„Alle Rentiers. Für eine andere Verteilung des Reichtums“ – ein neues Buch des französischen Ökonomen Philippe Askenazy

Ein Artikel von Christoph Habermann

In einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Monde“ spricht der französische Ökonom Philippe Askenazy, Forschungsdirektor am CNRS, dem nationalen wissenschaftlichen Forschungszentrum in Frankreich, und Mitglied der kritischen Ökonomen-Vereinigung „Economistes attérrés“ ( „Empörte Ökonomen“) über sein neues Buch, das gerade erschienen ist und auf deutsch noch nicht vorliegt. Er kritisiert falsche ökonomische Begründungen für niedrige Löhne, spricht über die Gründe, warum die Reichen immer reicher werden und setzt sich mit der Frage auseinander, welche Folgen die multinationalen Konzerne Google, Amazon, Facebook und Apple, auf dem Weg zu neuen Monopolen, für Wirtschaft und Gesellschaft haben. Askenazy plädiert dafür, die Arbeit aufzuwerten gegen die, die sich den Reichtum aneignen, weil sie sich zu den „produktivsten“ erklären. Von Christoph Habermann [*]

„Viele meiner ökonomischen Kollegen erklären, eine wachsende Zahl von Beschäftigten sei wegen fehlender Qualifikation nicht mehr „wettbewerbsfähig“ in einer durch Globalisierung und ständige Innovation geprägten Wirtschaft. Nach ihrer Auffassung muss man deshalb die Kosten dieser Art von Arbeit verringern und zugestehen, dass diese Arbeitsplätze früher oder später zerstört und durch Roboter und „big data“ ersetzt werden.

Am anderen Extrem sollen „neue Arbeitsplätze“ entstehen, qualifizierte und gut bezahlte, weil sie zur Wertschöpfung beitragen: Unternehmer und Beschäftige in der digitalen Wirtschaft. Die unterschiedliche „natürliche“ Produktivität sei der Grund für die wachsenden Ungleichheiten.

Als Spezialist für Fragen der Arbeit, beobachte ich, dass die Anforderungen und die Fachkenntnisse, die an Arbeiter gestellt werden, die als „unqualifiziert“ bezeichnet werden, seit mehreren Jahrzehnten ständig zunehmen. Gleichzeitig verschlechtern sich ihre Arbeitsbedingungen, die Arbeit wird immer weiter verdichtet, intensiver und unsicherer, was faktisch ihre Wertschöpfung erhöht. Diese Fähigkeiten und diese Beteiligung werden aber nicht anerkannt, weder gesellschaftlich noch was die Bezahlung angeht. Häufig wird gesagt, dass qualifizierte Beschäftigte, zum Beispiel Junge mit Diplom einen Abstieg hinnehmen müssen, weil sie unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigt werden. Ich sage, dass diese „dequalifizierten“ Arbeitsplätze heute in Wirklichkeit eine sehr viel höhere Qualifikation erfordern, die aber einfach nicht bezahlt wird. Die Arbeitsplätze heissen so wie früher, sind weiter am unteren Ende der Lohnskala, aber die Tätigkeit ist überhaupt nicht mehr die gleiche. Ein Kellner im touristischen Zentrum einer Stadt zum Beispiel muss mehrere Sprachen beherrschen und auch die Technik des elektronischen Bestellsystems: Das sind durchaus Qualifikationen von „Diplomierten“! Viele Ökonomen sind versessen auf die „verborgene“ Produktivität der neuen Technologien, aber nur wenige interessieren sich für die verborgene Produktivität angeblich „unproduktiver“ Arbeit , oft Frauenarbeit, die ihre klassischen Instrumente nicht erfassen können.“

Auf die Frage nach den Gründen für die immer stärkere Ungleichverteilung der Einkommen macht Askenazy einen kurzen geschichtlichen Rückblick:

„Die politische Geschichte der vergangenen vierzig Jahre zeigt, dass bestimmte Gruppen von Beschäftigten mit Hilfe mehr rechtlicher und institutioneller als ökonomischer Instrumente ihre Fähigkeit gestärkt haben, die ökonomische Rente abzugreifen. Ich nenne das die Ausdehnung des Eigentumsbereichs.

Das Entstehen der Wissens-Ökonomie auf Grundlage der Entwicklungen der Informationstechnologie war eine wirkliche Bedrohung für den traditionellen Kapitalismus, weil ihr Rohstoff – Wissen, Wissenschaft, Information – aus Gemeingütern besteht, deren Rente an alle verteilt werden kann. Der Kapitalismus hat sich gerettet, indem er die Eigentumsrechte auf immaterielle Güter ausgedehnt hat. Ein Beispiel: Die Moleküle für Arzneimittel waren in Frankreich bis Ende der sechziger Jahre nicht patentierbar. Erst 1996 hat eine europäische Richtlinie Eigentumsrechte für Datenbanken begründet. Zur gleichen Zeit hat man auch Erbgut patentiert.

Dazu kommt die Besonderheit der Wissensökonomie, die Quellen der Intelligenz und der Wertschöpfung in abgegrenzten Gebieten zusammenzuführen wie dem Silicon Valley oder Weltstädten wie New York, London oder Paris. Rar ist nicht mehr das Geld, das Wissen oder die Computer, sondern… Grund und Boden. Das Anwachsen der Erträge stammt zum einen Teil aus der Wissensrente, zum anderen Teil aus der Bodenrente, der ältesten der Welt.“

Askenazy widerspricht der verbreiteten Vorstellung, die Selbstständigkeit nehme in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu Lasten abhängiger Beschäftigung zu. Mit Ausnahme der Länder, in denen es besondere Anreize gibt, gehe die selbstständige Arbeit zurück:

„Hinter dem verherrlichenden Reden von den Start up-Unternehmern erleben wir in Wirklichkeit, neben den traditionellen multinationalen Unternehmen, das Entstehen neuer gigantischer Unternehmen, wie der GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple). In Frankreich konzentriert sich ein Drittel aller Arbeitsplätze im privaten Sektor auf 250 Unternehmen; in den USA sind 40 % der Arbeitsplätze des privaten Sektors in Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten.

Man spricht von der „Uberisierung“ der Beschäftigung, aber Uber ist dabei, eines dieser Riesen-Unternehmen zu werden, und die Hälfte seiner französischen Fahrer sind Angestellte von Transportunternehmen, die Uber als Plattform nutzen, um Kunden zu gewinnen. Auf Airbnb stammt das wachsende Angebot an Zimmern von Vermietungsunternehmen und Dienstleistern im Wohnungsbereich (Wartung und Instandsetzung, Reinigung, Pförtnerdienste).

Es gibt keinen Boom der „sharing economy“, sondern die Bildung neuer Monopole. Man hat den Eindruck ständiger Innovation, aber die Mehrzahl der Neuheiten kommt von den Monopolen, die jede Innovation von anderen auf der wachsenden Zahl von Feldern blockieren, auf denen sie tätig werden.

Unter diesen Bedingungen geht es, entgegen modischer Illusionen, nicht um die Frage, dass Beschäftigte ihren „eigenen Arbeitsplatz schaffen“, sondern darum, wer ihr Arbeitgeber ist. Die traditionellen Gewerkschaften scheinen angesichts dieser neuen Lage paralysiert. Dabei sind die Voraussetzungen für das Aufleben kollektiver Bewegungen gegeben: Da alle Arbeiter sich in abgegrenzten Bereichen konzentrieren, werden die „Wertschöpfer“ sehr abhängig von all diesen angeblich „gering qualifizierten“ Dienstleistungen.Es ist kein Zufall, dass zwei dieser Bewegungen an typischen Stellen der beiden Renten aufgetreten sind, die ich erwähnt hatte: der Bodenrente mit den wiederholten Streiks der Zimmermädchen des „goldenes Dreiecks“ der grossen Pariser Hotels zwischen 2013 und 2015, und der Wissensrente mit dem Streik der Busfahrer von Google im Silicon Valley 2013. Sie waren unmittelbar erfolgreich und im Anschluss daran viele andere vergleichbare Berufsgruppen (Wartung und Instandsetzung, Reinigung, Gastronomie).

Ein anderes Beispiel: Die gewerkschaftliche Organisierung der Krankenschwestern in den USA in den 2000er Jahren hat zu einer deutlichen Erhöhung der Löhne geführt. Eine der wichtigsten Forderungen dieser Bewegungen ist die Anerkennung einer direkten Weisungsgebundenheit gegenüber dem Auftraggeber oder dem Franchisegeber und nicht nur gegenüber dem vertraglichen Arbeitgeber, und damit verbunden die Möglichkeit direkt mit dem entscheidenden Unternehmen zu verhandeln. Die Frage ist derzeit beim Obersten Gericht der USA anhängig.“

Askenazy sieht die dringende Notwendigkeit die in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsenen Lohnunterschiede zu verringern, weit über Mindestlöhne hinaus.

„Die übliche sozialdemokratische Antwort auf die Ungleichheit der Primäreinkommen (Kapital und Arbeit) besteht darin, dieses Phänomen durch eine Sekundärverteilung
(Unterstützung und Sozialversicherung) zu korrigieren. Mit einem solchen Programm werden die Sozialdemokraten bei Wahlen regelmässig geschlagen oder sie sind zu Koalitionen gezwungen. Das kommt daher, dass sie weiter eine natürliche „primäre“ Ungleichheit anerkennen; sie akzeptieren eine Form sozialer Gewalt, die ganze Teile der Bevölkerung zu „Unterstützungsbedürftigen“ macht, und sie stossen auf das Problem der Wahlergebnisse der extremen Rechten, die leichtes Spiel hat zu behaupten, diese Umverteilung nutze nur den Einwanderern.

Deshalb rate ich dazu, neu über das sozialdemokratische Projekt nachzudenken mit klaren Zielen: die Eigentumsrechte begrenzen, die Wertschöpfung der angeblich „Unproduktiven“ herausstellen und gleichzeitig die „nicht qualifizierten“ Arbeitsplätze aufwerten zum Beispiel in den Lohntabellen der Tarifverträge. Es geht darum, die Arbeit aller aufzuwerten, nicht nur jener, die in der Lage sind, sich im politischen, medialen und juristischen Bereich Gehör zu verschaffen.“

Auf deutsch liegt von Philippe Askenazy das gemeinsam mit anderen geschriebene „Manifest empörten Ökonomen“ im pad-Verlag vor (vgl. Hinweise der Nachdenkseiten vom 28. Oktober 2011).


[«*] Christoph Habermann war u.a. stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes in der Amtszeit von Bundespräsident Johannes Rau, von Ende 2004 bis 2007 war er Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit und danach Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesund, Familie und Frauen von Rheinland-Pfalz.

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