Datenschutz, made by A. Merkel
Wer sich (wie ich) immer wieder mit schleichendem Wandel beschäftigt, findet selten verlässliche „Daten“ für seine Thesen. Unsere kulturelleren Orientierungsrahmen (die sog. „shifting baselines“) ändern sich üblicherweise still und langsam, meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Daher betrachtete ich es als einen großen Glückfall, dass ausgerechnet Angela Merkel als Kronzeugin für diese Form des gesellschaftlichen Wandels zitierfähig wurde.
Auf einer Autofahrt von Stuttgart in den Schwarzwald hörte ich im Radio einen Auszug aus ihrer Rede anlässlich der Eröffnung des „Zentrums für Forschung und Vorausentwicklung der Robert Bosch GmbH“ („Bosch-Campus“). Vielleicht war dies einer der Fälle, in denen ein sich selbst steuerndes Auto ein echter Sicherheitszugewinn gewesen wäre. Denn ein Satz dieser Rede irritierte mich massiv. Ich dachte nur: Was passiert hier gerade vor unser aller Augen? Endlich einmal wurde der Wandel unsere Referenzrahmens sichtbar. Von Stefan Selke[*].
Der neue Forschungscampus des Traditionsunternehmens Bosch soll nach Aussage von Angela Merkel „neue Maßstäbe“ setzen (alle folgenden Zitate stammen aus der Rede von Frau Dr. Merkel). Er wurde am 14. Oktober 2015 in Renningen bei Stuttgart eingeweiht. Das ist wichtig für unser Land, denn Forschung ist schließlich der „Schlüssel zum anschließenden wirtschaftlichen Erfolg“. Soweit die Festrede, wie immer, alles erwartbar.
Nun geht es aber am Bosch-Campus auch „darum, dass mithilfe vieler Daten neue Produkte entstehen können“. Wir befinden uns in der schönen neuen Welt von ‚Big Data’. War das nicht auch die Welt, in der Werkzeuge entstanden, mit deren Hilfe, das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin abgehört wurde? Nun aber singt eben diese Kanzlerin das Hohelied des entfesselten Datenflusses. Ihre Vorstellung von der Ökonomisierung digitaler Daten – „Datenschutz, made by A. Merkel“ – hörte sich dann so an, ich zitiere:
„Unser Verhältnis zu Daten ist in vielen Fällen zu stark vom Schutzgedanken geprägt (…) und vielleicht noch nicht ausreichend von dem Gedanken, dass man mithilfe von Daten interessante Produkte entwickeln kann. Mit einer falschen Gewichtung entsteht aber auch die Sorge, dass durch Digitalisierung einerseits Arbeitsplätze wegfallen und auf der anderen Seite nicht genügend neue Arbeitsplätze entstehen. Deshalb muss das ‚Data Mining’ (…) die Erhebung und der Umgang mit großen Datenmengen, etwas werden, das sozusagen ein Hoffnungssignal sendet.“
Dieses Hoffnungssignal soll dafür sorgen, dass Deutschland bei „Rückständen, die wir im IT-Bereich an einigen Stellen durchaus haben“ wieder aufholt. Denn wie die Kanzlerin fast schon süffisant bemerkt, „die in Indien schlafen auch nicht“.
Können Unternehmen wie Bosch nun auf eine Lockerung des Datenschutzes im Sinnes eines volkswirtschaftlichen Standortvorteils rechnen? Fast hört es sich so an. „Wir werden versuchen, durch unsere politische Arbeit Ihre noch erfolgreicher zu machen“ verspricht die Bundeskanzlerin (Politik) den anwesenden Bosch-Vertretern (Wirtschaft).
Warum klingt das alles so beunruhigend?
Dafür gibt es drei Gründe:
- Erstens wissen wir längst, dass sog. Nebenfolgengesellschaften immer stärker von den ökologischen, ökonomischen und sozialen Nebenfolgen ihrer bisherigen wissenschafts- und technikgetriebenen Erfolge beeinflusst werden. Diese Folgen können nicht mehr allein mit dem bisherigen Modell von Immer-mehr-Wissenschaft und Immer-mehr-Technologie behandelt werden. Daten hin oder her. Hinter diese Grunderkenntnis der „reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck) kann man eigentlich nicht mehr zurücktreten. Deswegen sind immer neue „High-Tech-Strategien“ der Bundesregierung eher Ausdruck stabiler Realitätsverweigerung. Das bisherige Modell von Wissenschaft und Technik stößt zunehmend an seine Grenzen. Ein überholtes Wissenschaftssystem braucht neue Leitbilder, um seinen gesellschaftlichen Aufgaben in Zukunft gerecht zu werden. Die Dominanz einer unmittelbaren wirtschaftlich-technologischen Verwertungsorientierung („zum anschließenden wirtschaftlichen Erfolg“) missachtet die Tatsache, dass die Herausforderungen der Zukunft v.a. kulturelle und kommunikative sind. Dies setzt ein revidiertes Innovationsverständnis voraus und damit das Zusammenspiel technologischer und sozialer Innovationen bzw. die Einbettung technologischer Entwicklungen in sozio-kulturelle Kontexte. Davon aber ist am neuen Bosch-Campus nichts zu bemerken. Mit einem Wissenschaftsleitbild, das noch aus den 1970er Jahren stammt, lassen sich aber die Probleme der Zukunft noch nicht einmal angemessen erfassen, geschweige denn lösen.
- Zweitens bedeutet die Dynamisierung der globalen Wirtschaft und der damit zusammenhängenden Wertschöpfungsketten nicht automatisch, dass es keine Alternative zu einem industriezentrierten Leitbild innerhalb der Forschungspolitik gibt. Unternehmen profitieren in großem Umfang von Fördergeldern – Geldern, die aus dem Portemonnaie des Steuerzahlers stammen. Die Bürgerinnen und Bürger werden aber viel zu selten (so gut wie nie!) am Agenda-Setting für Themen im Bereich „Forschung und Entwicklung“ (FuI) beteiligt. Stattdessen sitzen unternehmensnahe Lobbyisten (am praktischsten ehemalige Manager) in den Gremien, die z.B. beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über die Forschungslinien und die Vergabe von Fördergeldern entscheiden. Eine Wissenschaft, die statt des „Mehrwerts“ für die Unternehmen eher den Mehrwert für die Bevölkerung im Blick hätte („public value“), gibt es leider noch nicht. Als Legitimation für intransparente Forschung ohne basisnahe Demokratie reicht es immer noch aus, einfach auf den „Rohstoff Wissen“ zu verweisen, der in Deutschland angeblich unsere einzige Chance für die Zukunftssicherung darstellt.
- Drittens wird in den Zitaten von Angela Merkel der lockere Umgang mit Entgrenzungen deutlich, der heute wie selbstverständlich zum Selbstdarstellungsrepertoire vermeintlich „fortschrittlicher“ Politikerinnen und Politiker gehört. Es scheint beim informationellen Vampirismus allein darum zu gehen, „moderne“ und „interessante“ Produkte zu schaffen. Dafür müssen Daten aus möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern „gesaugt“ werden. Auch hier reicht es aus, dass Schreckgespenst des auf der Lauer liegenden Inders zu skizzieren, um einen fast schon totalitär anmutenden Bruch unserer kulturellen Matrix zu legitimieren.
„Disruptive“ Technologien wie Big Data verändern schleichend und langfristig die Regeln des Zusammenlebens. Wir freuen uns über die vermeintlichen Gewinne, die uns Rabattprogramme für personenbezogene Daten suggerieren. Wir ergötzen uns am lächerlichen Zuwachs von Bequemlichkeit durch Automation als einer Form von Wohlstandsverswahrlosung durch „smarte“ Kühlschränke, Häuser und demnächst auch Autos. Und dabei werden wir blind für den Preis, denn wir dafür zahlen oder bald zahlen werden.
Angela Merkel hat es klar und deutlich auf den Punkt gebracht: Unser Schutzimpuls ist zu ausgeprägt.
Das klingt fast wie ein Befehl, ein Befehl zum Rückzug aus der Kuschelecke informationeller Selbstbestimmung. Wer in Zukunft noch Privatheit fordert, muss sich als Fortschritts- und Modernisierungsverweigerer an den Pranger stellen lassen, weil er oder sie verhindert, dass „interessante Produkte“ von Bosch und anderen Firmen entwickelt werden können.
Aber wer fragt eigentlich noch nach, für wen diese Produkte „interessant“ sind? Wohl am ehesten doch für die Unternehmen selbst, die sie absetzen. Brauchen wir wirklich diese „interessanten Produkte“ als „Hoffnungssignal“? Oder ist dies nur Ausdruck eines Blicks auf eine Leerstelle, dorthin, wo es früher einmal politische Utopien gab? Fällt Politikern wirklich nichts anderes mehr ein, als die ideologisch grundierten Wachstums- und Fortschrittsmythen nachzubeten, mit denen Unternehmen liebäugeln – und dabei wie bislang üblich auf die großzügige Förderung durch Steuergelder hoffen?
Hätte Frau Merkel zumindest irgendeine Vision von „public value“ und würde sie diese nur annähernd in den Mittelpunkt ihrer Rede gestellt haben, ihr Grußwort hätte sich wohl ein wenig anders angehört:
„Unser Verhältnis zu Daten ist in vielen Fällen zu stark von den Interessen von Unternehmen geprägt. Zwar lassen sich mithilfe von Daten interessante Produkte entwickeln, aber nicht jede Möglichkeit verpflichtet zu ihrer Nutzung. Mit einer falschen Gewichtung entsteht aber auch die Sorge, dass durch ‚Data Mining’ (…) elementare Bürgerrechte erodieren. Bei der Erhebung und dem Umgang mit großen Datenmengen müssen die Interessen einzelner Unternehmen hinten angestellt werden. Eine derartige ‚moralische Orthopädie’ ist ein Hoffnungssignal, gerade auch für ein Land, das weltweit Vorreiter in der Wissensarbeit sein möchte.“
Bleibt abschließend zu fragen: War es Leichtsinn oder Absicht? Warum gab und gibt es keinen Aufschrei in einem Land, dessen Bundeskanzlerin öffentlich die Aufweichung des Datenschutzes proklamiert? Unterhalb der Wahrnehmungsschwelle war diese Aussage jedenfalls nicht. Man musste nur zuhören.
[«*] Stefan Selke vertritt das Lehrgebiet “Soziologie & Gesellschaftlicher Wandel” an der Hochschule Furtwangen. Er selbst bezeichnet sich als „Soziologe und Experte für Mogelpackungen“.