sprechen kommen auf Ihre Formulierung: „1979, als die Truppen der Sowjetunion in Afghanistan einmarschierten“. Ich frage Sie, gehört es nicht zur journalistischen Redlichkeit, von der ich eigentlich immer bei Ihnen ausgehe, anzumerken, dass die Einschaltung des Militärs der SU 1979 absolut völkerrechtskonform erfolgte, nachdem die aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung in Afghanistan von bewaffneten Terroristen (über diesen Begriff müssen wir doch hinsichtlich von Taliban nicht streiten, oder?) unter hinterhältiger Unterstützung und Bewaffnung des US-Regimes existenziell in Bedrängnis geriet und deshalb die SU um Hilfe gebeten hatte. Zuletzt hingen ja dann auch die legitimen Führer Afghanistans an den Laternenmasten und die Sache war gelaufen. Ich war damals schon beschämt von dem widerwärtigen Verhalten der deutschen Außenpolitik mit Genscher an der Spitze und angeekelt von der Häme gegenüber der Sowjetunion.

Ich widerspreche Ihnen auch darin, dass dem Genscher per Saldo irgendetwas Positives nachzugedenken wäre. Ich erinnere mich natürlich auch daran, dass er auch einer der Hauptverantwortlichen war für die betrügerische Politik zur Wendezeit gegenüber Russland in Bezug auf die Ausdehnung der NATO, in Bezug auf den fest eingeplanten Betrug hinsichtlich der Schuldenprellerei gegenüber den von Deutschland geschädigten Ländern während des WK II, hier vor allem Griechenland und Jugoslawien……….Zum Schluss nur noch der Hinweis auf seine tollen Taten zuletzt: es ist für ihn bezeichnend gewesen, dass seine letzten Auftritte der Fürsorge für solche Gestalten wie Timoschenko und Chodorkowsky galten. Nein, ich kann seinen Taten nicht viel Gutes abgewinnen, da war nach meinem Verständnis viel Kriminelles dabei. Soll froh sein, dass er dafür nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Aber da können die ja hier alle ganz ruhig schlafen, da reicht ja der westlichen Wertegemeinschaft der Nachschub in Den Haag aus Jugoslawien und Afrika.

Viele herzliche Grüße

A.B.

Genscher als Lobbyist für große Interessen und die Zerstörung der sozialen Altersvorsorge

Aus meinem eigenen Archiv ergänze ich das Bild auf Hans-Dietrich Genscher mit einer Abbildung aus der Bild-Zeitung vom 23. Februar 2010. Genscher feierte 2010 die Gründung der MaschmeyerRürup AG zusammen mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem Privatvorsorgeprofiteur Carsten Maschmeyer, dem Professor Bert Rürup und dem ehemaligen Arbeits-und Sozialminister Walter Riester. Schon damals konnte man wissen, was jedes Kind heute weiß: Rürup-Rente und Riester-Rente sind ein sozialer Betrug größten Ausmaßes. Auf den NachDenkSeiten und in meinem Buch „Die Reformlüge“ können Sie das seit nunmehr 13 Jahren lesen.

Falls sich Journalistinnen und Journalisten für den Türöffner Hans-Dietrich Genscher zugunsten der Privatisierung verschiedener Einrichtungen bei befreundeten Ländern interessieren sollten – das ist ein interessantes Feld. Recherchieren lohnt sich. Auch sein Auftreten für die MaschmeyerRürup AG diente ja offensichtlich vor allem dem Zugang zu Entscheidungsträgern in Staaten, denen man die deutschen Irrwege verkaufen wollte.

Genscher als Lobbyist für große Interessen und die Zerstörung der sozialen Altersvorsorge

(Erschienen in der Bundesausgabe der Bild-Zeitung am 23. Februar 2010)

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