Von der „Willkommenskultur“ zur Fremdenabwehr?
Zuwanderung als Bewährungsprobe des Wohlfahrtsstaates
Ulrike Herrmann hat in einem Kommentar der taz (v. 12.10.2015) davor gewarnt, Steuererhöhungen zwecks Bewältigung der aktuellen „Flüchtlingskrise“ ins Gespräch zu bringen, weil damit Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten geleitet würde. Christoph Butterwegge widerspricht der renommierten Journalistin: Seines Erachtens war die Gelegenheit nie günstiger, um Steuererhöhungen auf Kapitalerträge, Vermögen und große Erbschaften durchzusetzen, als derzeit. Er plädiert dafür, die vermehrte Zuwanderung als schlagendes Argument für die Notwendigkeit einer Umverteilung des Reichtums von oben nach unten zu nutzen, und hält es für eine Illusion zu glauben, man könne die Kosten der Aufnahme, Unterbringung und Verpflegung von Asylsuchenden leugnen oder herunterspielen.
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Die künftigen Auswirkungen der Zuwanderung auf den Wohlfahrtsstaat werden je nach politischer Grundüberzeugung, Weltanschauung und religiösem Bekenntnis unterschiedlich beurteilt: Während die einen vor einer finanziellen Überforderung, wenn nicht gar einem drohenden Kollaps der sozialen Sicherungssysteme warnen, betonen die anderen, dass dem Staat gar keine zusätzlichen Kosten entstünden, weil die Zuwanderer überwiegend hochqualifiziert seien und künftig als Unternehmer oder Arbeitnehmer in die Sozialversicherungen einzahlten, auf jeden Fall aber Steuern entrichteten. Eine neurechte Position, die Anhänger bis in linke Kreise hinein gewonnen hat, unterstellt schließlich, dass Immigration zwar gut situierten Einheimischen nützt, weil diese fortan leichter billige Arbeitskräfte, Hauspersonal und Dienstboten fänden, sozial benachteiligten Einheimischen aber enorm schade, weil diese auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Heiratsmarkt noch mehr Konkurrenz bekämen.
Mittels der „sozialen Differenzhypothese“ suchen sich Rechtspopulisten in der Flüchtlingsdiskussion als eigentliche Vertreter des Volkes, der abhängig Beschäftigten und der sozial Benachteiligten zu profilieren. Richtig daran ist, dass Bund, Länder und Gemeinden zumindest in nächster Zeit mit enormen finanziellen Belastungen rechnen müssen. Einwanderungsland zu sein bedingt im Falle der Bundesrepublik zweifellos, monetäre Ressourcen von Einheimischen zu Migrant(inn)en umleiten zu müssen, weil diese ihren Lebensunterhalt größtenteils nicht sofort selbst bestreiten können und zudem durch fragwürdige gesetzliche Bestimmungen daran gehindert werden, eine Arbeit aufzunehmen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass „deutschen Familien“ harte finanzielle Opfer auferlegt werden müssen, wie uns rechte Demagogen glauben machen wollen. Geld ist nämlich genug da, es ist nur ungerecht verteilt und befindet sich häufig in den falschen Taschen.
Rassismus durch mehr Konkurrenz?
Zwar ist der Rassismus in letzter Konsequenz auf die Konkurrenz zurückzuführen. Gemeint ist damit aber nicht, dass eine persönliche Konkurrenzsituation von Deutschen gegenüber ausländischen Zuwanderern rassistische Ressentiments hervorruft, sondern dass die Konkurrenz als Struktur- und Gestaltungsprinzip der kapitalistischen Gesellschaft solche Aus- und Abgrenzungsideologien, die den geistigen Kristallisationskern des Rechtsextremismus bilden, tendenziell begünstigt. Andernfalls dürfte es unter den hiesigen Großunternehmern, Kapitaleignern und Spitzenverdienern überhaupt keinen Rassismus geben.
Die unschönen historischen Parallelen beschränken sich nicht auf rechte Straßengewalt gegen Flüchtlinge bzw. deren Heimunterkünfte in Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992) und Heidenau (August/September 2015), sondern lassen sich auch im Hinblick auf die Einschränkungen des Asylrechts im Frühjahr 1993 (Änderung des Art. 16 GG: Einführung der verfolgungsfreien Herkunftsstaaten und der sicheren Drittstaaten sowie der Flughafenregelung) und im Herbst 2015 (Erklärung des gesamten Westbalkans zur sicheren Herkunftsregion, Verlängerung der Unterbringung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften und Stärkung des Sachleistungsprinzips) ziehen. Heute gehen die Gesetzesänderungen zwar schneller, aber nicht ganz so weit. Dass die Bundesrepublik in dem seither vergangenen Vierteljahrhundert zu einem „normalen“ Einwanderungsland mit weniger institutionellem Rassismus geworden wäre, kann man schwerlich behaupten. Zu befürchten ist vielmehr, dass sich die in Windeseile durch Bundestag und -rat gepeitschten „Asylpakete“ häufen werden.
Die jüngsten Debatten über Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik erinnern an eine Doppelstrategie, der sich die Vorsitzenden der Unionsparteien gemäß der polizeilichen Arbeitsteilung zwischen „good cop“ und „bad cop“ bedienen: Angela Merkel verkörpert das liberale, weltoffene Deutschland, Horst Seehofer verwirklicht die Abschottungspläne der konservativen Hardliner im Regierungslager. Wieder beteiligt sich auch eine Oppositionspartei an dem unwürdigen Schauspiel: War es damals die SPD, in der opportunistische Kräfte die Oberhand behielten, so sind es heute die Bündnisgrünen, denen das Staatsinteresse an einem rigideren Asylregime offenbar mehr am Herzen liegt als Prinzipientreue, die eigene Parteiprogrammatik und die Bedürfnisse der Flüchtlinge.
Auffällig ist, dass Regierungspolitiker und Rechtspopulisten die ansonsten verachtete deutsche Unterschicht und die angeblich von männlichen Glaubensgenossen bedrohte Muslima gegen die „Fremden“ in Schutz nehmen, ganz so, als seien die Armutsbekämpfung und die Emanzipation der Frau ihr ureigenstes Anliegen. Dieses Argumentationsmuster zeigt, wie verlogen die gegenwärtige Debatte über Integrationsdefizite und -verweigerung der Zuwanderer ist. Statt über die Probleme zu lamentieren, welche die Flüchtlinge machen, sollte mehr über die Probleme nachgedacht werden, welche sie haben und was Deutschland – beispielsweise mit Waffenexporten – zu ihrer Entstehung beigetragen hat!
Einen berühmten Satz des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann abwandelnd, kann man sagen, dass wir fast alles, was wir über die nach Deutschland gelangenden „Flüchtlingsströme“ zu wissen glauben, den Medien entnehmen. Fernsehbilder dunkler Menschenmassen, die seit Wochen tagtäglich ins Wohnzimmer deutscher Durchschnittsbürger gesendet, monothematisch aufbereitet und mit der sich womöglich selbst erfüllenden Prophezeiung eines „Stimmungsumschwungs“ von der Willkommenskultur zur Flüchtlingsabwehr verbunden werden, wirken auf Dauer noch bedrohlicher als das unsägliche Gerede von der „globalen Völkerwanderung“, welches Angst erzeugt und erzeugen soll. Den zuletzt genannten Kampfbegriff der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry könnte man ebensogut zum Unwort des Jahres küren wie den regierungsoffiziösen Begriff „Flüchtlingskrise“, der davon ablenkt, dass nicht die Geflüchteten eine reiche Aufnahmegesellschaft wie Deutschland in Bedrängnis bringen, sondern migrations-, beschäftigungs-, bildungs-, sozial-, gesundheits- und wohnungsbaupolitische Versäumnisse von Bund, Ländern und Kommunen.
Schreckensvisionen und Kosten-Nutzen-Rechnungen
Glaubt man den Horrorszenarien anerkannter Demografen, wird die Bevölkerung der Bundesrepublik in Zukunft erschreckend rasch schrumpfen und Deutschland aufgrund der hohen Lebenserwartung und des Geburtenrückgangs stark altern. Da müsste ihm die Flüchtlingspopulation aufgrund ihrer „vorteilhafteren“ demografischen Struktur eigentlich gerade recht kommen: Wegen des überdurchschnittlich hohen Anteils an Jüngeren und der relativ geringen Anzahl Älterer dürfte sie das deutsche Sozialsystem auf längere Sicht ent- statt belasten. Warum sollte es unter diesen Voraussetzungen des bestehenden gesellschaftlichen Interesses und des existierenden politischen Durchsetzungswillens der Kanzlerin („Wir schaffen das!“) einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Industrienation, die seit jahrzehnten ihre „Vergreisung“, einen drastischen Bevölkerungsrückgang und die Entleerung ganzer Landstriche beklagt, eigentlich nicht gelingen, pro 100 Einwohner/innen einen oder auch zwei Flüchtlinge ordentlich unterzubringen und einzugliedern? Schließlich beherbergt die Türkei relativ zur eigenen Bevölkerungszahl fast zehn Mal so viele Flüchtlinge wie Deutschland und der Libanon beinahe hundert Mal so viele.
Tatsächlich begrüßt manch einer Zuwanderer als demografische Lückenbüßer eines schrumpfenden Volkes und als Lösung für das vermeintliche Problem des Fachkräftemangels „unserer“ Wirtschaft. So wird eine Betrachtungsweise hoffähig, die Ausländer und Minderheiten wie Obdachlose, Drogenabhängige oder Behinderte einer volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung unterwirft, was – meist ungewollt – den Nährboden für rassistische Positionen bereitet. Denn ein Rassist hat gar nichts gegen Ausländer, wenn sie „uns“ nützen, sondern nur, wenn sie „uns ausnützen“. So befanden sich nie mehr Ausländer im Deutschen Reich als während der NS-Diktatur: Millionen „Fremd-“ bzw. Zwangsarbeiter sollten den Wohlstand der „deutschen Volksgemeinschaft“ sichern.
Wird die Inanspruchnahme wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wie der Sozialhilfe seitens einheimischer und zugewanderter Personengruppen verglichen, stellt man bereits nach einem Zeitraum von fünf Jahren eine Übereinstimmung der Geldbeträge fest. Aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen Verfolgte und Flüchtlinge, die größtenteils aus umkämpften Bürgerkriegsgebieten wie Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia und dem Irak kommen, sind also selbst dann keine „Asylschmarotzer“, wenn sie vorübergehend Transferleistungen in Anspruch nehmen müssen. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer begibt sich mit seinem Satz „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt“ auf das Stammtischniveau der NPD, von der er diese Parole entlehnt hat.
Steuerflüchtlinge statt Bürgerkriegsflüchtlinge bekämpfen!
Gleichwohl stellen Flüchtlinge das Sozial- und Gesundheitssystem der Bundesrepublik auf eine harte Bewährungsprobe. Eine noch stärkere finanzielle Belastung als die momentan hierzulande Schutz suchenden Menschen bilden für Deutschland aber jene Wirtschaftsflüchtlinge, die ihm den Rücken kehren, um Schwarzgeld in Steueroasen wie Monaco, Luxemburg oder Liechtenstein anzulegen. Auch was dem Fiskus durch die Bilanzmanipulationen global agierender Konzerne jährlich an Einnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe entgeht, würde allemal die Kosten für die Aufnahme, Unterbringung und Verpflegung ausländischer Flüchtlinge in Deutschland decken. Deshalb müssen die zahlreichen Steuerschlupflöcher für Privilegierte endlich geschlossen und die Grenzen für Steuerflüchtlinge dichtgemacht, aber nicht die Fluchtkorridore auf dem Balkan und die Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende versperrt werden!
Diese auf den ersten Blick paradox erscheinende Gegenüberstellung verweist auf ein Wahrnehmungsdefizit, das von der extremen Rechten bis zur bürgerlichen Mitte in Deutschland reicht: Viel bedeutsamer als der üblicherweise hochgespielte Innen-außen-Gegensatz zwischen Einheimischen und Zuwanderern ist der Oben-unten-Gegensatz, von dem jener nur ablenkt und vermutlich auch ablenken soll. Wenn deutlich mehr Personen als bisher auf Transferleistungen angewiesen sind, müssen die Hilfesysteme gestärkt, mehr staatliche Mittel dafür bereitgestellt und Steuererhöhungen für wohlhabende und reiche Bürger enttabuisiert werden. Würde es Angela Merkel mit ihren Sätzen „Das Asylrecht kennt keine Obergrenze“ und „Wir schaffen das!“ ernst meinen, müsste sie schnellstens Abschied von ihrem fiskalpolitischen Dogma „Keine Steuererhöhung, und zwar für niemanden!“ nehmen.
Nur wenn Besserverdiener und Vermögende hierzulande mehr (oder überhaupt) Steuern zahlen, kann der Staat den Besitzlosen – deutschen ebenso wie ausländischen – wirksam unter die Arme greifen. Es geht dabei jedoch nicht um einen „Flüchtlings-Soli“, den alle Bürger/innen zahlen müssten, sondern um eine Reichensteuer, die den Namen auch wirklich verdient, also eine höhere Besteuerung von Gutbetuchten, Erben großer Vermögen und Spitzenverdiener. Wann, wenn nicht jetzt, genauer: im Zeichen einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die – angebliche oder wirkliche – Mehrbelastung des Staatshaushalts durch „massenhafte Flüchtlingsströme“ dreht, soll die skandalöse Verteilungsschieflage hierzulande denn angegangen werden? Ein besseres Argument für die Notwendigkeit der Verwirklichung größerer Steuergerechtigkeit als den Hinweis, dass Gering- und Normalverdiener/innen keinesfalls für mittellose Flüchtlinge zahlen dürfen, wenn „Sozialneid nach unten“ vermieden und rechte Gewalt eingedämmt werden soll, Wohlhabende und Reiche aber viel stärker in die Pflicht für das sonst noch mehr auseinanderdriftende Gemeinwesen genommen werden müssen, gibt es nicht.
Keine falschen soziale Fronten aufbauen und Arme nicht gegen noch Ärmere ausspielen!
Wie die Forderungen nach Aussetzung des seit Jahresbeginn geltenden Mindestlohns und nach Aufhebung des Verbots der Leiharbeit für Flüchtlinge zeigen, missbrauchen Neoliberale und Wirtschaftslobbyisten die gegenwärtige Zuwanderung, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für eine Rückkehr zum unbeschränkten Lohndumping zu schaffen. Solch perfide Versuche, arme Deutsche gegen noch ärmere Flüchtlinge auszuspielen, bergen enormen politischen Zündstoff in sich, weil davon nicht bloß der Rechtspopulismus à la Pegida und AfD profitieren, sondern die Entrechtung von Asylsuchenden auch Leistungskürzungen für Einheimische nach sich ziehen und als Experimentierfeld für eine generelle Absenkung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland dienen kann.
Alle sozial Benachteiligten haben in Wahrheit ein gemeinsames Interesse am weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Es ist schließlich eine gefährliche Illusion zu glauben, deutsche Hartz-IV-Bezieher/innen und deutsche Rentner/innen hätten mehr Geld zu erwarten, wenn die Grenzen geschlossen und Zuwanderer abgewehrt würden. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass Parteien und Politiker, die den Flüchtlingen das Existenzminimum am liebsten noch mehr beschneiden würden, ihr Füllhorn über anderen, ebenfalls armen Bevölkerungsgruppen ausschütten?
Die steigende Anzahl der Asylsuchenden macht die Umverteilung des Reichtums von oben nach unten zur ersten Politikerpflicht. Auch die öffentliche Armut, unter der die Handlungsfähigkeit des Staates im Bereich von Migration und Integration spürbar leidet, wenn den Bundesländern nicht genug Erstaufnahmekapazitäten zur Verfügung stehen und hoch verschuldete Kommunen unter den Kosten der Flüchtlingsunterbringung stöhnen, könnte durch eine höhere Steuerbelastung der Wohlhabenden und Reichen beseitigt werden. Diese wurden seit der Vereinigung ständig weiter begünstigt – genannt seien nur die Aussetzung der Vermögensteuer, die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, mehrere Senkungen des Einkommensteuer-Spitzensteuersatzes und der Körperschaftsteuer (für Kapitalgesellschaften), die Einführung der Abgeltungssteuer (auf Kapitalerträge) sowie die Privilegierung der Unternehmerfamilien bei Erbschaft- und Schenkungssteuer. Die zuletzt genannte Bevölkerungsgruppe hat in den vergangenen sechs Jahren so viel Betriebsvermögen steuerfrei am Staat vorbei an ihre Nachkommen übertragen, dass dieser nach DIW-Angaben 45 Mrd. Euro mehr eingenommen hätte, wenn Firmenerben genauso stark zur Kasse gebeten worden wären wie die Erben von Immobilien, Wertpapieren und Kunstgegenständen. Ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der als Bundesfinanzminister mit seinem schrittweise verwässerten Gesetzentwurf maßgeblich dafür gesorgt hat, dass sich daran auch künftig wenig ändert, will die Transferleistungen für Geflüchtete senken und Asylberechtigten nicht den „normalen“ Hartz-IV-Regelsatz zahlen. Von der erwähnten Geldsumme könnte man übrigens weit mehr Flüchtlingen als bisher einen sorgenfreien Start in Deutschland ermöglichen …
Sozialstaat vor dem Kollaps?
Häufig werden Parallelen zur deutschen Vereinigung gezogen, wenn es um die Bewältigung der momentanen „Flüchtlingskrise“ geht. Hier folgt ein weiterer Vergleich: Nach dem 3. Oktober 1990 mussten auf einen Schlag Millionen zusätzlicher Altersrenten an Ostdeutsche gezahlt werden, ohne dass sie vorher auch nur eine D-Mark in die Gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten. Die ausländischen Zuwanderer unserer Tage müssen hingegen erst jahrzehntelang arbeiten und Beiträge entrichten, bevor sie – wenn überhaupt – eine vergleichbar hohe Rente erwartet.
Nennenswerten Mehrbelastungen sind folglich nicht die Sozialversicherungen ausgesetzt, deren Einnahmenseite durch (sozialversicherungspflichtig beschäftigte) Zuwanderer sogar gestärkt wird, sondern nur das steuerfinanzierte Fürsorgesystem, dessen höhere Ausgaben die Unternehmen, Kapitaleigner und Aktionäre tragen müssten, weil sie von der Zuwanderung entweder durch eine bessere Versorgung mit Arbeitskräften und/oder durch bessere Absatzchancen für die eigenen Produkte auf dem Binnenmarkt profitieren. Nötig ist eine kräftige Anhebung von Kapitalertrags- und Gewinnsteuern, die hierzulande im OECD-Vergleich ohnehin extrem niedrig sind.
Da es sich bei der Bundesrepublik in Bismarck’scher Tradition um einen Sozialversicherungsstaat handelt, hängt die gesellschaftliche Inklusion von Zuwanderern entscheidend von deren Integration auf dem Arbeitsmarkt ab. Um diese zu fördern und möglichst zu beschleunigen, sollten die von der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern zurückgefahrenen Eingliederungsleistungen und Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung wieder einen größeren Stellenwert erhalten. Sonst droht die Zahl der Arbeitslosen und der Hartz-IV-Bezieher/innen erneut stark zu steigen, nachdem man sie im Konjunkturaufschwung auch mittels statistischer Taschenspielertricks deutlich gesenkt hatte.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Mitglied der dortigen Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt). Zuletzt hat er die Bücher „Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung“, „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ sowie „Hartz IV und die Folgen“ veröffentlicht.