Wer hat Angst vorm Orientalen?
Seit den sogenannten „Sex-Attacken“ von Köln hat nicht nur Deutschland sondern fast schon die gesamte westliche Hemisphäre ein Gesprächsthema gefunden: Den orientalischen Mann. Mal wird er als Araber betitelt, mal als Nordafrikaner. Mittlerweile meinen wahrscheinlich nicht wenige, dass tatsächlich Länder namens Arabien oder Nordafrika existieren. Im Grund genommen – so die weitere Schlussfolgerung – sind sie doch alle ein und dasselbe. Länder, in denen „Moslems“ oder „Mohammedaner“ leben. Das sind die, die ein ach so schlimmes Frauenbild haben und nun in Scharen nach Deutschland reisen oder wie manche andere Gemüter es ausdrücken würden: Es invadieren. Von Emran Feroz[*].
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Was in Köln passiert ist, war widerlich und schrecklich. Als jemand, der im österreichischen Innsbruck geboren und aufgewachsen wurde, hat mich das Ganze jedoch schnell an Ereignisse erinnert, die mir nur allzu gut bekannt sind. Seit Jahren gibt es nämlich am Innsbrucker Hauptbahnhof eine Ansammlung von Menschen, die mittlerweile als „Nordafrikaner-Szene“ bekannt ist – junge Männer, oftmals Minderjährige, aus Staaten wie Marokko und Algerien, die ohne Beschäftigung vor sich hin vegetieren. Sie trinken Alkohol, sie konsumieren Drogen, sie prügeln sich und sie belästigen auch Frauen. Auch andere Menschen, ja, Österreicher mit Migrationshintergrund, haben oftmals Probleme mit dieser Szene. Prägend hierfür sind vor allem die Szenen aus dem Supermarkt im Hauptbahnhof, wo türkisch- oder tschetschenischstämmige Mitarbeiter regelmäßig mit den „Nordafrikanern“ aneinandergeraten.
Zum gleichen Zeitpunkt war die Stadtverwaltung jahrelang nicht in der Lage, das Problem in den Griff zu bekommen. Immer mehr Bürger beschwerten sich, fühlten sich unsicher. Amateuraufnahmen von prügelnden Dealern machten in Sozialen Netzwerken oftmals die Runde. In den Kommentaren darunter fand man kaum Kritik an die Szene an sich, sondern blanken Ausländerhass und Nazi-Parolen. Rechtsextreme Parteien wie die österreichische FPÖ versuchten regelmäßig von den „Nordafrikanern“ zu profitieren, teils etwa mit dümmlichen Slogans wie „Heimatliebe statt Marokkanerdiebe“, weshalb die Partei selbst im Königreich Marokko Berühmtheit erlangte.
Mittlerweile hat sich die Lage am Innsbrucker Hauptbahnhof ein wenig verändert – durch eine massiven Aufstockung der Polizeipräsenz. Das Problem an sich wurde dadurch jedoch nicht gelöst. Die Szene wurde nicht aufgelöst, sondern nur verdrängt. Man findet sie jetzt an anderen Orten. Der Grund hierfür wird nach Gesprächen mit Sozialarbeitern offensichtlich. Diese machen nämlich immer wieder deutlich, dass die jungen Männer einerseits aus sehr problematischen und ärmlichen Familienverhältnissen stammen, während ihnen andererseits jeglicher Zugang zu staatlichen Institutionen und zum Arbeitsmarkt verwehrt wird. Hinzu kommt eine Form des institutionellen Rassismus, der nur allzu präsent zu sein scheint. Und mit der Religion – dem Islam, um den es in diesen Tagen wieder einmal geht – haben sie ohnehin nichts am Hut.
Mit derartig realen Problemen und ihren Ursachen beschäftigt sich allerdings kaum jemand – auch nach Köln nicht. Stattdessen herrscht in Politik und Medien purer Populismus, der sich nicht selten rassistischer Muster bedient. Besonders besorgniserregend ist in diesem Kontext die Tatsache, dass dies mittlerweile das gesamte politische Spektrum betrifft. So waren es nicht nur rechtskonservative Medien wie der „Focus“ oder die Blätter des Springer-Verlages, die mit hetzerischen Schlagzeilen oder Titelbildern für Aufsehen sorgten, sondern auch Medien wie die „Süddeutsche“, der vermeintlich linksliberale „Tagesspiegel“ oder die österreichische, als links geltende Wochenzeitung „Falter“. Ähnlich verhält es sich mit den etablierten Parteien. Einsicht war seitens der Akteure jedoch kaum vorhanden. Nachdem sich etwa zahlreiche Menschen über die Titelseite des „Falter“ – einer Illustration, die eine Ansammlung von schwarzhaarigen Männern darstellt, die auf hellhaarige Frauen losgehen, beschwerten, zeigten die Verantwortlichen keinerlei Einsicht. Stattdessen meinten sie – bürgerliche, weiße Männer – bestimmen zu können, was Rassismus sei und was nicht. Eine Praktik, die in diesen Tagen besonders oft in Erscheinung tritt.
Orientalistisches Konstrukt diente schon immer der Unterdrückung
„In Cromers und Balfours Darstellung erscheint der Orientale als jemand, über den man urteilt (als stünde er vor Gericht), den man erforscht und beschreibt (wie in einer Fallstudie), den man diszipliniert (wie in der Schule oder im Gefängnis) oder abbildet (wie in einem Lehrbuch für Zoologie). Entscheidend ist, dass der Orientale in allen Fällen in vorgefertigte Kategorien gepresst und schablonenartig dargestellt wird. Woher kommt das?“
Diese Frage stellte der ehrwürdige Literaturkritiker Edward Said schon im Jahr 1978 in seinem Werk „Orientalismus“. Die Personen, auf die er sich bezieht, sind Arthur James Balfour, 1. Earl von Balfour und Evelyn Baring, 1. Earl von Cromer. Bei beiden handelt es sich um Protagonisten der britischen Kolonialzeit, deren Handeln bis zum heutigen Tage das Geschehen im Nahen Osten beeinflusst. Und – wie könnte es auch anders sein – existieren von beiden Schriften über die einheimische Bevölkerung in jenen Ländern, in denen sie regierten, etwa Indien oder Ägypten. Das Muster ist dabei stets dasselbe. Die britischen Kolonialisten betrachten sich selbst, sprich, den Europäer oder den weißen Mann aus dem Westen als aufgeklärt und fortgeschritten, während der Orientale als barbarisch, irrational und hilflos dargestellt wird. Wer der Orientale ist, wird nie wirklich klar. Mal geht es um die Ägypter, mal um die Inder und dann doch wieder um die Araber. Im Grunde genommen – so stellte es auch Said richtigerweise fest – ging man davon aus, dass all diese verschiedenen Menschen und Völker sowieso „irgendwie dasselbe“ seien.
Dieses Bild hat sich bis heute verfestigt und ist seit den Ereignissen von Köln gegenwärtiger denn je. Damals wie heute hat man sich einen Orientalen geschaffen, den man beliebig charakterisiert und auf andere projiziert. Nordafrikaner, Araber, Syrer, Afghanen, Marokkaner – im Grunde genommen sind sie alle dasselbe. Und sie pflegen allesamt, so wird die Narrative fortgesetzt, ein menschenfeindliches Frauenbild, was einen absoluten Kontrast zu jenem des aufgeklärten Westens darstellt. Der Grund hierfür ist natürlich ihre Herkunft, ihre Kultur sowie ihre Religion, die mit sogenannten westlichen Werten nicht in Einklang gebracht werden kann. (Auf das Phänomen dieser plumpen Art von Kategorisierung, diesem „wir“ und „die“, wies vor Kurzem auch der Politologe Imad Mustafa in einem lesenswerten Interview, ebenfalls hier auf den NachDenkSeiten, hin.)
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es so, als ob dieses Schwarz-Weiß-Bild überall Fuß fassen droht. Dabei wird vollständig außer Acht gelassen, wie alt es schon ist und für welche Zwecke es geschaffen wurde. Auch der damit verbundene Rassismus, der nur allzu deutlich heraussticht, wird oftmals beiseite geschoben. Das Konstrukt des wilden und zurückgebliebenen Orientalen war nämlich schon immer eines, was die Deutungshoheit des Westens deutlich machen sollte. Es ist alles andere als ein Zufall, dass dieses Konstrukt in Zeiten des europäischen Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte. So wurde es doch stets dafür missbraucht, das Gegenüber zu degradieren, zu unterwerfen und zu unterdrücken. Dieser Umstand ist auch weiterhin präsent, wenn man die gegenwärtige westliche Politik im Nahen Osten und in Zentralasien in Betracht zieht.
Allein im Jahr 2015 wurden über 23.000 US-amerikanische Bomben in fünf islamisch geprägten Ländern abgeworfen. Seit 2001 wurden allein durch den Irak- und Afghanistan-Krieg mehr als eine Millionen Menschen getötet. Das Chaos in den betroffenen Regionen könnte gegenwärtig nicht größer sein. Zum gleichen Zeitpunkt machen westliche Staaten Flüchtlingen aus den betroffenen Kriegsregionen kindliche Vorschriften, wie sie sich hier – in der vermeintlich glorreichen und aufgeklärten westlichen Gesellschaft – zu verhalten haben. Auch hier gewinnt man den Eindruck, dass man Menschen aus dem „Orient“ per se als unzurechnungsfähig betrachtet. Man meint regelrecht, sie neu erziehen zu müssen, weil sie so zurückgeblieben zu sein scheinen. Der verstorbene Edward Said würde sich wohl im Grabe umdrehen. Währenddessen bot der libanesischstämmige Satiriker Karl Sharro eine geniale Antwort darauf.
[«*] Emran Feroz ist freier Journalist mit österreichisch-afghanischem Migrationshintergrund. Seine Themengebiete sind Naher & Mittlerer Osten, Migration und Europa und die islamische Welt.