Der Kampf gegen den Terror ist gescheitert. Aber die Verantwortlichen geben das nicht zu. Sie machen weiter wie bisher.
Seit September 2001 führen die USA und der Westen den Krieg gegen den Terror. Mit 100tausenden von Opfern. Im Irak. In Afghanistan. In Libyen. In Syrien. Und der Krieg gegen den Terror ist nicht einmal mit Erfolg gekrönt für die Völker des Westens. Sie sind Opfer, wie man mit Trauer nach dem Anschlag von Paris wieder einmal feststellen muss. – Ich ordne den Vorgang in den Gesamtzusammenhang der Entscheidungsfindung in unseren westlichen „Demokratien“ ein. Und komme zu dem Schluss: Erfolgskontrolle und Sanktionen gegen Fehlentscheidungen gibt es in der heutigen politischen Welt kaum noch. Am Krieg gegen den Terror und zwei weiteren Beispielen will ich diese Beobachtung belegen. Am Beispiel der Privatisierung der Altersvorsorge, an der Beteiligung Deutschlands am Afghanistan Krieg und am Kampf gegen den Terror mit den furchtbaren Morden von Paris wird gezeigt, dass das Selbstverständliche, dass der von uns geschätzte Vorteil einer Demokratie in den sogenannten Demokratien heutigen Zuschnitts kaum noch zu finden ist. Sanktionen gegen Fehlentscheidungen gibt es kaum noch. Albrecht Müller.
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Umfassende und sachverständige Willensbildung und Entscheidungsfindung, und dann die Kontrolle des Erfolgs der Entscheidung findet kaum noch statt. Dieses Procedere wird überlagert durch Vergessen, durch Ablenkung, durch millionenfache Manipulation der Menschen. Nehmen Sie es uns nicht übel, dass wir trotz der Vorherrschaft des Themas Terrorismus nach den Anschlägen von Paris mit einem unblutigen Beispiel anfangen. Damit wird die systematische Schwäche deutlicher, dass es keine Sanktionen gegen Fehlentscheidungen gibt:
- Die Verlagerung der Altersvorsorge in Richtung Privatvorsorge
Am 13.11.2015 veröffentlichte der Kölner Stadtanzeiger einen Artikel mit der Überschrift „Riester-Rente gescheitert“. Die Riester-Rente wie auch ihre Schwestern, die Rürup-Rente für die Besserverdienenden und die Entgeltumwandlung zugunsten der betrieblichen Altersversorgung wurden vor gut 13 Jahren beschlossen und zum 1.1.2002 eingeführt. Schon damals gab es Gegenstimmen, sachlich begründete Gegenstimmen von Gerd Bosbach, dem Statistiker, wie auch von mir in einem kleinen Buch „Mut zur Wende“ von 1997. Im Kapitel „Denkfehler 7“ des Buches „Die Reformlüge“ von 2004 ist beschrieben, dass es ein Irrglaube ist, dass die staatlich geförderte private Vorsorge hilfreich und wirtschaftlich sei. Am 4. Januar 2005, also vor über zehn Jahren steht dieser Text in den NachDenkSeiten.
Es geht hier nicht um Rechthaberei, sondern um die Erkenntnis, dass unser Willensbildungssystem nicht funktioniert. Sanktionen gegen die Fehlentscheider bleiben aus, bei der Altersvorsorge wie beim Kampf gegen Terrorismus. Und hier wie dort neigen die Politik wie auch die Stimmungsmacher in den Medien dazu, beim Wittern der Fehlentscheidung zu empfehlen, noch einen drauf zu setzen.
- Die Verteidigung unserer Sicherheit am Hindukusch?
Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hat am 2. Dezember 2002 den Afghanistan Einsatz der Bundeswehr damit gerechtfertigt, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Wo ist diese Idee geblieben? In Luft aufgelöst. Afghanistan ist nicht stabilisiert und keinesfalls sicher. Unsere Sicherheit wird dort nicht verteidigt, im Gegenteil: die vom Krieg geschundenen Menschen flüchten, in großer Zahl auch den weiten Weg von dort hierher zu uns. Aber wo bleibt die Sanktion, wo bleibt die politische Bestrafung jener, die so fahrlässig falsch diagnostiziert haben und dann zum Militäreinsatz als der maßgeblichen Lösung des Problems geschritten sind? Die Entscheidung wird nur halbherzig korrigiert. Der Einsatz wird umdefiniert in einen Ausbildungseinsatz und hilfsweise in einen Polizeieinsatz. Das eingesetzte Personal wird erhöht.
Und wichtig für die Fehlentscheider: der Zusammenhang zwischen Krieg und Flüchtlingsstrom darf nicht thematisiert werden. Dann würden ja möglicherweise Sanktionen gegen die Fehlentscheider gefordert werden. Und schon gar nicht darf der Zusammenhang zwischen dem 2001 begonnenen Krieg und dem Terror von heute gesehen werden. Damit sind wir beim nahe liegenden dritten Beispiel und Beleg für das Versagen der Willensbildung in diesen unseren westlichen Demokratien:
- Der Kampf gegen den Terror ist gescheitert. Statt nachzudenken und zu korrigieren legen die Verantwortlichen einfach nach. Noch mehr Gewalt. Krieg.
Es ist ja richtig: dem schrecklichen Terror von der Art der Anschläge in Paris muss man mit polizeilichen Maßnahmen begegnen. Und auch mit dem Versuch, die Quellen der terroristischen Gewalt zu beseitigen. Aber das kann doch nicht alles sein.
Die Verantwortlichen in Paris, in Washington, in Berlin und auch in Moskau geben nicht zu, dass ihre bisherige Strategie gescheitert ist. Sie machen weiter wie bisher. „ „Wir werden schonungslos sein“, erklärt der französische Präsident Hollande; NATO-Generalsekretär Stoltenberg und andere spielen mit der Erklärung des NATO-Bündnisfalls; sie wollen weiter und verstärkt Krieg führen; und die deutsche Bundeskanzlerin sichert jedwede Unterstützung zu. Wichtige Medien feuern an, beispielhaft die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mit der Schlagzeile auf der ersten Seite der Printausgabe: „Weltkrieg“. Dort heißt es dann im Text von Berthold Kohler:
„Die verunsichernde Wirkung des 13. Novembers übertrifft in einem noch die Wucht der Schockwellen von damals. Die Botschaft der Anschläge auf Amerika war: Der islamistische Terrorismus hat dem Westen den Krieg erklärt – und er ist dazu fähig, ihn in die Herzen der westlichen Metropolen zu tragen. Die blutige Mitteilung von Paris lautet: Ihr könnt uns auch anderthalb Jahrzehnte danach immer noch nicht daran hindern. Eure Mühen und Opfer im „Krieg gegen den Terror“, ob auf fremder oder eigener Erde, waren vergebens.
In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen. Das Ungeheuer hat viele Köpfe und Arme, die immerfort nachzuwachsen scheinen, wenn man sie abschlägt. Es trägt wechselnde Namen.
Doch sein Wesen bleibt gleich: Es ist ein Antagonist der Lebensart und der politischen Verfasstheit des Westens, die es hasst und vom Antlitz der Erde tilgen will. Es geht ihm nicht nur um die „Befreiung“ der muslimischen Welt vom Einfluss der „Ungläubigen“. Es will die ganze Welt nach Vorstellungen umgestalten, die für die liberalen Demokratien und ihre offenen Gesellschaften unerträglich sind. Deren Ideale sind die Ideale der französischen Revolution. Ihrethalben ist Frankreich angegriffen worden und mit ihm der ganze Westen. Der „Islamische Staat“ führt nach eigenem Verständnis einen Weltkrieg.
Frankreich hat sich im Irak und in Syrien mit militärischen Mitteln an dem Versuch beteiligt, das Ungeheuer aufzuhalten. Der Terrorangriff auf Paris ist eine Quittung dafür nach Art des IS. Die Franzosen gehören nicht zu den Nationen, die sich von solchen Vergeltungsschlägen einschüchtern lassen. Hollande spricht von einem „Kriegsakt“. Das könnte schwerwiegende Folgen nach sich ziehen – für Frankreich, für die Nato und damit auch für den wichtigsten Verbündeten, Deutschland. Merkels Diktum, man müsse die Fluchtursachen schon in Syrien bekämpfen, könnte plötzlich einen von ihr nicht gewollten Bedeutungswechsel erfahren. Wie wird der Terror von Paris in Ländern wirken, die eher der Ansicht zuneigen, wer selbst nicht bombardiere, werde auch nicht bombardiert?
Der Westen darf sich nicht einschüchtern lassen
Mehr denn je kommt es jetzt auf die Geschlossenheit des Westens an. Und darauf, dass er seinen Willen und seine Fähigkeit demonstriert, seine Werte zu schützen. Das wird angesichts des Ausmaßes der Bedrohung und der Asymmetrien des Konflikts nicht gänzlich ohne Einschränkungen der Freiheiten möglich sein, die es zu verteidigen gilt, gegebenenfalls auch mit eigenen Truppen in Syrien. Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein. Obsiegen kann in der Konfrontation mit dem Terrorismus nur, wer sich von ihm nicht einschüchtern und erpressen lässt. Was hätte Deutschland von Helmut Schmidt gelernt, wenn nicht das?“
Daran ist ja einiges richtig. Aber die hier propagierte Reaktion lässt beiseite, welche Quellen dieser Terrorismus hat und dass er eben auch ein Produkt falscher westlicher Politik seit nunmehr 14 Jahren ist.
Carsten Weikamp hat zum besseren Verständnis der eigenen Verantwortung des Westens einen didaktisch gelungenen Versuch gemacht. Er hat das Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel zu den Morden von Paris nur ein bisschen verändert und legt den Entwurf eines Folge-Presse Statements für den 16.11.2015 vor.
Carsten Weikamp schreibt:
„Schön hat sie es gesagt. Ruhige, besonnene, in Ansätzen mitfühlende und doch klare Worte hat sie gefunden zum Terror in Paris. Erfreulich, dass sie schon im Herbst ihrer Kanzlerschaft, also nicht erst im Ruhestand, befreit von wahl- und parteitaktischen Zwängen, ihre aufkeimende Mitmenschlichkeit zum Ausdruck bringt. Wir möchten Angela Merkel ermutigen, sich häufiger so zu präsentieren und weisen sie auf eine gute Gelegenheit hin, dies weiter einzuüben. Unser Entwurf für ein Folge-Pressestatement zeigt, wie leicht es wäre, mit nur wenigen Anpassungen ihrer Worte nicht nur die Herzen unserer französischen Nachbarn, sondern auch die vieler Millionen Menschen vor allem in den Krisenregionen der Welt zu erreichen. Die Anpassungen sind fett gesetzt:
Entwurf Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Toten des Kampfes gegen den Terror in Afghanistan, im Irak und in Syrien am 16. November 2015:
Meine Damen und Herren, hinter uns liegen vierzehn der schrecklichsten Jahre, die die Welt seit langer Zeit erlebt hat. Die Menschen in Afghanistan, im Irak und in Syrien müssen einen Alptraum von Gewalt, Terror und Angst durchleiden, und ich möchte ihnen und allen ihren Landsleuten heute von hier aus vor allem eines sagen: Wir, die deutschen Freunde, wir fühlen uns Ihnen so nah. Wir weinen mit Ihnen. Wir können nur leider mit Ihnen gemeinsam den Kampf gegen die nicht führen, die Ihnen so etwas Unfassbares angetan haben, weil wir dann gegen uns selbst und unsere besten Freunde kämpfen müssten.
Ich bin in Gedanken bei den knapp eine Million Menschen, denen das Leben geraubt wurde, und ich bin in Gedanken bei den Familien und Angehörigen. Seien Sie versichert: Deutschland fühlt mit Ihnen in Ihrem Schmerz und in Ihrer Trauer. Ich denke auch an die Verletzten mögen sie genesen, körperlich und seelisch.
Die Menschen, um die wir trauern, wurden vor Cafés ermordet, im Restaurant, im Konzertsaal oder auf offener Straße, auf Hochzeiten, an Tanklastzügen und in Krankenhäusern. Sie wollten das Leben freier Menschen leben, in Ländern, die das Leben feiern und sie sind auf Mörder getroffen, die genau dieses Leben in Freiheit hassen.
Dieser Angriff auf die Freiheit gilt nicht nur Afghanistan, dem Irak und Syrien er meint uns alle und er trifft uns alle. Deswegen werden wir auch alle gemeinsam die Antwort geben.
Da ist zunächst die Antwort der Sicherheitskräfte: Die Bundesregierung steht dazu im engen Kontakt mit Ihren Regierungen und hat fast jedwede Unterstützung angeboten. Wir müssen allerdings leider alles tun, um bei der Jagd auf die Täter und Hintermänner zu blockieren, zu vertuschen und können nicht gemeinsam den Kampf gegen diese Terroristen zu führen. Ich werde heute im Laufe des Tages mit den zuständigen Ministern zusammenkommen, um die weitere Entwicklung der Lage in Ihren destabilisierten Ländern und alle damit verbundenen Fragen zu erörtern.
Und dann geben wir auch als Bürger eine klare Antwort, und die heißt: Wir reden von der Mitmenschlichkeit, von der Nächstenliebe, von der Freude an der Gemeinschaft. Wir glauben an das Recht jedes Einzelnen, sein Glück zu suchen und zu leben, insbesondere daran, seine Hegemonialstellung und den Zugang zu den Ressourcen zu sichern, und wenn dann noch Luft ist auch an den Respekt vor dem anderen und an die Toleranz. Wir wissen, dass unsere Auffassung von ‚freies Leben‘ stärker ist als jeder Terror.
Lassen Sie uns den Terroristen die Antwort geben, indem wir unsere Werte selbstbewusst leben und indem wir diese Werte für die ganze Welt bekräftigen jetzt mehr denn je.
Vielen Dank.
Quelle: Pressestatement der Bundeskanzlerin
Änderungen und Ergänzungen CW in fett.“
Soweit Carsten Weikamp.
Eine Anmerkung zum selbstgerechten Schulterklopfen und den Bekenntnissen zu den „eigenen Werten“ ist noch nötig. Es fällt nämlich auf, wie realitätsfremd und verlogen diese Bekenntnisse oft sind.
Bundespräsident Gauck gab am 14. November eine Erklärung ab, deren Haupt- und Schlussteil wir hier übernehmen:
„Selten habe ich eine solche Nähe zu unseren französischen Nachbarn empfunden wie in dieser Nacht.
Und ich bin mir ganz sicher: unzählige Deutsche sind in tiefem Schmerz mit den Menschen in Frankreich verbunden.
Als ich Präsident Hollande meine Beileidsworte übermittelt habe, standen mir die ermordeten Opfer und die Schmerzen der Verletzten vor Augen. Wir Deutsche trauern mit den Familien der Getöteten. Wir trauern mit Frankreich.
Aber zugleich muss uns bewusst werden: Aus unserem Zorn über die Mörder müssen Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft werden. Auch dabei stehen wir an der Seite der Franzosen.
Europas Werte und Europas Freiheit sind in der Geschichte von machtvollen Feinden angegriffen worden. Dennoch ist unser Europa ein Bollwerk der Demokratie und der Menschenrechte. Auch die brutalen Angriffe islamistischer Terroristen vermögen dies nicht zu ändern.
Es ist wahr: Die vergangene Nacht hat uns tief erschüttert.
Wir sind in dieser Nacht unseren Ängsten begegnet und wir sind voller Trauer. Aber die Terroristen werden nicht das letzte Wort haben.
Diese Nacht wird nicht das letzte Wort haben.
Wir werden in den kommenden Tagen und auch in den kommenden Nächten mit unserem Verstand, mit unseren Herzen und mit unserer Entschlossenheit verteidigen, was unsere französischen Freunde einst ins politische Leben Europas gerufen haben:
Liberté, Égalité, Fraternité.“
Den meisten Aussagen des Bundespräsidenten werden vermutlich die meisten Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten folgen können. Auch ich. Aber ich habe Probleme mit der auch hier wieder sichtbaren mangelnden Einsicht in das eigene Scheitern und in die Verlogenheit der gängigen Sprüche. Davon, dass Égalité und Fraternité gültige Werte des Westens seien, kann doch keine Rede sein. Die Ideologen der neoliberalen Bewegung, zu denen man Bundespräsident Gauck getrost zählen kann, haben über weite Strecken gegen Égalité polemisiert. Ihr Standardglaube, jeder sei seines Glückes Schmied, hat mit der Vorstellung von der Gleichheit der Menschen nichts zu tun. Sie haben lange Texte darüber geschrieben, dass man nur noch von „Chancen“gleichheit sprechen dürfe und nicht mehr von der Gleichheit der Menschen.
Auch in der Praxis unserer Städte, und insbesondere in Frankreich, muss man lange suchen, bis man auch nur den Hauch einer Gleichheit der Lebensbedingungen in den Randstädten der Deklassierten und den Lebensbedingungen der Spitzenverdiener und Gutverdiener findet.
Sind die Agenda 2010 und Hartz IV Ausdruck unseres Strebens nach Égalité und Fraternité?
Auch für die Umgestaltung der Altersvorsorge von der Gesetzlichen Rente als Hauptelement und Stütze der Altersvorsorge hin zu mehr Privatvorsorge – siehe oben unser erstes Beispiel – gilt die Vorstellung von einer Gleichheit der Lebensbedingungen überhaupt nicht. Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente wurde bewusst zerstört, um den Privatinteressen der Versicherungskonzerne und der Banken geschäftlichen Spielraum zu verschaffen. Das Ergebnis wird für Millionen Menschen sein, dass sie in Altersarmut versinken. Die Sprüche des Bundespräsidenten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit helfen ihnen bei der Bewältigung der Angst vor diesen kommenden Problemen und vor den kommenden Problemen selbst nicht.
Nachtrag Nr. 1:
Als Ergänzung finden Sie hier noch einen Text von Willy Wimmer (CDU) [PDF – 12 KB] zu seiner Sicht des Terrors von Paris und der Hintergründe
Nachtrag Nr.2:
„Aber für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld.“
Gabor Steingart, Herausgeber des Handelsblatts in seinem Morning Briefing vom 16.11.2015:
Guten Morgen Herr Müller,
in unseren Albträumen hatten wir uns den nächsten Weltkrieg als Atomkrieg vorgestellt, geführt mit Interkontinentalraketen. Doch die Wirklichkeit hält sich nicht an unsere Albträume.
Die neuen Weltkrieger tragen keine Uniform, sondern Jeans. Sie zünden keine Atomsprengköpfe, sondern die Bombengürtel an ihren Hosenbünden. Sie vernichten keine Landstriche, sondern vor allem unser Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit.
Es geht nach dem Massaker von Paris nicht mehr um Einzeltäter. Wer „Terroranschlag“ sagt, will verharmlosen. Die Situation ist fataler und größer, als es die Betroffenheitsadressen der Regierungschefs vermuten lassen. Wir sind nicht nur Opfer eines Terroranschlags, wir sind auch Kriegspartei.
Die Attentäter vom vergangenen Freitag sind für ihre menschenverachtenden Taten allein verantwortlich und müssen mit der Härte des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen werden. Aber für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld.
Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die das Kriegsgeschehen von Afghanistan bis Syrien mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen. Saddam Hussein war ein Diktator, aber am Anschlag auf das World Trade Center war er nachweislich nicht beteiligt. „Diejenigen, die Saddam 2003 beseitigt haben, tragen auch Verantwortung für die Situation im Jahr 2015“, sagt mittlerweile selbst Tony Blair, einst der willige Krieger an der Seite der USA.
Der Wissenschaftler Samuel Huntington hatte ihm und den anderen westlichen Führern schon vor 9/11 gesagt, dass es niemals gelingen werde, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben. Amerikaner und Briten versuchten genau das, als sie mit dem Schlachtruf vom „Regime-Change“ in Bagdad einfielen. Sie kämpften für westliche Werte, indem sie diese diskreditierten. Sie riefen „Freiheit“ und schufen eine Welt in Unordnung.
„Wir werden schonungslos sein“, versicherte auch jetzt wieder ein versteinerter französischer Präsident und schickte in der Nacht von Sonntag auf Montag seine Luftwaffe nach Syrien, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren. Ein Herausgeber der „FAZ“ wünscht sich auch an der Spitze der deutschen Regierung „ein hartes Gesicht“. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner fordert eine „Radikalisierung der bürgerlichen Mitte“.
Doch der Automatismus von Härte und Gnadenlosigkeit, das vorsätzliche Nicht-Verstehen des anderen, die feurigen Reden an das jeweils heimische Publikum, die schnell in Marsch gesetzten Bombergeschwader haben uns in diesem Kampf der Kulturen dahin gebracht, wo wir heute stehen. So beendet man den Terror nicht, sondern facht ihn weiter an. So schafft man keinen Frieden, so züchtet man Selbstmordattentäter. Die bürgerliche Mitte unseres Landes sollte sich nicht radikalisieren, sondern sich ihrer vornehmsten Tugenden erinnern: Besonnenheit und Friedfertigkeit. Mehr Verantwortung übernehmen, das kann nach den Anschlägen von Paris nur mehr Nachdenklichkeit bedeuten. Militärs und Geheimdienste müssen ihre Arbeit tun, aber die Politik und die Gesellschaft ihre auch.
Die einzelnen Terroristen sind in ihrer Verblendung für Obama, Merkel und Hollande nicht erreichbar, doch ihre Hintermänner, Financiers und Verbündeten sind es sehr wohl. Die Schlüsselwörter der kommenden Monate dürfen dann aber nicht Kampf oder Kapitulation lauten, sondern Ordnung, Respekt und Moderation. Nicht aus Liebe zum Islam, sondern aus Liebe zu uns und unseren Familien. Es gibt Alternativen zur militärischen Eskalation, die unserem Land bekömmlicher sind. Deutschland braucht jetzt kein hartes Gesicht an der Spitze, sondern einen kühlen Kopf.
Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in die neue Woche. Herzlichst grüßt Sie Ihr
Gabor Steingart
Herausgeber