Die Flucht vor der Realität
Auf Einladung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker trafen sich an diesem Wochenende die Staatschefs von zehn EU-Staaten und den drei Balkanstaaten Albanien, Mazedonien und Serbien. Heraus kam ein 17-Punkte-Plan, der unter anderem vorsieht, dass auf der Balkanroute Internierungslager für 100.000 Flüchtlinge gebaut werden. Die Ursachen der Flucht waren in Brüssel mal wieder kein Thema und auch zum Thema Finanzierung gab es keine ernsthafte Diskussion. Wieder einmal agiert die EU an der Realität vorbei – und zwar meilenweit. Von Jens Berger
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Um den EU-Mini-Gipfel zu bewerten, ist es zunächst einmal sinnvoll, sich die Wünsche und Motive der Beteiligten vor Augen zu führen. Auch wenn die Flüchtlinge selbst bei den Verhandlungen nicht Subjekt sondern Objekt waren und sind, stehen sie doch im Mittelpunkt der gesamten Debatte. Ginge es nach ihnen, wäre es natürlich primäres Ziel, die Fluchtursachen abzuschaffen. Dies steht nicht auf der politischen Tagesordnung. Sekundäres Ziel für die Flüchtlinge ist es daher, dass sämtliche Länder ihrer Transitroute die Grenzen öffnen und sie in das Land durchwinken, in dem sie Asyl beantragen wollen – meist sind dies Deutschland und Schweden. Deutschland wiederum hat jedoch kein Interesse an Flüchtlingen und somit auch kein Interesse an einem „Durchwinken“. Schon immer wünschte sich die Regierung in Berlin, dass weniger Flüchtlinge das Land erreichen und die Drecksarbeit des Internierens, Aussortierens und Abschiebens möglichst bereits weit vor der deutschen Südgrenze von anderen Staaten vorgenommen wird. Dies ist schließlich Kern des Dublin-Verfahrens, das die EU-Asylmodalitäten regelt. Davon ist übrigens auch die aktuelle Regierung nie abgewichen, auch wenn der rechte Flügel von CDU und CSU dies gerne so darstellen. Aller freundlichen Außendarstellung zum Trotz hat Angela Merkel nie „die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet“. Sie hat lediglich die normative Kraft des Faktischen akzeptiert, indem sie Dublin für syrische Kriegsflüchtlinge einseitig außer Kraft gesetzt hat.
Sicher, ein großer Teil der Deutschen hat Sorgen wegen der gewaltigen Flüchtlingsströme. Deutschland ist jedoch – Pegida und allen Unkenrufen zum Trotz – auch ein in Kern empathisches Land. Man will weder Robbenbabys noch Flüchtlinge leiden sehen und wenn dies doch unvermeidlich ist, dann bitte in einem Land, über das man sich selbst voll des gerechten Zorns moralisch erheben kann. Dies ist übrigens auch der Eckpfeiler der europäischen Asylpolitik – die humanitären Probleme werden an die Peripherie in Ungarn, Lampedusa und Lesbos ausgelagert, so dass wir mit uns im Reinen sind und in Sonntagsreden Solidarität predigen können. Wenn es also heute im besten Neusprech um „besseren Informationsaustausch“ und ein „gemeinsames Management der Migrationsströme“ geht, dann geht es doch eigentlich darum, die Flüchtlinge bereits auf ihrer Transitroute festzusetzen und die Drecksarbeit an die Transitstaaten auszulagern.
Die Transitstaaten selbst haben naturgemäß andere Interessen als Deutschland. Am liebsten wären ihnen, dass sie die Flüchtlinge möglichst schnell und leise an ihr – meist nördliches – Nachbarland weiterreichen können. Die Flüchtlinge wollen nach Deutschland? Fein, dann soll sich doch Deutschland auch um sie kümmern. So sagt es beispielsweise frank und frei der ungarische Premier Orban und hinter vorgehaltener Hand dürften auch seine Kollegen aus den Transitstaaten so denken. Hätte jeder betroffene Staat die gleiche Stimme, stünde Deutschland mit seinem Wunsch allein auf weiter Flur. Doch so einfach ist es natürlich nicht. Albanien, Mazedonien und Serbien wollen schon bald EU-Vollmitglieder werden und können dieses Ziel nicht gegen Deutschlands Willen erreichen. Die EU-Balkanstaaten wiederum haben aufgrund der EU-Gesetze keinen nennenswerten Hebel auf Deutschland und müssen im Zweifel sogar damit rechnen, dass Deutschland und Österreich ihre Grenzen komplett dichtmachen und sie mit der Krise im Regen stehen lassen. Wenig überraschend war daher auch das Ergebnis des EU-Mini-Sondergipfels. Deutschland konnte sich zwar in den wichtigsten Punkten durchsetzen. An der dramatischen Lage wird sich dadurch jedoch auch nichts ändern.
Auf Deutschlands Wunsch werden nun entlang der Fluchtrouten Lager errichtet, in denen die Flüchtlinge konzentriert werden … die – Sprache ist schon was Feines – sogenannten „Hot Spots“. In diesen Lagern sollen die Flüchtlinge dann auch registriert werden und man will vor Ort auch gleich über den Asylantrag entscheiden. Wird der Antrag abgelehnt, sollen die Flüchtlinge sofort wieder abgeschoben werden. Wird der Antrag angenommen, soll … ja, was dann? Dafür haben die beteiligten Staaten, sagen wir es mal vorsichtig, noch keine Lösung. Und so lange kein europäischer Verteilungsschlüssel existiert, werden die anerkannten Flüchtlinge wohl oder übel in den Lagern bleiben müssen. Klar, „so“ schaffen wir das. Aber ist es mit dem Grundrecht auf Asyl zu vereinbaren, anerkannte Asylbewerber in einem Lager auf dem Balkan zu internieren? Diese Frage stellt sich nicht. Solange man die Asylbewerber von den deutschen Grenzen fernhält, gilt schließlich auch nicht das deutsche Grundgesetz.
Und schon sind alle glücklich: Die Bundesregierung, weil sie weniger Flüchtlinge aufnehmen muss. Die Transitstaaten, weil die Internierungslager von Geberländern finanziert werden und sie sich als vorbildliche Europäer präsentieren, die das umsetzen, was Berlin will. Und nicht zuletzt die deutsche Öffentlichkeit, weil das Elend weiter wegrückt und sie sich moralinsauer über die bösen Transitstaaten aufregen kann. Nun gut, die Flüchtlinge können mit dieser Lösung natürlich nicht glücklich sein, aber sie werden wohlweislich ja auch gar nicht gefragt.
So weit, so schlecht. An der Realität wird dieser Vorstoß jedoch nichts ändern. Bis zum Jahresende sollen 50.000 Internierungsplätze geschaffen werden … ein Großteil davon auf dem nicht mehr genutzten Olympiagelände in Athen. Momentan strömen jedoch pro Woche alleine 48.000 Flüchtlinge über die Ägäis nach Lesbos. Die Gesamtkapazität der Lager puffert also noch nicht einmal eine Woche lang den Ansturm. Hinzukommt, dass die Flüchtlinge nicht in Internierungslager auf dem Balkan, sondern in ein mitteleuropäisches Land wollen. Freiwillig werden sie diese Lager also nicht betreten und einen großen Bogen um die offiziellen „Transitzonen“ machen. Kein Flüchtling ist schließlich so dumm, wie die CSU es gerne hätte.