Der SPD-Parteitag und ein gelungenes Missverständnis des Vorsitzenden – vermutlich mit „vernichtender“ Tragweite
Es stand in allen Zeitungen und lief über alle Bildschirme, dass der SPD-Vorsitzende Gabriel nur mit knapp 75 % der Stimmen wieder gewählt worden ist. Er war sichtlich betroffen, obwohl er eigentlich hätte wissen müssen, dass viele der Ja-Stimmen mit zusammengebissenen Zähnen abgegeben worden sind. Er wertete die Zustimmung der 74,3 Prozent als Auftrag, Politik in seinem Sinne weiterzumachen und keine Rücksicht mehr auf die Nein-Stimmen und die Unzufriedenheit vieler Mitglieder und Sympathisanten nehmen zu müssen. Beim Durchmarsch mit seinen Vorstellungen zum Freihandelsabkommen TTIP wurde dann am nächsten Tag gleich erfolgreich probiert, was dieses absichtliche Missverständnis in der Praxis bedeutet: Die Linie des Führungspersonals um Gabriel und Steinmeier und der anderen eher konservativen bis inhaltsleeren Sozialdemokraten wird ohne Rücksicht auf Verluste durchgehalten und in praktische Politik umgesetzt. Die harte Antwort des Sigmar Gabriels auf die kritische Anmerkung der Juso-Vorsitzenden, bei ihm gebe es eine große Lücke zwischen Reden und Tun, war ein weiteres Signal für die harte Linie mangelnder Rücksicht auf die Vielfalt der SPD. Dieser Kurs ist geeignet, das Wahlergebnis bei der nächsten Bundestagswahl sogar noch unter die zur Zeit bei Umfragen gemessenen 25 Prozent zu drücken. Albrecht Müller
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Zwischenbemerkung für NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser, die meinen, was die SPD tut und wie es ihr geht, brauche uns nicht zu interessieren. Ich kann diese Haltung verstehen, weil wir eine Kette von Enttäuschungen über diese Partei hinter uns haben. Aber teilen kann ich sie nicht, weil ich nicht weiß, wie es ohne sie überhaupt noch irgendwann zu einer Alternative zum konservativen Lager kommen soll. Aber ich gestehe, dass die jetzige Entwicklung mit Zustimmung zu TTIP und zum Kriegseinsatz die Hoffnung auf eine Alternative weiter schrumpfen lassen.
Der Parteitag und das vermutlich beabsichtigte Missverständnis der Vorsitzenden-Wahl durch den Vorsitzenden selbst lassen ahnen, dass wir Deutschen jedenfalls bei der nächsten Bundestagswahl keine Alternative zu Angela Merkel geboten bekommen. Wahrscheinlich wirkt sich diese trotzige Linie auch auf die Wahlergebnisse bei den vor der Bundestagswahl stattfindenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt aus.
Warum die erkennbare Strategie der SPD-Führung erfolglos sein wird:
Ohne Vielfalt und Breite bleibt eine sogenannte Volkspartei weit unter ihren Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Geschlossenheit ist ein dürftiges Konzept.
Es ist immer wieder erstaunlich, mit anzusehen und anzuhören, wie primitiv die strategischen Vorstellungen vor allem der eher konservativen bzw. sogenannten pragmatischen Sozialdemokraten und spiegelbildlich der meisten Medien aussehen: Geschlossenheit, „in die Mitte rücken“ – das sind die Hauptforderungen und die Ideen für eine erfolgreiche Bewerbung um eine Mehrheit. Sigmar Gabriel hat in seiner Rede ausführlich das Ziel beschworen, die Mitte und speziell die „arbeitende Mitte“ unserer Gesellschaft erreichen zu wollen. Und er legt wie viele andere Wert auf Geschlossenheit und wird von den Medien mehrheitlich darin unterstützt, dass Geschlossenheit ein eigenständiger Wert sei.
Wenn diese Vorstellungen einigermaßen stimmen würden, dann hätte die Union nach dem offenen Konflikt zwischen Seehofer einschließlich des größeren Teils der CSU und eines großen Teils der CDU auf der einen Seite und Merkel und ein paar Getreuen auf der anderen Seite in den Umfragen der letzten Wochen massiv abstürzen müssen. CDU und CSU haben zusammen ein bisschen abgenommen; vermutlich zum größeren Teil deshalb, weil die AfD kräftig zulegte. Die Union bedient heute beispielsweise mit einer atypischen Haltung der CDU-Vorsitzenden in der Flüchtlingsfrage einen progressiven Teil der Wählerschaft und hält mit der vergleichsweise reaktionären Haltung von Seehofer und de Maizière den weit davon entfernten anderen Teil der Wählerschaft.
Die SPD tritt relativ geschlossen auf und hat in den Umfragen ihr Ergebnis von 2013 (25,7%) nicht überschritten sondern unterboten. Die Ankündigung des Vorsitzenden, den linken Teil, der wesentlich für die Nein-Stimmen bei der Vorsitzenden-Wahl verantwortlich sein dürfte, mit Missachtung zu strafen, wird dazu führen, dass Wählerinnen und Wähler dieses Teils die Lust zu dieser Wahlentscheidung verlieren.
Große Parteien – oder Parteien die groß werden wollen oder bleiben wollen – müssen mit einer gewissen Vielfalt und Breite auftreten. Sie müssen ja verschiedene Menschen mit verschiedenen Interessen und verschiedenen Lebenslagen an sich binden. Eine kluge Strategie versteht sich darauf, diese Vielfalt zu zeigen.
Wie abstrus die gängige Vorstellung vom „in die Mitte rücken“ ist, kann man schon erkennen, wenn man einigermaßen logisch vorgeht: dann fällt einem nämlich ein, dass einzelne Personen bei den verschiedenen politischen Problemen und Lösungen durchaus verschieden positioniert sein können. Nehmen wir das Beispiel des verstorbenen Helmut Schmidt: er war bei manchen der Rechtsreformen, die bei uns fällig geworden waren wie etwa bei der Reform des Abtreibungsrechtes auf fortschrittlicher, linker Position. Auch sein Plädoyer für Gemeinsame Sicherheit in Europa und für das Sich-vertragen mit Russland würde man als links einstufen. Seine Haltung zur Agenda 2010 wie auch seine Einstellung zur Kernkraft waren eher konservativen Zuschnitts.
Wenn Menschen bei verschiedenen Themen verschiedene Meinungen haben, dann macht es wenig Sinn, im Bezug auf diese Menschen vom „in die Mitte rücken“ zu sprechen. Wenn bei virulenten Themen eine Mehrheit von Menschen eher progressiv orientiert ist, dann kann man sie dabei durchaus mit fortschrittlichen Vorstellungen packen. Konkret: wenn die SPD konsequent auf ihre frühere Position zurückgekommen wäre, dass militärische Lösungen nur im äußersten Notfall infrage kommen und dass der Frieden der Ernstfall ist, dann hätte sie jetzt beim Konflikt um Syrien, Irak, Afghanistan und Afrika mit einem linken Thema Mehrheiten gewinnen können. Das deutsche Volk war jedenfalls früher und bis in die heutigen Tage äußerst skeptisch gegenüber kriegerischen Einsätzen.
Große Parteien, Volksparteien machen ihre Pluralität auch über Personen sichtbar: Merkel steht für anderes als Seehofer, Helmut Schmidt stand für anderes als Willy Brandt, Herbert Wehner stand für etwas anderes als Karl Schiller, Gerhard Schröder stand für anderes als Oskar Lafontaine.
Diese Pluralität wurde in Wahlkämpfen auch immer ausgespielt. Hinterher wurden die Ergebnisse dann oft falsch analysiert und diese falschen Analysen waren dann die Pflastersteine auf dem Weg zur nächsten Niederlage. Hier ein paar Beispiele aus der Vergangenheit: 1969 gab es den vergleichsweise progressiven Brandt und Schiller für die Aufsteiger; 1976 hätte der seit 1974 als Bundeskanzler amtierende Helmut Schmidt die Wahl gegen Helmut Kohl vermutlich verloren, wenn Willy Brandt als Vorsitzender der SPD nicht den progressiven Teil bedient hätte; 1998 hat Gerhard Schröder und die SPD plus Grün der Union und der FDP die Mehrheit und das Kanzleramt nur abjagen können, weil Oskar Lafontaine in der Schlussphase des Wahlkampfes intensiv den progressiven Teil bedient hat. Man kann an Umfragen des September 1998 sehen, wie Lafontaines Mobilisierung beginnend mit einem Auftritt in der Haushaltsdebatte Anfang September die Stimmung beim progressiven Teil verbesserte.
Hinterher wurde bei den Analysen dann großzügig über die Wirkung dieses Doppelpacks hinweggesehen. Lafontaine wurde weggebissen. Ein strategischer Fehler, der bis heute nachwirkt.
In den Medien wie auch in historischen Abhandlungen werden Wahl-Analysen, die die Notwendigkeit von Pluralität belegen, selten angestellt. In die Mitte rücken – das ist das Standardrezept hochmögender Chefredakteure und anderer Kommentatoren. Qualitätsmedien!
Ohne den linken Flügel, ohne Menschen, die die Welt verbessern wollen, wird die Mobilisierung nicht gelingen.
Die Absage Gabriels an jene, die ihn nicht gewählt haben und an den linken Teil seiner Partei insgesamt durch Zustimmung zu TTIP und Kriegseinsatz hat noch eine andere Folge, die die SPD-Führung offensichtlich nicht bedenkt: der SPD-Vorsitzende äußert sich zwar sehr kritisch zu einigen Medienschaffenden und hat wohl auch verstanden, dass er und die SPD im Vergleich zu Angela Merkel und der Union wenig Unterstützung von Medien bekommen und im Wahlkampf bekommen werden. Er hat aber vergessen, den nächsten Schritt zu denken: wenn die Medienlage so ist, dann bedarf es eines Ersatzes, wenn eine Medienbarriere besteht, dann müssen Menschen mobilisiert werden, um diese Barriere zu überwinden: durch Argumentation, durch Gespräche mit Freunden, Bekannten, Berufskolleginnen und Kollegen. Die SPD ist auf eine Gegenöffentlichkeit angewiesen. Aber sie tut nichts, um diese aufzubauen. Die Mobilisierung wird nicht gelingen, wenn die SPD-Führung auf jene Menschen verzichtet, die bereit sind, zu mobilisieren. Diese Mobilisierung setzt Idealismus voraus, den Idealismus von Menschen, die die Welt verbessern wollen.
Wenn ein SPD-Vorsitzender diese wichtigen Multiplikatoren-Gruppen vor den Kopf schlägt, dann wird seine Partei noch tiefer landen, als es die 23 % des Wahlergebnisses von 2009 signalisiert haben. Damals hat übrigens Steinmeier kandidiert. Er wird jetzt wieder ins Spiel gebracht. Wenn ich Stratege der Union wäre, würde ich das auch tun und den mir nahestehenden Medien empfehlen, daraus ein Dauerthema zu machen.
Wo ist das Profilierungs- und Konfliktthema?
Sigmar Gabriel hat lange gesprochen. Ich habe mir die Rede angehört und sie noch einmal durchgelesen und finde darin keinen Programmpunkt und kein Thema, die sich für eine nachhaltige und günstige Profilierung eignen würden. Ich fand auch kein Thema, das geeignet wäre, den Konflikt mit der Union zu eröffnen und durchzuhalten und dabei positiv zu gewinnen. Das Flüchtlingsthema ist es nicht; das Thema soziale Gerechtigkeit ist widersprüchlich abgehandelt; Krieg und Frieden sind als Profilierungs- und Konfliktthema aufgegeben. Das ist das eigentlich Dramatische an der jetzigen Entwicklung:
Die als Partei des Friedens und der Entspannung erfolgreiche SPD hat dieses Thema aufgegeben. Als Kriegspartei landet sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Bedeutungslosigkeit.
Noch etwas fehlte bei dieser Rede. Gabriel hat zwar elegant mithilfe seiner Tochter angekündigt, dass er als Kanzlerkandidat zur Verfügung steht, aber er hat uns nicht wissen lassen, mit wessen Unterstützung die SPD ins Kanzleramt gelangen will. Welche Koalition strebt sie an? Ohne Angabe einer realistischen Konstellation fehlt jeglicher Drive.
Eine gute Rede?
Der Chefredakteur meiner Tageszeitung, „Die Rheinpfalz“ meint, Sigmar Gabriel habe „eine gute Rede gehalten“. Wenn man nach der Länge des Applaus geht, dann ist der Eindruck vermutlich richtig. Aber die Kinderei des in langen Minuten gemessenen Klatschens sollte doch eine ernsthafte Prüfung nicht verhindern.
Die SPD war einmal jene Partei, an die sich junge Interessierte Menschen wandten, wenn sie wissen wollten, was die Probleme unserer Zeit und welches die Lösungen sind. Und die Parteitagsrede des Vorsitzenden war in der Regel das Signal für solche Menschen. Wo ist in dieser Rede irgendeine zündende Idee? Sie war nicht einmal auf der Höhe der Zeit. Zum Beispiel: die Digitalisierung wird als etwas neues beschrieben, auf das man sich jetzt vorbereiten müsse. Das läuft doch schon lange. Zum Beispiel: Zuwanderung, um das demographische Problem zu lösen. Bei diesem Parteivorsitzenden ist noch nicht angekommen, dass wir kein demographisches Problem haben. Die dauernde Wiederholung dieser Behauptung seit 20 Jahren macht aus der Analyse doch noch keine richtige Analyse. Und außerdem widerspricht die Vorstellung, anderen Völkern ihre gut ausgebildeten jungen Leute abzuziehen der ansonsten immer wieder beschworenen Solidarität mit den schwächeren Völkern der Welt. Dieser Gedanke hat den SPD-Vorsitzenden noch nicht erreicht, obwohl er die Solidarität auch beschwört.
Überhaupt: Widersprüche und Klüfte zwischen Reden und Tun.
Die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann hat beim Parteitag den Parteivorsitzenden nach dessen Rede kritisch hinterfragt und ihm vorgeworfen, es gebe viele Lücken zwischen Reden und Tun. Er hat sich anschließend dagegen verwahrt. Und Johanna Ueckermann ist auch von anderen darob heftig kritisiert worden. Mir war beim Zuhören und beim Nachlesen des Textes gleich aufgefallen, dass diese Rede voller Widersprüche ist. Ein paar Beispiele seien genannt:
- Gabriel beklagte die hohe Arbeitslosigkeit in anderen Ländern, vor allem im Süden und in Frankreich und nennt auch die Austeritätspolitik, ja er weist sogar darauf hin, dass die Union mit dieser Politik mitverantwortlich sei für das gute Abschneiden der Rechten in Frankreich. – Ich dachte, ich höre nicht recht: Ist die Austeritätspolitik nur die Politik von Herrn Schäuble und Frau Merkel? Waren der Wirtschaftsminister Gabriel und der Außenminister Steinmeier dagegen? Und der frühere Finanzminister Steinbrück, der diesen Wahnsinn wesentlich mit betrieben hat, der gehört wohl zu einer anderen Partei?
- Der SPD-Vorsitzende beklagt das Auseinanderklaffen der Einkommen, der Löhne und der Spitzeneinkommen, und insgesamt sieht er Defizite bei der Verteilungsgerechtigkeit. Und dann lobt er die Agenda 2010. Hat Gabriel gar nicht mitbekommen, dass der frühere Bundeskanzler Schröder (SPD) sich der Schaffung des „besten Niedriglohnsektors“ gerühmt hat? Damit wurde die Einkommensverteilung im Sinne der beklagten Spaltung unserer Gesellschaft verschlechtert und es wurde auch die Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder, unserer Partner, beeinträchtigt.
- Gabriel behauptet auf Seite 3 seiner Rede, es hätte bei uns in Sachen Krieg und Frieden „Nachdenklichkeit und Besonnenheit“ gegeben. Soll der Einsatz in Syrien nachdenklich und besonnen beschlossen worden sein? Dazu reichte ja nicht einmal die dafür bereitgestellte Beratungszeit.
- Gabriel wirbt auf der gleichen Seite für einen respektvollen Austausch unterschiedlicher Auffassungen, „Respekt in der Wortwahl, Respekt durch zuhören, Respekt vor dem Argument des anderen“. Wenn der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister dann bei anderer Gelegenheit von „Pack“ redet, oder jene, die den Kriegseinsatz in Syrien für falsch halten, „Linkspopulisten“ nennt, dann zeigt das, dass er von seiner eigenen Warnung vor der falschen Wortwahl nichts hält.
Die Bezeichnung „Pack“ liegt ja auch schon im Widerspruch zu anderen Äußerungen, die durchaus zu würdigen sind. Gabriel meint zum Beispiel, wir sollten auf Menschen, die sich nicht mehr vertreten fühlen, nicht einfach arrogant und abweisend reagieren. Wir sollten uns mit den Motiven dieser wachsenden Entfernung beschäftigen. Das ist richtig. Aber dann sollte er die anderen Sprüche bitte auch vermeiden. - Gabriel polemisiert mit Recht dagegen, wir hätten Milliarden mobilisiert, um mit Rettungskrediten das europäische Finanzsystem zu stabilisieren. Und wir seien unfähig, einer ganzen jungen Generation in den Krisenländern zu helfen, damit würde auch deren europäischer Traum gestrichen. Denn diese jungen Leute sehen nur sinkende Löhnen und Renten bei ihren Eltern und Chancenlosigkeit bei sich selbst. – Ja mei, da muss man sich doch fragen, wer uns in der Zeit der aufbrechenden Finanzkrise 2007-2009 regiert bzw. auf jeden Fall mit regiert hat und wer den Finanzminister gestellt hat und den Vizekanzler und Außenminister: die SPD.
Wenn man sich daran erinnert und dann von Gabriel hört:
„Diese soziale Frage ist der Sprengsatz, der das europäische Haus in Stücke fliegen lässt“
dann muss man der Juso-Vorsitzenden Recht geben. Reden und Tat haben wenig miteinander gemein.