Entscheidungsfindung mit dem Finger im Wind – über gravierende politische Fehlentscheidungen wegen Orientierung an Moden und Interessen.
Im „Spiegel” dieser Woche erschien ein Beitrag über den Diebstahl der Kindheit. „Gestresste Schüler, besorgte Lehrer – die Auswirkungen des auf 12 Jahre verkürzten Wegs zum Abitur“. Am 31.12.2007 erschien in SpiegelOnline ein Beitrag unter der Überschrift: „Wie viel Staat braucht das Land?“ (Auszüge siehe Anlage). Da wurde berichtet, dass viele Projekte der Privatisierung und Liberalisierung nicht erfolgreich waren und dass viele Kommunen schon eine Kehrtwende vollziehen. – Um uns herum tobt eine Diskussion um die Riester-Rente. Eine absolut groteske Reform, die man wirklich nur begreift, wenn man untersucht, wo unsere Steuergelder – unpräzise auch staatliche Förderung genannt, so als gebe es einen Goldesel bei Herrn Steinbrück – hinfließen: zur Lobby der Finanzindustrie. – Dann beklagt man die Verwahrlosung und mangelhafte Integration von jungen Menschen, solchen von ausländischer Herkunft und einheimischer. – Und man beklagt die Folgen des kommerzialisierten Fernsehens, der ständigen Darstellung von rücksichtsloser Gewalt, der grassierenden Verblödung. Und so weiter …
In allen diesen Fällen gilt: man konnte leicht vorher wissen, was man anrichtet. Die politische Entscheidungsfindung aber orientiert sich zum ersten an modischen Trends und zum zweiten am großen Geld und dessen Interessen. Albrecht Müller.
Beide Herausgeber der NachDenkSeiten waren in der politischen Planung des früheren Bundeskanzleramtes tätig, ich selbst von 1973 bis 1982. Auch damals gab es modische Trends. Auch damals gab es den Einfluss von Interessen. Aber eine so gedankenlose Auslieferung an das Hörensagen wie etwa bei der Verkürzung der Schulzeit auf 12 Jahre ist eigentlich unmöglich. Auch vor Beginn der Entscheidungen über die Verkürzung war doch klar, dass man Kinder unter Stress setzt und ihnen die Zeit zum Spielen nimmt. Auch vor diesen Entscheidungen war doch klar, dass derart gestresste Schüler nicht einmal die guten Instrumente für den verherrlichten Wettbewerb auf dem Weltmarkt sein werden. Dies alles konnte man sich ausdenken und wissen. Und dennoch ist es so entschieden worden. Weil andere Staaten das auch machen, weil man angeblich ins Hintertreffen gerät, weil von Brüssel solche Töne kommen, weil die Wirtschaft es will. Eigentlich unvorstellbar. Eigentlich müsste man doch wissen, welche kleinkarierten Betriebswirte dort den Ton angeben.
Genauso bei der Privatisierung und Liberalisierung. In dem zitierten SpiegelOnline Artikel wird mit Berufung auf Ernst Ulrich von Weizsäcker so getan, als würde man jetzt erst erkennen können, dass man nicht alles privatisieren kann. Es ist lange bekannt, dass sich die Produktion mancher Güter und Dienstleistungen nicht so aufteilen lässt, dass Wettbewerb zwischen mindestens zwei Produzenten einer Ware oder einer Dienstleistung möglich ist. Wenn ich mich recht erinnere, sind in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts die richtungsweisenden Aufsätze in Fachzeitschriften für Volkswirte erschienen. Produktionen zum Beispiel, die mit Unteilbarkeiten und mit sinkenden Stückkosten verbunden sind, lassen sich schlecht im Wettbewerb erstellen und betreiben.
Damals wusste man schon, dass manches sinnvoller Weise in öffentlicher Regie produziert wird. Zum Beispiel das Verteilen von Briefen und Paketen. Weil es sinnlos ist, vier Lieferwagen hintereinander in die gleiche Straße zu schicken. Brücken über den Rhein oder die Elbe kann man auch nicht im Wettbewerb bauen und betreiben lassen.
Um das zu wissen, bedurfte es keiner neuen Erkenntnisse. Die neuen Erkenntnisse, die zum Beispiel dann zu Regulierungsbehörden geführt haben, sind ja eher lächerlich. Wenn ich in diesen Tagen lese, dass der oberste Beamte der Regulierungsbehörde meint, man müsse untersuchen, ob die Energiepreise nicht zu hoch sind, dann muss man ja wohl fragen dürfen, was das für eine Marktwirtschaft ist, wenn irgend jemand darüber befindet, ob die Trassen-Preise stimmen und ob die Kalkulationen von E.on, Vattenfall, EnBW und RWE angemessen sind. Dass der private Betrieb einer U-Bahn nicht funktioniert und auch der private Bau und die private Bewirtschaftung eines Tunnels – wie in Lübeck geschehen – ein Flop werden wird, und dass man die Bundesdruckerei besser in öffentlichen Hand behalten hätte, und dass die Raststätten an unseren Autobahnen in öffentlicher Hand mit Verpachtung an private Pächter nicht die dümmste Lösung war, und auch die Kliniken in Hamburg sinnvollerweise in öffentlicher Hand waren – das alles konnte man vorher wissen. Da brauchte man keine neuen Gutachten und Untersuchungen.
Dass den Spiegelredakteuren im Falle Privatisierung und im Falle der Verkürzung der Schulzeit auf 12 Jahre erst jetzt der Groschen fällt, das gehört sozusagen zur Berufskrankheit von Spiegelredakteuren und sei deshalb geschenkt.
Die Lösung: Rückkehr zur Entscheidungsfindung durch Abwägung der Frage, ob etwas besser in öffentlicher Regie oder in privater Regie produziert und geleistet wird. Die Sachabwägung muss die Orientierung an modischen Trends und an den Privatinteressen der Betreiber, der Berater und der Vermittler von Privatisierungsprojekten wieder ersetzen.
Die Sache mit der Riester-Rente ist der klare Fall einer Kombination von großen finanziellen Interessen und Propaganda. Aus gesamtgesellschaftlicher Warte sind die Riester- und die Rürup-Rente die größten und verschwenderischsten Flops der Nachkriegszeit. Flop ist eigentlich eine Verharmlosung. Es sind Zerstörungswerke, die obendrein die Gefahr von Altersarmut verstärken.
Die Lösung: Rückkehr zum preiswerteren, weil effizienter arbeitenden Umlageverfahren. Damit wäre für Niedrigverdiener und für die Normalverdiener die Altersvorsorge um vieles günstiger zu organisieren und auch zu sichern, als dies heute der Fall ist.
Ähnlich wären die Vorgänge um die Kommerzialisierung des Fernsehens und die Vernachlässigung unserer Jugend und speziell der Jugendlichen mit ausländischen Hintergrund zu analysieren. Nahezu alles wusste man: Wenn man jungen Leuten nicht hilft, sich zu integrieren, wenn man ihnen keine berufliche Perspektiven gibt, wenn sie sehen, dass sie kaum eine Chance haben, sich aus einer schlechten Situation heraus zu bewegen, wenn sie sehen, wie die Einkommens- und Vermögensverteilung in unserem Land quasi auseinander fliegt und sie immer unten bleiben, dann kann man das Ende vom Lied einigermaßen sicher komponieren. Jetzt überrascht zu tun, wie das vor allem konservative Kreise und Parteien tun, ist verlogen. Und ihre Konsequenz – weg sperren – ist zugleich inhuman und gefährlich.
Anlage:
Auszüge aus einem SpiegelOnline Artikel vom 31.12.2007
STANDORT
Wie viel Staat braucht das Land?
Privatisierung und Liberalisierung – diese Schlagworte standen einmal für mehr Wettbewerb bei Bahn und Post, bei Energieversorgern und Kommunalbetrieben. Doch nicht immer sind die Leistungen billiger und besser geworden. Bei vielen Politikern hat deshalb ein Umdenken begonnen.
[…]
Die Privatisierung und Liberalisierung, wie sie der Politik einst vorschwebte, ist gescheitert – nicht nur im Briefgeschäft: Viele Altmonopolisten beherrschen heute genauso wie in früheren Zeiten das Geschehen auf ihren Märkten, von offenem Wettbewerb keine Spur.
Der Börsengang der Deutschen Bahn ist in weite Ferne gerückt, Konzernchef Hartmut Mehdorn will Bahn und Schiene nicht trennen und erschwert so Konkurrenten den Eintritt ins Geschäft. Auch die vier großen Energieversorger dominieren nach der Liberalisierung ihre Einflussgebiete wie eh und je, sie erzeugen mehr als 80 Prozent des Stroms, das Oligopol besteht nahezu unangetastet fort.
Manche Kommunen vollziehen sogar schon die Kehrtwende: Sie bringen Müllabfuhr oder Wasserversorgung wieder zurück in staatliche Obhut
(SPIEGEL 24/2007). Die Privatisierung hat ihren Zauber verloren. Die Hoffnung ist verflogen, dass alles billiger und besser wird, wenn erst
die private Hand die Dinge richtig anpackt: schneller, effizienter und kundenfreundlicher. Das war die Verheißung, und sie stimmt längst nicht
immer.
Denn Privatisierung kann nur gelingen, wenn der Staat gleichzeitig – wie in der Telekommunikation – für Wettbewerb sorgt. Sonst werden – wie bei der Post – nur die Monopolgewinne privatisiert. Und die lassen sich – wie bei vielen Stadtreinigungen – ungeniert in die Höhe schrauben, wenn
die öffentliche Kontrolle durch ein Parlament und die Wähler fehlt.
Postkunden stellen irritiert fest, dass der Konzern sein Filialnetz kräftig ausgedünnt hat, Tausende Briefkästen fielen der Sparwut zum Opfer, manche Sendungen werden heute später zugestellt als zu Bundespost-Zeiten. Bahnreisende beobachten, dass viele unrentable Strecken stillgelegt werden, 5000 Kilometer seit 1995, viele Gemeinden im Osten haben den Anschluss verloren.
[…]
Wenn alles in private Hände übergeben würde – Stadtwerke, Krankenhäuser, Nahverkehr -, was hätte das Parlament dann noch zu entscheiden? Viele Bürger fragen sich heute schon, warum sie fast die Hälfte ihres Einkommens als Steuern und Abgaben abführen, wenn ihnen der Staat immer weniger bietet. Wenn er, wie in der Hamburger Innenstadt, nicht einmal mehr für die Gehwege Sorge trägt.
Quelle: SPIEGEL