Nachruf auf Helmut Schmidt
Weil wir gestern diesen Nachruf angekündigt hatten, kamen einige Mails von NDS- Lesern. Einer meinte, der Sozialdemokrat Helmut Schmidt sei eines Nachrufs nicht würdig. Da bin ich ganz anderer Meinung. Selbst wenn es von Helmut Schmidt als Leistung nur die Mahnungen der letzten Zeit gegeben hätte, doch bitte nicht wieder zur Konfrontation zwischen West und Ost zurückzukehren und damit alles aufs Spiel zu setzen, was mit der Entspannungs- und Ostpolitik erreicht worden ist, wäre er positiv zu würdigen. Die Idee, die gemeinsame Sicherheit zwischen dem Westen und Russland neu zu beleben, wäre alleine schon eine Nachruf wert. Es gab in Helmut Schmidts politischem Leben noch sehr viel mehr, was positiv zu würdigen ist. Darüber will ich skizzenhaft aus meiner persönlichen Sicht berichten, und dabei kritisches nicht verschweigen. Albrecht Müller.
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Von Mai 1974 bis zum 1. Oktober 1982 war ich Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Helmut Schmidt war ein ausgesprochen angenehmer Chef; er war trotz erkennbarer Meinungsunterschiede tolerant und offen für kritische Einwände. – Helmut Schmidt war, was seine politischen Einstellungen betraf, eine ambivalente Persönlichkeit. Er hat sehr Vernünftiges, Gutes getan und Wegweisendes gesagt. Und er vertrat Entscheidungen und Meinungen, denen man als kritischer und vernunftbegabter Mensch nicht immer folgen konnte. Mein Eindruck: Helmut Schmidt war oft hin- und hergezerrt – von verschiedenen Einflüssen, Personen und Gruppen. Das geht uns übrigens allen so und ist schon deshalb kein Grund zur radikalen Klage.
An wenigen, aus meiner Sicht relevanten Beispielen will ich die Ambivalenz und guten Seiten sichtbar machen, auch mithilfe einiger teilweise amüsanten Details:
Nachrüstung und West-Ost-Dialog für eine gemeinsame Sicherheit in Europa
Helmut Schmidt ist der Kanzler der Nachrüstung, so sehen ihn viele. Auch ich verstehe bis heute nicht, was ihn bei diesem Thema „geritten hat“; zumal wir alle an ihm einen ganz anderen Ostpolitiker erlebt haben: er hat sich massiv für den Erfolg der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für die KSZE, eingesetzt. Daraus wurde dann die OSZE, was nach wie vor eine wichtige Einrichtung wäre, wenn sie von westlicher Seite nicht desavouiert worden wäre, massiv beim Jugoslawien Krieg.
Helmut Schmidt hat sich in einer entscheidenden Phase für die Fortsetzung des Dialogs mit dem Osten, mit der Sowjetunion, mit Russland und anderen Staaten Ost-Mitteleuropas eingesetzt und diese Linie durchgehalten, als andere sich von der Entspannungspolitik davonstehlen wollten. Davon, von einem Vorgang zwischen Dezember 1979 und dem Mai 1980 will ich im Detail berichten: Im Dezember 1979 intervenierte die damalige Sowjetunion militärisch in Afghanistan. Franz Josef Strauß, CSU-Vorsitzender und potentieller Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 1980, forderte sofort ein Ende der Entspannungspolitik und des West-Ost-Dialogs. Bundeskanzler Schmidt geriet damals auch unter Druck seines Koalitionspartners, des Außenministers und FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher. Dieser führte, so berichtete der „Stern“ im April 1980, schon Gespräche mit dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl über eine mögliche Zusammenarbeit.
Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes veranlasste im März 1980 eine Studie über die Einstellung der Deutschen zum Verhältnis zu Moskau und zur Ostpolitik. Das Ergebnis war eindeutig. Die Mehrheit der Deutschen stand hinter dieser politischen Linie. Das war von Bedeutung aber keineswegs alleine ausschlaggebend für die Entscheidung Helmut Schmidts, nicht zu wackeln.
Der Konflikt innerhalb der sozialliberalen Koalition schlug sich auch in der morgendlichen Lage des Bundeskanzleramtes nieder. Dort saßen wir jeden Morgen zusammen, um über Geschehenes und Kommendes zu beraten. Mit dabei war Helmut Schmidts Redenschreiber Breitenstein. Er war ein lustiger Vogel und FDP Mitglied, und er hatte wegen seiner Funktion im Kanzleramt das Recht, an FDP-Präsidiumssitzungen teilzunehmen.
Der Konflikt um die Fortsetzung der Entspannungspolitik eskalierte. Die SPD setzte voll darauf und nutzte im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 11. Mai 1980 zum Show-down. Im Vorfeld dieser Wahl erschien dort zum Beispiel eine große Anzeige mit den Fotos und Kernaussagen von 49 Kriegerwitwen. Darüber stand in dicken Lettern: „Nie wieder Krieg“. Das war eine hoch emotionale Intervention zugunsten der Entspannungspolitik.
Die FDP flog am 11. Mai mit 4,999 % der Stimmen aus dem Düsseldorfer Landtag. Am Montag darauf tagte das FDP-Präsidium und am Dienstagmorgen erschien Schmidts Redenschreiber und FDP-Mitglied Breitenstein in der morgendlichen Lage mit der Botschaft: „Meine Herren (Damen gab’s da nicht), ich kann Ihnen mitteilen, dass die FDP jetzt wieder für die Entspannungspolitik ist.“
Diese Geschichte habe ich nur erzählt, weil sie zeigt: Bundeskanzler Schmidt ist Risiken eingegangen, um das Ende der Konfrontation zwischen West und Ost nicht zu gefährden. Das muss man neben seiner Entscheidung für die Nachrüstung sehen. Beides zusammen.
Für den Ausbau der Kernenergie und zugleich für die Auflösung der Bindung der Energiebedarfsprognosen an die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes
Helmut Schmidt war für den Ausbau der Kernenergie und hat wegen dieses Themas viel Streit mit seiner eigenen Partei gehabt. Und er hat diesen Streit, befördert von seinem damaligen Pressesprecher Becker und anderen, unnötig angeheizt. Helmut Schmidt stand sachlich betrachtet mit seinem Urteil über die Kernenergie nicht auf der richtigen Seite. Das ist in vielfältiger Weise bestätigt worden.
Das Urteil über Schmidts Haltung in dieser Frage kann jedoch um einiges milder ausfallen, wenn man mit einbezieht, was in der praktischen Arbeit der Bundesregierung gerade von Seiten des Bundeskanzleramtes möglich geworden war: Basis der Pläne für den expansiven Ausbau der Kernenergie waren sogenannte Energiebedarfsprognosen. Diese waren von Seiten des Bundeswirtschaftsministeriums eng an die Prognosen des BIP angebunden. Das war eine unsinnige Korrelation und es ist damals gelungen, in Gesprächen mit der Wirtschaftsabteilung des Bundeskanzleramtes und dann mit dem Bundeswirtschaftsminister die Korrelation aufzulösen, und damit die Prognosen für den angeblichen Bedarf an Kernenergie massiv abzusenken.
Auch das war mit der Unterstützung des Bundeskanzlers Schmidt möglich.
Helmut Schmidt und die soziale Sicherheit
Der frühere Bundeskanzler sprach einmal davon, der Wohlfahrtsstaat sei eine große Leistung Europas. Den Mut, so etwas Progressives zu sagen, würden wir uns häufiger gewünscht haben. Es gibt ein anderes schönes Wort von Helmut Schmidt: „Die soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute“. Das ist absolut richtig, denn wer kein Vermögen hat, ist auf jeden Fall auf die soziale Sicherung vor den Risiken des Alters, der Krankheit und der Arbeitslosigkeit angewiesen.
Diese Einstellung hatte Bedeutung für die praktische Politik. Und dann leider auch wieder nicht. Auch hier war Helmut Schmidt hin und her gezerrt. Ich erinnere mich noch gut an einen denkwürdigen Sonntag im Sommer 1981, als die Zuständigen aus den Regierungsfraktionen im Kanzleramt mit den Spitzen der Regierung zusammengeführt wurden, um über die sogenannte Operation 82 zu beraten. Das war ein Programm mit sozialen Einschnitten. Die IG Metall ist im Herbst 1981 dann dagegen auf die Straße gegangen. Das signalisierte einen ersten Bruch zwischen dem SPD-Bundeskanzler und Teilen seiner Partei und der Gewerkschaften.
In der Unterstützung für Schröders Agenda 2010 durch Helmut Schmidt findet sich diese Linie vom Sommer 1981 wieder. Leider.
Aktive Beschäftigungspolitik
Nach der massiven Erhöhung der Mineralölpreise im Oktober 1973 gab es einen statistisch deutlich messbaren Einbruch der Wirtschaftsentwicklung und der Beschäftigung in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit stieg. Mit Helmut Schmidts Unterstützung war es möglich, 1974 und 1975 beschäftigungspolitisch dagegen zu steuern. Auch später, Ende der siebziger Jahre wieder mit Konjunkturprogrammen wie dem Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP). Das Urteil darüber ist heute gefärbt von dem Einzug der neoliberalen Ideologie in die deutsche Politik und Debatte und auch vom Unwillen so genannter linker Ökonomen zu akzeptieren, was keynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik zu leisten vermag. Damalige Untersuchungen, die wie die einschlägige Studie des Ifo-Instituts den Erfolg bestätigten, sind verschwunden.
Helmut Schmidts Kampf gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche einschließlich von Fernsehen und Hörfunk
Heute kann man aus dem Mund von Konservativen und führenden Christdemokraten und Christsozialen lange Klagen darüber hören, was die Kommerzialisierung des Fernsehens Schlimmes angerichtet hat. Sie haben Recht, aber sie hätten diese Einsicht früher haben sollen – damals nämlich zwischen 1978 und 1982, als sie Helmut Schmidt anklagten, er sei ein Investitionsverhinderer und gegen den technischen Fortschritt.
Helmut Schmidt hatte sich damals, 1978, geweigert, den CDU/CSU-Ministerpräsidenten die finanzielle Förderung des Bundes für die Verkabelung mehrerer Städte und damit für die Programmvermehrung und Kommerzialisierung des Fernsehens zuzusagen. Dabei blieb er bis zum Ende seiner Kanzlerschaft am 1. Oktober 1982. Und er hat darüber geschrieben und geredet, warum es wichtig sei, dass die Menschen die personale Kommunikation, also das Miteinander, und die elektronische Kommunikation mit dem Bildschirm ausbalancieren. Er veröffentlichte im Mai 1978 in der „Zeit“ ein „Plädoyer für einen Fernsehfreien Tag“. Das war der publizistische Hebel zur Thematisierung eines schwierigen Problems. – Dass der Regierungschef eines Landes sich darüber Gedanken macht, wie es in den Familien aussieht und was die Überflutung mit kommerziellen Fernsehprogrammen für uns und unsere Kinder bedeutet, fand und finde ich bis heute großartig. Jedenfalls ist nie und nimmer einzusehen, dass für diese totale Fernsehwelt öffentliches Geld ausgegeben wird, wie es dann die Regierung Kohl und ihr Postminister Schwarz-Schilling ab 1982 taten.
Helmut Schmidts Verhältnis zu seiner Partei, seine Sicht vom Ende seiner Kanzlerschaft und ein gravierender Fehler im Umgang mit der FDP
Helmut Schmidts Verhältnis zur SPD als einer Partei mit verschiedenen Flügeln war die meiste Zeit nicht sehr produktiv. Manchmal schon. Manchmal sah er ein, dass nur eine breit aufgestellte Partei die Chance hat, Mehrheiten zu gewinnen. Aber in der Regel war er orientiert am eher konservativen Teil der SPD. Das war ein gravierender Unterschied zu Willy Brandt. Dieser wusste um die Notwendigkeit der breiten Orientierung. Er hat auch deshalb nach seinem Rücktritt im Jahr 1974 nicht geschmollt, sondern zum Beispiel beim Bundestagswahlkampf 1976 gegen den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl mit gekämpft. Wenn er das nicht getan hätte, wenn die SPD damals auf die Schmidt-SPD verengt worden wäre, wäre aus meiner Sicht die Bundeskanzlerschaft Helmut Schmidts schon im Oktober 1976 zu Ende gewesen.
Auch das Ende der Kanzlerschaft mit dem September 1982 hat mit der mangelnden Einsicht in die notwendige Breite seiner Partei zu tun. Ich weiß sehr wohl, dass es allgemeine Meinung ist, die Bundeskanzlerschaft Helmut Schmidt sei damals wegen der Nachrüstung von seiner eigenen Partei geopfert worden. Das kann man ja so sehen. Aber dieser September 1982 hatte einen Vorlauf, den man zumindest mit bedenken sollte. Es war ein Vorlauf, der geprägt war von einer aus meiner Sicht unnötig kritischen Haltung gegenüber dem linken Flügel der SPD und zugleich einer abenteuerlichen Verharmlosung der Absichten der FDP-Führung und dabei insbesondere der Rolle von Otto Graf Lambsdorff: Obwohl nach dem zuvor geschilderten Rauswurf der FDP aus dem nordrhein-westfälischen Landtag am 11. Mai 1980 die Koalitionswelt wieder einigermaßen in Ordnung war und obwohl klar war, dass diese bessere Zusammenarbeit auch daraus folgte, dass die FDP eingesehen hatte, fremdgehen lohnt sich nicht, hat Helmut Schmidt im Bundestagswahlkampf 1980 dafür geworben, der FDP die Zweitstimme zu geben. Er hat hinterher irgendwann gesagt, dies sei ein Fehler gewesen. Das ist eine richtige Einschätzung. Die FDP legte von 7,9 % auf 10,6 % zu. Und sie nutzte dieses ausgesprochen gute Ergebnis dazu, um die Sozialdemokraten zu quälen. Die 10,6 % waren eine wunderbare Grundlage für die Erarbeitung des sogenannten Lambsdorff Papiers, des wesentlich vom CDU-Politiker Tietmeyer mit bestimmten Scheidungspapiers von SPD und FDP, und damit für den Sprung ins Bett der schwarz-gelben Koalition.
Unterm Strich: Es gibt in der Summe gute Gründe, freundlich, zustimmend und auch dankbar auf das Wirken Helmut Schmidts zurück zu blicken.
Nachtrag: Würdigung Helmut Schmidts im SWR