„Mehrheitsgesellschaft“ – Wissen Sie, was das ist? Ich auch nicht.
Aber der Terrorismus-Experte Peter R. Neumann und der ihn interviewende Deutschlandfunk-Redakteur Armbrüster scheinen das genau zu wissen. Am Dienstag früh verlautbarte der in London arbeitende Professor, die in den Terrorismus abgleitenden Jugendlichen fühlten sich von der „Mehrheitsgesellschaft“ verraten und ausgeschlossen, und die Jugendarbeit habe dem Zweck zu dienen, sie „wieder für diese Gesellschaft zu gewinnen“. (Die entsprechende Interviewpassage folgt gleich.) Interessant: Begriff und Argumentation signalisieren, dass eine friedliche Alternative zur „Mehrheitsgesellschaft“ nicht gesehen wird und auch nicht gesucht wird. TINA auch hier bei der Terrorismus-Ursachenforschung und den Therapieerwägungen. Albrecht Müller.
Hier zunächst der einschlägige Auszug aus dem Interview:
Armbrüster: Was genau fasziniert denn radikale junge Muslime in Europa so sehr an diesem Vorgehen?
Neumann: Wiederum die jungen Leute, die den Islamischen Staat unterstützen – und das ist nach wie vor natürlich eine Minderheit -, sind Teil einer Gegenkultur. Das heißt, sie wollen sich gegen die Mehrheitsgesellschaft stellen und sie fühlen sich natürlich auch von der Mehrheitsgesellschaft verraten und ausgeschlossen und sie sehen im Islamischen Staat eine Gegenfolie, im Prinzip ein Gesellschaftsmodell, was attraktiv ist, weil es gegen alles steht, wofür die europäischen Gesellschaften stehen.
…
Armbrüster: Herr Neumann, dann noch ganz kurz.. Was könnten denn europäische Politiker tun? Wo müssten sie als Erstes ansetzen, um so eine Entwicklung zu stoppen, dass junge Muslime in diese Terrorbewegung abdriften?
Neumann: Es ist im Prinzip einfach und schwierig zugleich. Es ist einfach deshalb, weil es letztlich um einfache Jugendarbeit geht, Präventionsarbeit, wenn man über Radikalisierungsprävention spricht. Das ist nicht kompliziert. Man muss die Leute ansprechen, bevor es die Extremisten tun. Man muss in diese Gebiete, in diese Vorstädte von Brüssel oder Paris oder möglicherweise auch in Deutschland reingehen, sich mit den Problemen der Jugendlichen beschäftigen, die ernst nehmen, bevor es die Extremisten tun, möglicherweise mit den gleichen Methoden wie die Extremisten, das heißt sich wirklich in die Brennpunkte hineinzubegeben und die Leute ernst zu nehmen, aber natürlich für einen anderen Zweck, und zwar sie wieder für diese Gesellschaft zu gewinnen, und davon passiert noch nicht genug.
Soweit der Auszug aus dem Interview.
„Diese Gesellschaft“ – Hinter dieser Formulierung steckt eine unnötige Verengung und Verarmung der Möglichkeiten:
Wir könnten versuchen, die Welt gerechter zu gestalten.
Wir könnten versuchen, die Menschen in den Vorstädten der Metropolen nicht als Aussätzige zu betrachten.
Wir könnten uns darauf besinnen, dass wir eigentlich die Herrschaft des Volkes wollen und eben nicht die feudalen Strukturen, die sich heute allenthalben breitmachen.
Wir könnten nach friedlichen Lösungen von Konflikten suchen, statt das Militär, Flugzeuge, Drohnen, Waffen … einzusetzen und damit unendliches Leid in die betroffenen Länder und ihre Familien zu schicken.
Der Westen und seine „Mehrheitsgesellschaften“ könnten darauf verzichten, andere Völker auszubeuten.
Wir könnten aufhören, von unseren Werten nur zu palavern, und sie stattdessen ernst nehmen.
Angesichts dieser Möglichkeiten zerfällt die westliche Mehrheitsgesellschaft zumindest in zwei Lager, in zwei Gesellschaften und viele Variationen davon. Es gibt jene, die glauben, ihr Bild von der Gesellschaft sei das einzig realistische und mögliche. Und jene, die gute Reformen zugunsten der wirklichen Mehrheit für möglich und dringlich halten.
Dem Gerede von der „Mehrheitsgesellschaft“ entsprechen die vielen Sprüche, wonach die Terroranschläge ein Angriff auf unsere Lebensweise und auf unsere Werte gewesen seien.
Die Lebensweise z.B. der meisten Hartz-IV-Empfänger und der vielen arbeitslosen Jugendlichen in Europa hat mit jener der Besucher der Cafes in Paris wenig gemein. Mit dieser Differenzierung soll die Solidarität mit den Ermordeten nicht aufgekündigt werden. Es soll aber klar werden, dass es die Mehrheitsgesellschaft des deutschen Professors aus London nicht gibt.