Durch die Seele ein Riss – Über die Folgen von Krieg, Flucht und Traumatisierung

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Haifa 1989. Es ist die Zeit der Ersten Intifada. Seit 1987 lehnen sich meist junge Palästinenser gegen die israelische Herrschaft auf. Vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 lebten rund 62.500 Araber in Haifa. Die meisten palästinensischen Araber wurden durch massive Angriffe und Bombardements von Seiten Israels vertrieben, andere flohen vor der Permanenz der Gewalt. Es verblieben lediglich 15.000 Araber in Haifa, unter ihnen Mahmud[1] und seine Familie. Götz Eisenberg[*] ist ihm im Gefängnis begegnet, hat ihm zugehört und sein Leben aufgeschrieben.

Es ist ein spätsommerlich warmer Tag. Mahmuds Mutter sagt: „Geh auf die Straße spielen! Es ist noch eine Stunde bis zum vorletzten Gebet und zur Sperrstunde.“ Mahmud trifft ein paar Nachbarskinder und sie beginnen auf der Straße Fußball zu spielen. Plötzlich kommt ein Trupp israelischer Soldaten die Straße hinauf. Sie haben den Auftrag, das überwiegend von Palästinensern bewohnte Stadtviertel unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein Soldat tritt auf Mahmud zu und sagt: „Geh nach Hause!“ Mahmud protestiert: „Meine Mutter hat gesagt, ich darf bis zur Ausgangsperre spielen.“ „Verschwinde, du Hundesohn!“, herrscht ihn der Soldat nun an. Mahmud ist zwar erst sechs Jahre alt, aber er weiß schon, wie man diese Beleidigung toppen kann. „Hurensohn!“, schreit er zurück. Der Soldat wird wütend und will Mahmud packen. Dieser entzieht sich seinem Zugriff und rennt weg, die Straße hinunter und um die nächste Ecke. Der Soldat will die Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen und verfolgt Mahmud. Dieser Krieg kennt keine Altersgrenzen. Unter denen, die die israelische Armee mit Steinen attackieren, sind viel Halbwüchsige und Kinder. Mahmud rennt so schnell er kann. Er gerät in eine Sackgasse und sitzt in der Falle. Nirgends eine offene Tür, durch die er verschwinden könnte. Der Soldat kommt näher, tritt vor ihn hin. Mahmud hebt die Hände vor sein Gesicht, um sich vor den erwarteten Schlägen zu schützen. Doch der Soldat zieht ein Messer hervor und fährt ihm mit der Schneide über die Hände. Mahmud lässt schreiend die Hände sinken, Blut strömt aus der verletzten Hand. Die Rachsucht des Soldaten ist noch nicht abgeklungen. Er zieht dem Kind das Messer durchs Gesicht. Der Schnitt verläuft über die Stirn, knapp am Auge vorbei bis zum Nasenrücken. Jetzt lässt der Soldat von ihm ab und geht. Schließlich wagen sich Nachbarn aus den Häusern, kümmern sich um Mahmud und bringen ihn nach Hause. Die Mutter geht mit ihm ins nächste Krankenhaus, wo die Wunden genäht und verbunden werden. Im Schutz seiner Familie erholt sich Mahmud von dem Schrecken und den Schmerzen. Seine körperlichen Wunden verheilen. Doch der Schock der Messerattacke bleibt ein Fremdkörper in seiner Seele – ein inoperables Geschoss. Bis in die Gegenwart kehrt die Szene in seinen Träumen wieder, und er sieht das wutverzerrte Gesicht des Soldaten vor sich und seine Augen, die „aus dem Kopf springen“.

Die Familie besteht aus der Mutter und seinen zu dieser Zeit drei Geschwistern. Der Vater hat in Heidelberg Betriebswirtschaft studiert und arbeitet als Manager in Saudi-Arabien. Er kehrt nur im Urlaub für ein paar Wochen nach Haifa zurück. Mahmud führt ein halbwegs normales Leben, besucht ein Gymnasium und legt Ende der 1990er Jahre erfolgreich die Abiturprüfungen ab. Die Mutter ahnt, dass der Friede zwischen Palästinensern und Israelis, den das Oslo-Abkommen von 1993 gestiftet hat, brüchig ist. Kurz vor Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 schickt sie Mahmud nach Deutschland, wo seine Großeltern leben. Sie möchte ihn davor bewahren, dass er noch einmal in Gefahr gerät und die alten Wunden wieder aufbrechen. Er ist ein körperlich schmächtiger, intelligenter junger Mann, der die Möglichkeit erhalten soll, unter der Obhut der in Deutschland lebenden Teile der Familie zu studieren und sich eine Zukunft aufzubauen.

Im Jahr 1999 kommt er nach Deutschland und wohnt zunächst bei den Großeltern mütterlicherseits, die in den 1960er Jahren aus dem permanenten Kriegszustand in Palästina nach Deutschland geflohen sind. Da seine Mutter und die Großeltern bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, erhält auch er problemlos einen deutschen Pass. Er verfügt nun über zwei Pässe: väterlicherseits über einen israelischen, mütterlicherseits über einen deutschen. Anders als viele andere Flüchtlinge muss er nicht um sein Bleiberecht kämpfen. Als Mahmud sich an der FH in Darmstadt einschreiben will, weist man ihn dennoch ab, weil er 16 Jahre alt ist und erst mit 18 Jahren zum Studium zugelassen werden kann. Er lernt Deutsch und überbrückt die Wartezeit mit Gelegenheitsarbeiten. Er erledigt Gartenarbeiten und räumt in einem Supermarkt Regale ein. Zwischendurch hängt er rum und lebt in den Tag hinein. Er verliert den Kompass, der seiner Lebensbewegung bisher die Richtung gewiesen hat, und gerät ins Trudeln. Er kommt mit Haschisch in Berührung und raucht ab und zu einen Joint. Er fährt ohne Führerschein Auto und einmal wird er mit gestohlenen Sachen erwischt, die er für jemand anderen transportiert. Er erhält Geldstrafen. Im Jahr 2001 wird er 18 Jahre alt, aber vor lauter Warten hat er das Ziel des Studiums aus den Augen verloren. Doch die Familie besteht darauf, und so beginnt er schließlich im Jahr 2006 an der Fachhochschule Darmstadt Elektrotechnik zu studieren. Er wohnt allein, aber im Nachbarhaus lebt seine ältere Schwester, die nach den ersten strafrechtlich relevanten Zwischenfällen ein Auge auf ihn hat und sich um ihn kümmert.

Ende 2007 möchte er seinen anderen Großvater in Mörfelden besuchen und bei ihm übernachten. Da er den ersten Bus verpasst, ist er gezwungen, an der Bushaltstelle auf den nächsten zu warten, der kurz nach 22 Uhr fahren soll. Irgendwann kommen aus einer gegenüber gelegenen Kneipe drei kahlköpfige und in Leder gekleidete Männer und überqueren die Straße, um zu ihren dort abgestellten Motorrädern zu gelangen. Sie unterhalten sich laut und lachen grölend. Es ist ein Gruppenlachen, das – so hat es Klaus Theweleit formuliert – häufig den Totschlag einleitet und begleitet. Die Männer sind sichtlich alkoholisiert und auf Krawall gebürstet. Und sie verfügen über eine feine Witterung für die Wahrnehmung von kleinsten Zeichen der Differenz. Als sie das Wartehäuschen passieren und Mahmud dort stehen sehen, erkennen sie in ihm sofort den Fremden. Das böse Genie für die Abweichung, bis heute ein Teil der deutschen Mentalität, schließt aus dunklen Haaren, Bart und Gestus, dass „der da“ nicht „Unsereiner“ ist und also „hier nichts verloren hat“. Sie fallen zu dritt über ihn her, schlagen ihn zusammen und treten, als er am Boden liegt, mit den Stiefeln auf ihn ein und gegen seinen Kopf. Währenddessen stoßen sie rassistische Beschimpfungen aus. Irgendwann wird Mahmud schwarz vor Augen. Neben der Kneipe, aus der die Männer gekommen sind, steht ein Imbisswagen. Davor stehen Leute und essen in aller Ruhe ihren Döner. Niemand springt ihm bei oder kümmert sich um ihn. Nachdem die Männer von ihm abgelassen haben und Mahmud sich wieder aufgerappelt hat, ruft er seinen Cousin an, der ihn ins Krankenhaus fährt. Er hat Angst, Anzeige zu erstatten, und gibt an, gestürzt zu sein und sich die Verletzungen selbst zugezogen zu haben. Monate später muss sein Kiefer operiert und gerichtet werden, den ihm die Männer mit ihren Schlägen und Tritten mehrfach gebrochen haben.

Nach dieser Attacke ist er ein anderer. Er ist verstört, schreckhaft und extrem ängstlich. „Die Sicherheit war weg. Ständig hatte ich Angst, dass jemand hinter mir ist“, sagt er. Als ich ihm von Jean Améry erzähle und ihm eine Passage aus dessen Buch Jenseits von Schuld und Sühne vorlese, in der er über die Folgen der in Auschwitz erlittenen Folter berichtet, stimmt er sichtlich ergriffen zu: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Das in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen. Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“

Eine besondere Wucht erhält die rassistische Attacke dadurch, dass nun die alte, leidlich vernarbte Wunde wieder aufbricht und sich wie ein Verstärker an die aktuelle Erfahrung anschließt. Plötzlich ist all das Verschüttete wieder da. Wie auf einem doppelt belichteten Foto schieben sich die Bilder des israelischen Soldaten und der deutschen Angreifer übereinander. In der Folgezeit wird Mahmud mehrfach für Monate in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Man diagnostiziert eine posttraumatische Belastungsstörung und verabreicht ihm Medikamente. Während eines Urlaubs aus der Psychiatrie begleitet er einen seiner Brüder nach München, wo dieser ein Auto abholen will. Sie werden von der Polizei kontrolliert und man findet in Mahmuds Taschen eine winzige Menge Haschisch. Es wird gegen ihn ermittelt und die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittel-Gesetz. Sein Anwalt legt gegen die Verurteilung zu drei Monaten Gefängnis Rechtsmittel ein. Wiederholt muss er wegen dieser Haschisch-Sache und der Revisionsverhandlung nach München reisen. Einmal erwischt man ihn im ICE ohne gültigen Fahrschein. Wieder verurteilt man ihn zu einer Haftstrafe auf Bewährung. Aus verschiedenen Einzelstrafen wird anlässlich einer neuerlichen Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis schließlich eine Gesamtstrafe von 15 Monaten gebildet. Der Haftantritt verschiebt sich immer wieder, weil Ärzte Zweifel an seiner Haftfähigkeit anmelden. Beim vierten Mal wird diese Bescheinigung nicht mehr ausgestellt. Ein Haftbefehl wird erlassen, und als Mahmud von einem Besuch der Mutter in Israel zurückkehrt, wird er am Flughafen festgenommen. Zehn Monate verbringt er in einem Frankfurter Gefängnis.

Nach seiner Haftentlassung zieht er nach Mörfelden in die Nähe seiner Großeltern. Zum Studieren oder Arbeiten ist er psychisch und körperlich nicht imstande. Nach wie vor befindet er sich in psychiatrischer Behandlung und nimmt täglich einen Cocktail aus verschiedenen psychoaktiven Substanzen zu sich. Er ist in seiner Motorik spürbar verlangsamt und wirkt nach wie vor ängstlich und schreckhaft. Bei der kleinsten unverhofften Bewegung zuckt er zusammen. Er meidet jeden Blickkontakt, seine Gestalt ist gebeugt und eingesunken. Er verrichtet seine Gebete und geht an Freitag in die Moschee. Er ist ein gläubiger, aber kein fanatischer Muslim. Eine ältere Nachbarin nimmt sich des seltsamen jungen Mannes an. Im Gegenzug schleppt er ihr die Einkäufe die Treppe hinauf. Ab und zu lädt sie ihn zum Essen ein. Bei einer dieser Gelegenheiten lernt er den Sohn der alten Dame kennen. Dieser ist ein vierschrötiger und ruchloser Typ, der mindestens mit einem Bein im kriminellen Milieu steht. Vom Alter her könnte H. Mahmuds Vater sein. Mahmud sehnt sich nach einem Vater. Er lässt sich willfährig von H. vor seinen Karren spannen. Mangel an Anerkennung ist für die Seele, was Hunger für den Magen ist. Das macht Mahmud anfällig für Verführungen. H. möchte Mahmud als Drogenkurier einsetzen. Mahmud kann dem erwachsenen und selbstbewusst auftretenden Mann gegenüber nicht Nein sagen und so gerät er ins Gravitationsfeld krimineller Machenschaften. In der Folgezeit transportiert er im Auftrag von H. mehrfach größere Mengen Amphetamine von hier nach dort. Die Polizei kommt ihnen auf die Schliche. Ein größerer Transport nach Berlin wird überwacht und bei der Übergabe des Stoffs erfolgt der Zugriff. Mahmud wird festgenommen. Ein vom Gericht zurate gezogener Gutachter kann keinen kausalen Zusammenhang zwischen Mahmuds zweifellos vorhandener psychischen Störung und den Drogengeschäften erkennen und erklärt ihn für schuldfähig. Er wird zu rund sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

2014 tritt er seine Haft an. Sein Status im sozialdarwinistischen Milieu des Gefängnisses ist prekär. Hier geben diejenigen den Ton an, die stark und skrupellos sind, über eine feine Witterung für Angst und Schwäche verfügen und mit Stärke und Härte darauf reagieren. In den Augen vieler Mithäftlinge ist Mahmud der Inbegriff dessen, was sie „Opfer“ nennen. Sie treiben ihre Späße mit ihm und fordern ihn auf, endlich „ein Mann“ zu sein. Die grobe Körperlichkeit der anderen macht ihm Angst. Er zieht sich zurück und versucht, den Mitgefangenen aus dem Weg zu gehen. Was für das Gros der Gefangenen gilt, gilt nicht für alle und jeden. Ein Gefangener mit arabischem Migrationshintergrund nimmt sich seiner an und sorgt für ihn wie für einen Bruder. Als er die Anstalt verlässt, macht er mich auf Mahmud aufmerksam und bittet mich darum, mich um ihn zu kümmern.

Mahmud träumt davon, nach der Haft sein Studium zu beenden. Er weiß, dass das ein großer Schritt für ihn sein wird und dass er bis dahin noch eine Menge Hindernisse zu überwinden hat. Einmal in der Woche trifft er eine externe Therapeutin, die mit ihm den Versuch unternimmt, sich den Traumatisierungen zu nähern und so die Knoten in seiner Biographie zu lösen. Ein Kollege aus dem allgemeinen Vollzugsdienst, der sich seine Sensibilität und Mitleidsfähigkeit durch etliche Dienstjahre hindurch bewahrt hat, hat Mahmud unter seine Fittiche genommen und führt mit ihm eine Art Selbstbewusstseinstraining durch. Er versucht ihm beizubringen, wie er die sichtbaren Spuren seiner Ängstlichkeit aus seinem Körper- und Gesichtsausdruck zurückdrängen kann. So oft es ihm seine Dienstpflichten erlauben, übt er mit ihm, wie man einigermaßen selbstsicher geht, blickt und laut und vernehmlich spricht. So etwas lernt man nicht in der Ausbildung. Die Initiative dieses Beamten ist ein Produkt seiner Menschlichkeit und seines Gespürs für Notlagen der Gefangenen, für die er verantwortlich ist.

Mahmud nimmt in der anstaltseigenen Schlosserei an einem Schweißer-Kurs teil. Es geht ihm, wie er selbst sagt, darum zu lernen, wie man getrennte Dinge zusammenfügen und zu einer Einheit verbinden kann. Das Zusammenschweißen von Metallteilen nährt Mahmuds Hoffnung, dass der Riss, der durch seine Seele und sein Leben geht, sich schließen könnte. Auch wenn an der Stelle der Zusammenfügung der Teile eine Narbe bleibt, die sogenannte Schweißnaht. Damit wird auch er leben müssen. In seiner gegenwärtigen Verfassung könnte er im moralischen Tierreich der Markt- und Konkurrenzgesellschaft nicht überleben. Er drohte vom Rudel verstoßen und totgebissen zu werden. Er wird nach geschützten Räumen suchen müssen, in denen er vielleicht den Weg zurück zu einem normalen Leben und zum „Weltvertrauen“ finden kann. Dazu benötigt er Zeit und tragfähige Beziehungen zu Menschen, die es gut mit ihm meinen.


[«*] Dr. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang des Jahres sein neues Buch „Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ erschienen. Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten.

[«1] Name zum Schutz verändert

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