Große Mehrheit für weitere Reformen? Ein weiteres Beispiel, wie die Bertelsmann Stiftung mit fragwürdigen Umfragen, Stimmung zu machen versucht.
„Mit überwältigender Mehrheit (84 Prozent) hat sich die deut sche Bevölkerung für weitere Reformen in Staat und Gesellschaft ausgesprochen.“ Das zeige eine repräsentative Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, so heißt es in einer Pressveröffentlichung vom 30.09.05.
Schaut man sich die Umfrage genauer an, so ist die Fragestellung so formuliert, dass eigentlich jeder vernünftige Mensch die „Notwendigkeit weiterer Veränderungen des Staates“ für erforderlich halten muss. Außerdem macht die Studie deutlich, dass die Befragten an völlig andere Reformen denken, als solche, wie sie etwa in der Agenda 2010 vorgesehen sind. Die Überschriften und Schlagzeilen, die wir lesen und hören, suggerieren jedoch, als forderten die Deutschen „weitere“ Reformen im Sinne der neoliberalen Reformkonzepte.
Was würden Sie antworten, wenn Sie bei einer Umfrage folgendes gefragt würden:
Im Folgenden möchte ich mit Ihnen darüber sprechen, wie sich der Staat weiterentwickeln soll. Sagen Sie mir zunächst ganz allgemein, wie Sie die Notwendigkeit weiterer Veränderungen des Staates einschätzen. 1 bedeutet hierbei „sehr erforderlich“, 5 bedeutet „gar nicht erforderlich“. Mit den dazwischen liegenden Werten können Sie ihr Urteil abstufen.“
Wundern Sie sich, das bei einer so allgemein gehaltenen Frage, ohne Angabe von welchen Veränderungen die Rede ist, 84 Prozent weitere Veränderungen für erforderlich halten? Wundern Sie sich dass etwa im Osten Deutschlands 65 Prozent (sogar 8 Prozent mehr als im Westen) Veränderungen sogar für „sehr erforderlich“ halten? Es wäre doch geradezu absurd, anzunehmen, dass in der derzeitigen Lage im Osten in der über 40 Prozent der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit unmittelbar oder mittelbar betroffen sind, nicht Veränderungen für dringend notwendig hielten.
Das manipulative an dieser Veröffentlichung ist, dass mit den Umfrageergebnisse der Öffentlichkeit vermittelt werden soll, als wäre die ganz überwiegende Mehrheit für „weitere Reformen“ im Sinne der Agenda 2010 oder im Sinne der neoliberalen Reformkonzepte.
Der Manipulationsversuch fängt schon damit an, dass nicht wie in der Fragestellung von „weiteren Veränderungen“, sondern in der Schlagzeile von „weiteren Reformen“ die Rede ist. Was ja schließlich ein erheblicher Unterschied ist.
Jedenfalls denken die Befragten nicht an weitere „Reformen“ im Sinne von Sozialabbau, an weitere Senkung der Unternehmenssteuern oder an den Abbau des Kündigungsschutzes, wenn sie konkret nach Veränderungsbedarf gefragt werden: Knapp neun von zehn (89 Prozent) meinen, dass das Engagement für Kinder verstärkt werden sollte. 75 Prozent wünschen sich mehr Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit von Verwaltungsentscheidungen und 74 Prozent möchten Bürokratieabbau (Wer möchte das so allgemein gefragt eigentlich nicht?). 74 Prozent fragen nach Konzepten zur Alterung der Gesellschaft (Wer würde solche Konzepte nicht wünschen?). Gleichfalls 74 Prozent verlangen eine Verbesserung der Qualität der Verwaltung, 69 Prozent eine bessere Bürgerorientierung von Verwaltungen und 68 eine Förderung von Beteiligungsmöglichkeiten im sozialen Bereich. 67 Prozent möchten mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten und 49 Prozent beschäftigt die Integration von Migranten.
Nichts von Steuersenkungen, nichts von noch mehr Hartz, nichts von Privatisierung der Altersvorsorge, nichts von Aufweichung der Flächentarifverträge etc.
Und schon gar nicht sind die Menschen für einen weiteren Rückzug des Staates, im Gegenteil:
84 Prozent sehen in der schulischen Ausbildung eher eine Aufgabe des Staates als eine Aufgabe der Bürger. 66 Prozent sehen den Staat bei der Unterstützung Hilfsbedürftiger in der Pflicht und nur 8 Prozent die Bürger selbst. Bei der Versorgung von Pflegebedürftigen sehen die Aufgabenverteilung 61 Prozent beim Staat und 11 Prozent bei den Bürgern. Bei der Gesundheitsvorsorge ist das Verhältnis 57 zu 20 und bei der Altervorsorge 49 zu 20.
Geradezu resigniert stellt die Studie fest: „Der ´Bürgerstaat` ist aus dem Selbstverständnis der Bürger offensichtlich nicht mehrheitlich gewünscht.“
Und noch etwas muss eigentlich für die „Reformer“ von Bertelsmann fürchterlich enttäuschend sein:
Nur 38 Prozent haben in den letzten fünf Jahren Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen, nur 23 Prozent bei der Gesundheitsreform, 14 bei der Rentenreform, 9 Prozent bei der Steuerreform und nur 8 Prozent bei der Agenda 2010.
Die Studie zieht daraus den Schluss, dass der „Kenntnisstand der Bevölkerung zu den Veränderungen – egal wie man zu ihnen stehen mag – …als äußerst lückenhaft“ erscheine.
Wäre nicht die Interpretation wesentlich nahe liegender, dass die Bevölkerung kaum irgendwelche Erfolge in den Reformen der letzten fünf Jahre sieht? Denn dass von den Veränderungen der Agenda 2010 nur 8 Prozent der Bevölkerung Kenntnis erlangt haben sollen, das glaube wer wolle. Ein weitaus größerer Teil der Bevölkerung war schließlich davon betroffen.
Machen Sie einmal selbst einen Test und geben „Mehrheit für weitere Reformen“ bei der google-Newssuche ein und überprüfen Sie selbst welchen Eindruck die Schlagzeilen erwecken sollen:
Z.B.:
Kölnische Rundschau: „Große Mehrheit für weitere Reformen Die Menschen in Deutschland sind nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung alles andere als reformmüde.“
T-Online Nachrichten: Mehrheit der Deutschen für weitere Reformen Eine große Mehrheit der Deutschen steht weiteren Reformen offen gegenüber.
Kölner Stadt-Anzeiger: Studie: Deutsche sind reformbereit. Knapp zwei Wochen nach der Bundestagswahl sind die Menschen in Deutschland einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge alles andere als reformmüde. Mit “überwältigender Mehrheit” von 84 Prozent habe sich die Bevölkerung für Reformen in Staat und Gesellschaft ausgesprochen, teilte die Gütersloher Stiftung mit.
Berliner Morgenpost: Mehrheit der Deutschen ist offen für weitere Reformen.
Da mögen dann im weiteren Verlauf die Beiträge einigermaßen korrekt berichten. Aber wer solche Schlagzeilen und Unterzeilen produziert, der weiß welche Botschaft er bei seinen Lesern vermitteln will. So werden wir tagtäglich manipuliert, schreibt uns unser Leser Detlef Durry. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Quelle 1: Bertelsmann-Stiftung »
Quelle 2: Bertelsmann-Stiftung »