This is a – second – coup!
Im Sommer 2015, Mitte Juli, nach der Erpressung Griechenlands durch die EU in Brüssel, hat die gesamte Welt geschrien: „This is a coup“, „Das ist ein Putsch“. Damals hat sich die EU geweigert, einem großen europäischen Problem, nämlich dem der Staatsschulden – nicht nur Griechenlands – ernsthaft zu begegnen und eine nachhaltige Lösung zu suchen. Gleichzeitig wurde die Demokratische Entscheidung der Griechinnen und Griechen, die für ein Ende der Austeritätspolitik beim Juli-Referendum gestimmt hatten, brutal mit Füßen getreten. So wurde eine europäische Angelegenheit zu einer rein griechischen gemacht – mit der Folge, dass das Land in eine weitere Runde der wirtschaftlichen und sozialen Krise hineinrutschte. Viele haben damals von einem Ende der Solidarität in Europa gesprochen, das in Wirklichkeit ein Ende des Projekts EU bedeuten würde. Von Giorgos Chondros [*]
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Schon sehr bald bot sich der EU wieder die Möglichkeit, sich als nachhaltiges, solidarisches europäisches Projekt zu etablieren. Die Flüchtlingsfrage war – und ist noch immer – eine großartige Möglichkeit, um Europa wieder zu einer Wertegemeinschaft zu machen. Beweis dafür war und ist die große Hilfsbereitschaft in der österreichischen und deutschen Bevölkerung gegenüber Geflüchteten. Vor allem aber wird der Weg zu einer solidarischen EU-Gemeinschaft täglich von den Griechinnen und Griechen aufgezeigt. Die Bevölkerung eines seit Jahren kaputtgesparten Landes lebt weiterhin die humanistischen Werte der Solidarität, der Aufnahme und des Willkommens vor. Fast einer Million Flüchtlinge ist in den letzten Monaten in Griechenland geholfen worden, sind gerettet, untergebracht worden. Selbstverständlich keineswegs zufriedenstellend und nicht so, wie wir es wollen – die Bilder von Idomeni sind eine Schande für die europäische Zivilisation. Ich vermisse aber sowohl bei den griechischen als auch bei den europäischen Medien die positiven Bilder, die aus dem Engagement der Bevölkerung, der Behörden und der internationalen Helfer entstehen. Die Zielsetzung mag verblüffend erscheinen, liegt aber auf der Hand: Eine eindeutig europäische Angelegenheit soll auf nationaler Ebene gelöst werden.
Durch eine Inszenierung, die sich über Monate von Oktober 2015 bis März 2016 von EU-Gipfel zu EU-Gipfel erstreckte, wurde aus der internationalen Angelegenheit ein griechisch-türkisches Problem gemacht. Der EU-Türkei-Deal ist keine Lösung, vielmehr handelt es sich um das Abwälzen der Verantwortung auf zwei Staaten, die, was diese Frage betrifft, an einem „falschen geographischen Platz“ liegen. Die EU und vor allem die deutsche Regierung haben tatenlos zugesehen, wie von vielen (EU-)Staaten die Grenzen dicht gemacht werden. Das politisch gefährlichste ist dabei, dass sie gleichzeitig dem Rechtspopulismus, der Xenophobie und der neofaschistischen Agenda Raum gegeben haben. Aus einer internationalen, europäischen Frage wurde eine innenpolitische Angelegenheit gemacht, und erst so wurde die „Angst“ der etablierten Parteien real. Die Wahlen in Deutschland haben gezeigt, dass der stark nach rechts gerückte öffentliche Diskurs nur den rechtspopulistischen Parteien wie der AFD wahlpolitisch genützt hat.
Der EU-Türkei-Deal ist nicht realisierbar!
Die mit der Türkei getroffene Vereinbarung ist nicht realisierbar, weil es sich letztendlich um einen griechisch-türkischen Deal handelt, der keineswegs eine europäische Lösung darstellt – allein aus dem Grund, weil über die Hälfte der EU-Staaten sich nicht bereit erklärt, freiwillig Flüchtlinge aufzunehmen. Die deutsche Regierung bis jetzt auch nicht. Dabei geht es um 72000 Geflüchtete, das sind 0,0144 Prozent der EU-Bevölkerung! Also wohin mit den Menschen? Ein weiterer Punkt: Es müssen sich auch genauso viele Syrier auch überhaupt erst auf den lebensgefährlichen und illegalen Weg von der Türkei nach Griechenland machen, dort ankommen, von Griechenland zurück in die Türkei abgeschoben werden – erst dann wird anderen Syrern der legale Weg in die EU mit der Eins-zu-eins-Regel ermöglicht. Welch zynischer und absurder Gedanke …
Um es klar zu sagen. Dieser Deal ist illegal und verstößt gegen Menschen- und Flüchtlingsrechte, wie unter anderem UNHCR und Amnesty International behaupten. Die Türkei hat immer noch ein geographisch bedingtes Asylrecht, also nur für Europäer, und ist „kein sicheres Drittland“. Griechenland ist bis Juni 2016 auch „kein sicheres Herkunftsland“ und hat bis jetzt auch kein ausgereiftes und den Anforderungen gewachsenes Asylsystem. Dem Deal nach soll jetzt de facto der „nicht sichere Staat“ Griechenland ein anderes „nicht sicheres Land“, nämlich die Türkei, praktisch einseitig zu einem „sicheren“ erklären, denn sonst dürfen dorthin keine Flüchtlinge abgeschoben werden. Tatsächlich wird durch diese „Regelung“ internationales Recht und selbst die seit Jahrzehnten geltende Genfer Flüchtlingskonvention in Frage gestellt. Denn einerseits wird jeder und jedem Geflüchteten das Recht genommen, den Asylantrag dort zu stellen, wo sie bzw. er gerade ist – in Griechenland in diesem Fall –, und anderseits verlieren die Geflüchteten das Recht auf einen Asylantrag, wenn sie „illegal“ nach Griechenland gekommen sind – als ob es für Flüchtlinge bei abgeriegelten Grenzen einen legalen Weg gäbe …
Noch schlimmer: Die Kriegsflüchtlinge aus Syrien sollen in die Türkei abgeschoben werden, auch nachdem sie einen Asylantrag in Griechenland gestellt haben. Und auch wenn das Unmögliche möglich gemacht wird und ein Asylantrag in Griechenland binnen zehn bis fünfzehn Tagen bearbeitet wird, dann gibt es für den Antragssteller zwei Möglichkeiten: Sein Antrag wird angenommen und er bekommt das Recht, in Griechenland zu bleiben, anstatt in die Türkei abgeschoben zu werden; oder er wird abgelehnt und er wird deswegen in ein bis dato „nicht sicheres Herkunftsland“ abgeschoben. Beides ist nicht mit internationalem Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar. Unklar ist unterdessen, mit welchem Verfahren jene Syrer in der Türkei ausgesucht werden, die das Recht bekommen, in einem EU-Land aufgenommen zu werden. Gleichzeitig schließt dieser Deal alle Flüchtlinge aus anderen Ländern wie Irak, Kurdistan, Eritrea oder Afghanistan aus, was naturgemäß menschenrechtswidrig ist. Jedenfalls will die griechische Regierung mit einem Gesetzesentwurf, der am Mittwoch, den 30. März, im Parlament eingereicht wird, die Umsetzung dieses Abkommens beginnen.
Der Deal ist auch nicht ausgewogen. Die Türkei bekommt eine enorme finanzielle Hilfe, die am Ende des Tages 6 Milliarden Euro ausmachen soll, für Griechenland hingegen sind die vorgesehenen 300 Millionen Euro nur ein Teil des Geldes, das bis jetzt ausgegeben worden ist. Die tragischen Ereignisse von Brüssel stellen auch die gesamte Diskussion in ein anderes Licht. Es wurden schon Stimmen laut in Europa, die den Anschlag mit den Flüchtlingen in Zusammenhang bringen. Allein das wird die Aufnahme von syrischen Geflüchteten aus der Türkei in den EU-Staaten noch schwieriger machen.
Es geht um Merkel und ihre EU-Politik und nicht um die Flüchtlinge …
Die „Wir schaffen das“-Rhetorik und die „Willkommenspolitik“ von Frau Merkel wurden dazu genutzt, um die Festung Europa weiter aufzubauen. Demnach sollen die Grenzen innerhalb der EU offen bleiben, damit die Exportwirtschaft Deutschlands keinen Schaden erleidet, und gleichzeitig sollen die Außengrenzen der EU in der Türkei und Nordafrika dichtgemacht werden. Deswegen wird Frontex zu einer europäischen Grenzschutzagentur und Küstenwache ausgebaut, gleichzeitig ist die NATO mit ihren Kriegsschiffen in der Ägäis zur Abwehr der Flüchtlinge unterwegs. Außerdem wird im öffentlichen Diskurs kein Wort über die Ursachen der Flüchtlingsströme gesprochen. Kein Wort über den Krieg in Syrien, in Afghanistan, im Irak oder anderswo, und natürlich auch nichts über die Armut in Afrika als Fluchtursache, und so weiter. Letztendlich sollen die großen Waffenexportgeschäfte Europas und Deutschlands nicht gestört werden. Diese Politik hat mit den europäischen Werten wenig zu tun, sie zerstört das gemeinsame Projekt und verdeutlicht die neoliberale Logik.
Griechenland noch einmal allein gelassen …
Unterdessen wird Griechenland wieder einmal allein gelassen. Das Land wird „bestraft“, bloß weil es geographisch an der EU-Außengrenze liegt. Griechenland musste in den letzten fünfzehn Monaten knapp eine Million Flüchtlinge retten, aufnehmen, registrieren, versorgen, transportieren, ernähren. Nicht immer in menschenwürdiger Art und Weise. Allein in den Tagen nach dem 18. März sind über 5000 neue Flüchtlinge angekommen, heute sind in ganz Griechenland über 50.364 in festen und provisorischen Unterkünften untergebracht. Sehr oft unter sehr schlechten Bedingungen. Idomeni ist immer noch eine offene Wunde, die blutet und eitert. Idomeni darf aber kein zweites Calais werden.
Gleichzeitig geht von Griechenland noch mal Hoffnung aus. Eine Hoffnung auf eine europäische Alternative. Die großartige Reaktion der griechischen Bevölkerung, sich trotz der eigenen Sozialkrise extrem solidarisch zu verhalten, ist ein humanes Zeichen von globaler Bedeutung. Der Staat, die Behörden, die NGOs und die internationalen Helfer wären hilflos ohne die Unterstützung der unzähligen Griechinnen und Griechen bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms. Das zeigt den Weg zu einem anderen Europa. Zu unserem Europa. Wo Werte wie Solidarität, Offenheit, Integration, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Umweltschutz im Vordergrund stehen. Unser Europa darf keine Grenzen für andere Religionen, Kulturen und Staatsangehörigkeiten haben. Vor allem aber darf sich unser Europa nur so nennen, wenn es keine Grenzen zwischen Arm und Reich aufbaut. Denn ich glaube, dass es genau darum geht – und alles andere nur ein gefährlicher Vorwand ist.
[«*] Giorgos Chondros ist Mitglied im Vorstand von Syriza und hat kürzlich das Buch „Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas“ veröffentlicht.