Anmerkungen zum Impuls-Papier des SPD-Parteivorstands: „Starke Ideen für Deutschland 2025“
Die SPD-Spitze hat vor einigen Wochen ein „Impulspapier“ veröffentlicht, das eine „Perspektivdebatte“ anstossen und auf einem „Perspektivkongress“ am 11. Oktober 2015 in Mainz diskutiert werden soll.
Wer einen Text veröffentlicht, muss damit rechnen, dass er gelesen wird. Bei jedem Text muss mindestens einer sich Mühe machen: der Autor, in diesem Fall wohl besser der Absender oder die Leserin und der Leser. Im Idealfall beide.
Im konkreten Fall müssen alle, die den Text lesen, sich grosse Mühe geben, weil sie mit einer Gedankenwelt und einer Sprache zu tun haben, die neue Massstäbe dafür setzt, wie man einen programmatischen politischen Text der SPD nicht schreiben sollte.
Eigenlob und Selbsttäuschung, Formelsprache und mangelndes Geschichtsbewusstsein, Begriffswirrwarr und blinde Flecke bei zentralen Fragen ergeben eine Mischung, die auch hart gesottene, professionelle Leser politischer Texte herausfordert.
Dieser „Impuls“ braucht Widerspruch, damit er keinen dauerhaften Schaden anrichtet.
Ich werde an Beispielen aus jedem der neun Kapitel des Impuls-Papiers deutlich machen, was aus meiner Sicht schräg ist und nicht stimmt, was fehlt und wo vernebelt statt aufgeklärt wird. Dabei versteht sich, dass der Text auch vieles Richtige enthält. Das macht ihn aber nicht aus. Von Christoph Habermann[*].
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Zur „Vorbemerkung“
Das „erfolgreiche Mitgliedervotum“, das mit Dreiviertel-Mehrheit den Eintritt der SPD in die Grosse Koalition gebilligt hat, wird charakterisiert als
„der Beginn eines neuen Selbstverständnisses der SPD. Wie keine andere Partei in Deutschland ist es der SPD gelungen, die eindeutige Unterstützung der Mitglieder für die Regierungsarbeit zu gewinnen.“
Das sind grosse Worte. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus.
Das Mitgliedervotum ging über den Regierungseintritt und konnte keine Unterstützung für die „Regierungsarbeit“ sein, allenfalls ein Vertrauensvorschuss darauf.
Umfragen der letzten Monate deuten darauf hin, dass die Mitglieder der SPD mit der Arbeit ihres Vorsitzenden in der Regierung und in der Partei – das lässt sich bei der personellen Konstellation nicht recht auseinanderhalten – eher wenig zufrieden sind. Auch die Ergebnisse der Sonntagsfrage zeigen über alle demoskopischen Institute hinweg keinen Regierungs-Bonus für die SPD.
Dazu kommt ein grundsätzliches Problem des „erfolgreichen Mitgliedervotums“.
Die Befürworter und die Gegner der Regierungsbeteiligung der SPD haben unter ganz ungleichen Bedingungen für ihre Überzeugung gekämpft.
Die ganze Spitze der SPD hat mit allen Mitteln der hauptamtlichen Organisation und der technischen Möglichkeiten für den Eintritt in die Grosse Koalition geworben.
Von den mailing-Aktionen der Generalsekretärin und des Vorsitzenden über den „Vorwärts“, die Leitung und die Redner/innen bei den Regionalkonferenzen bis hin zu dem mit den Abstimmungsunterlagen verschickten Material wurden so gut wie ausschliesslich Argumente für die Regierungsbeteiligung verbreitet. Eine solche Praxis ist weit entfernt von tatsächlicher gleichberechtigter Beteiligung und Entscheidung aller Mitglieder.
In Zukunft müssen bei einem Mitgliederentscheid Befürworter und Gegner auf allen Ebenen und auf allen offiziellen parteiinternen Kommunikationskanälen die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Argumente darzulegen und für ihre Empfehlung zu werben. Sinnvoll und notwendig wäre es, in einer kleinen Broschüre, die allen Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen mit den Wahlunterlagen geschickt wird, die unterschiedlichen Positionen gleichberechtigt einander gegenüber zu stellen. Das entspricht der Praxis bei Volksabstimmungen in der Schweiz, die weltweit am meisten Erfahrungen hat mit direkter Demokratie.
Zu „Zehn gute Gründe für die Diskussion mit und in der SPD“
(1) Was ist eine „emanzipierte Volkspartei“?
Von wem hat sie sich emanzipiert? Wann war das? Woran merkt man das?
War sie bisher unterdrückt? Versklavt? Abhängig? Von wem?
(3) „Die SPD will die moderne Gesellschaft.“
Gibt es nur die eine und sonst keine? Für modern halten sich und hält sich vieles.
Was Mode ist und was modern, was Zeitgeist und was auf der Höhe der Zeit, dafür braucht man Massstäbe und Ziele. „Die moderne Gesellschaft“ gibt es nicht. Der politische Streit geht darum, was modern ist oder sein soll.
(6) „Unternehmen müssen Geld verdienen.“
Ja, das stimmt. Warum steht da aber nicht auch:
„Arbeitnehmer müssen Geld verdienen“.
Das stimmt nämlich auch.
Gewinne sind Voraussetzung für Investitionen und Ausschüttung.
Arbeitnehmer-Einkommen sind Kosten eines Unternehmens und Nachfrage für alle anderen.
(7) „Die SPD will Einkommen erhöhen.“
Was heisst das?
Will Sie die Steuern und Abgaben für Niedrigverdiener senken, die in Deutschland relativ gesehen überdurchschnittlich viel bezahlen?
Will sie den Mindestlohn erhöhen?
Will Sie in Städten und Ländern, in denen Sie in politischer Verantwortung ist, Kinderbetreuerinnen und Pfleger besser bezahlen?
(8) „Die SPD überwindet falsche Gegensätze und öde Glaubenskriege zwischen Industrie und Umwelt.“
Ja, die gibt es auch, und die zu überwinden ist richtig.
Im Kern gilt aber: Was ökologisch nicht zu verantworten ist, darf ökonomisch nicht profitabel sein. Das ist Aufgabe der Politik. Das ist Aufgabe der SPD. Ihre besondere Aufgabe liegt darin, die ökologische Frage so zu beantworten, dass die soziale Frage sich nicht schärfer stellt.
Zu „2. Sozialdemokratische Politik unter veränderten Bedingungen“
Auf Seite 6 lesen wir:
„Die Sozialdemokratie war immer ein Zukunftsprojekt. Das muss sie auch jetzt wieder werden.“
Ja, ja, ein Zukunftsprojekt. Wie das Leben – nach vorne gelebt und nach hinten verstanden. Bis zum Tod. Aber: Parteien müssen nicht sterben. Manche bringen sich selber um. Hinterm Horizont geht’s weiter. Die Zukunft kommt, egal, wer was tut.
Die SPD muss ein Gegenwartsprojekt haben, wenn sie Zukunft haben will. Ein Gegenwartsprojekt für eine gute Zukunft für alle. Dafür muss man wissen, was man will und wissen für wen, mit wem und gegen wen man humanen und sozialen Fortschritt durchsetzen kann und muss.
Auf Seite 6 lesen wir, die SPD sei die „moderne Gesellschaftspartei der Bundesrepublik“.
Was ist das, eine „moderne Gesellschaftspartei“?
In der Türkei wurde 2005 die „Demokratische Gesellschaftspartei“ (DTP) gegründet und 2009 vom Verfassungsgericht verboten.
In Schweden gibt es die „Christdemokratische Gesellschaftspartei“.
Wo ist der Zusammenhang? Oder ist es so etwas wie ein modernes Gesellschaftsspiel, dass man, für welche Politik auch immer, neue Namen sucht: Volkspartei, Partei der linken Mitte, Partei der neuen Mitte, Gesellschaftspartei, progressive Partei, emanzipierte Volkspartei?
Weiter auf Seite 6 lesen wir:
„dass die Erwerbsbiographien der angestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt weniger stabil und berechenbar geworden sind.“
Das ist doch kein Naturgesetz. Das ist das Ergebnis praktischer Politik, die sich an anderen Interessen als denen der Beschäftigten orientiert. Die SPD war an vielem massgeblich beteiligt:
Deregulierung des Arbeitsmarkts für mehr Leiharbeit, Werkverträge, sachgrundlose Befristung; Deregulierung der Finanzmärkte, Steuersenkung zugunsten der Wohlhabenden und Steuerprivilegien für Grossunternehmen.
Bei manchem hat sie sich inzwischen eines Besseren besonnen, an anderem hält sie leider noch immer fest.
Wir lesen weiter:
„Nun sind neue Instrumente der Wählerbindung gefragt.“
„Wählerbindung“ entsteht, wenn Parteien etwas zu bieten haben, Vertrauen wecken:
Ideen, die Zuversicht und Hoffnung vermitteln, Vorschläge machen, Antworten geben auf Sorgen und Ängste. Es geht um praktisches Handeln im Interesse von Menschen, nicht um Instrumente. Instrumente ersetzen keine Politik.
Weiter lesen wir:
„Die Auflösung der klassischen sozialen Milieus“ sei „eine grosse Chance für die SPD, weil überkommene Gesellschaftsstrukturen nicht mehr zementiert sind.“
Unter den „Zehn guten Gründen“ am Beginn des Impuls-Papiers ist die Rede davon, wie wichtig Sicherheit und der Schutz vor Risiken sind. Nicht jede Auflösung eines klassischen Milieus ist ein Fortschritt. Ja, es gibt falsche Sicherheit, die am Ende niemandem nutzt. Schutz vor Risiken, politische Begleitung und Abmilderung von Veränderungen ist aber notwendig. Zementierung oder Schutz: Das ist die falsche Alternative.
Auf Seite 7 lesen wir:
„Heute gibt es z.B. bekennende homosexuelle Politikerinnen und Politiker in allen politischen Lagern. Deutlicher kann sich der Fortschritt zu mehr Liberalität und Offenheit der Gesellschaft kaum ausdrücken.“
Doch. Politiker/innen sind nicht das Mass der Dinge. Der schwul lebende Fachverkäufer und die lesbisch lebende Mechatronikerin sind bessere Beispiele, die gewachsene Liberalität zu charakterisieren. Übrigens: Bekannte Fussballspieler trauen sich, bis auf einen, immer noch nicht, weil sie Sanktionen fürchten.
Weiter auf Seite 7:
„Die Zukunft einer progressiven Partei liegt indes nicht in der Rückschau auf das Erreichte oder gar im Bedauern über das Verschwinden ihrer Trägerschichten. Veränderung ist Teil ihrer Identität.“
Was ist eine „progressive Partei“? Wie verhält sie sich zur „modernen Gesellschaftspartei“?
Wenn die „Trägerschichten“ einer Partei verschwinden, dann verschwindet auch die Partei. Die Partei verschwindet auch dann oder wird stark geschwächt, wenn sie ihre Trägerschichten nicht mehr kennt oder nichts mehr für sie tut. „Trägerschichten“ suchen sich manchmal neue Parteien, der umgekehrte Fall ist viel seltener und noch schwieriger.
Weiter lesen wir auf Seite 7:
„..weil nationale Umverteilungspolitik durch Steuern längst ihre Grenzen gefunden hat…“
Ja, es gibt Grenzen für nationale Umverteilung durch Steuerpolitik, aber in Deutschland sind wir von diesen Grenzen weit entfernt:
Beim Spitzensteuersatz, bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften, bei der Vermögensteuer, bei der Erbschaftsteuer.
Da ist national viel Luft nach oben, wenn der politische Wille da ist. Professor Lorenz Jarass hat erst vor wenigen Tagen eine ganze Palette konkreter steuerlicher Regelungen vorgeschlagen, die Bundestag und Bundesrat beschliessen könnten, ohne an die Grenzen nationaler Handlungsmöglichkeiten zu stossen.
Zu „3. Deutschland ist ein starkes Land.“
In diesem Kapitel mischen sich Eigenlob und Selbsttäuschung besonders intensiv. Schlimm, wenn eine Partei die Dinge platt, einfach, verfälschend darstellt, schlimmer, wenn sie der eigenen Propaganda glaubt, weil das die Grundlage für die nächsten Fehler schafft.
Auf Seite 8 lesen wir:
„Das Durchschnittswachstum lag höher als in jedem anderen grossen Euroland. Die Arbeitslosigkeit ist auf ein historisches Tief gefallen. Die Schuldenquote ist gesunken. Der Staatshaushalt ist ausgeglichen.“
Das sollen die Massstäbe sein, an denen gemessen Deutschland wirtschaftlich stark dasteht?
- Kein Wort dazu, dass das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt der letzten Jahre nur gering gewachsen ist, in den anderen Ländern aber noch geringer. Wenn man andere Zeiträume wählt und dann vergleicht, sieht die Situation noch weniger günstig aus.
- Kein Wort dazu, dass Deutschland Jahr für Jahr mehr Überschüsse im Aussenhandel erzielt, die spiegelbildlich andere Länder mit Defiziten bezahlen müssen. Das verstösst gegen das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, gegen die Regeln der EU, trifft auf scharfe Kritik des IWF und vieler international renommierter Ökonomen und ist tatsächlich ein auf Dauer untragbarer und nicht durchzuhaltender Zustand.
- Kein Wort dazu, dass das angebliche „Jobwunder“ ausschliesslich auf Umverteilung der Arbeit zurückzuführen ist. 1991 lag das gesamte Arbeitsvolumen bei 60.261 Millionen Stunden, 2000 bei 57.960 Millionen Stunden und im Jahr 2014 waren es 58.461 Millionen Stunden. Das heißt: Die Zahl der Arbeitsplätze ist dadurch gestiegen, dass es weniger Vollzeit-Arbeitsplätze und mehr Teilzeitarbeitsplätze gibt.
Im Jahr 2014 wünschten sich nach den Ergebnissen der „Arbeitskräfteerhebung“ rund 6 Millionen Menschen in Deutschland Arbeit oder mehr Arbeitsstunden.
Neben den offiziell Arbeitslosen und der sogenannten stillen Reserve wollten 14,9 Prozent, also jede(r) siebte Teilzeitbeschäftigte länger arbeiten.
- Kein Wort dazu, dass der ausgeglichene Staatshaushalt nur für den Bund gilt, während viele Länder und vor allem Kommunen grosse finanzielle Probleme haben.
- Kein Wort dazu, dass deutlich mehr öffentliche Investitionen – über die erfreulichen Fortschritte, die es gegeben hat, hinaus – notwendig sind und über zusätzliche Steuereinnahmen oder über Kredite mit Zinsen näher an 0 als ein Prozent finanziert werden könnten und sollten.
Auf Seite 8 lesen wir weiter:
„Kaum jemand bezweifelt heute noch, dass für diese beeindruckende Entwicklung unseres Landes die von der SPD vor zehn Jahren in schwierigen Zeiten durchgeführten Reformen eine der wesentlichen Grundlagen waren.“
Doch, viele bezweifeln das. Sie haben auch gute Argumente.
Viele der „Reformen“ hatten deformierenden statt reformierenden Charakter. Viele in der SPD wussten das schon damals und waren deshalb nicht einverstanden. Andere haben es im Laufe der Zeit gelernt. Das scheint jetzt wieder verloren zu gehen.
Die Deregulierung der Finanzmärkte, die Abschaffung wichtiger Schutzregeln für den Arbeitsmarkt und der soziale Abstieg in die „Grundsicherung“ bedeuteten in den vergangenen zehn Jahren für Millionen Menschen mehr Unsicherheit und weniger Lebenschancen.
Steuersenkung für die Wohlhabenden und ein grosser Niedriglohnsektor als ausdrückliches politisches Ziel haben zu wachsender sozialer Ungleichheit geführt.
Viele Ökonomen und Arbeitsmarktforscher weisen darauf hin, dass die im europäischen Vergleich günstigere deutsche Entwicklung bei den Arbeitsplätzen stark mit dem demografisch bedingten Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter, mit der Verteilung des Arbeitsvolumens auf mehr Köpfe und mit immer grösseren Exportüberschüssen zu tun hat.
Weiter lesen wir auf Seite 8:
„Wir haben die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag nicht beseitigt -…“
Donnerwetter! Wenn das keine Leistung ist. Nicht einmal die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie hat die SPD geschleift. Wer hätte das gedacht!
Warten wir – hoffnungsvoll und sorgenvoll zugleich – ab, was das Bundesverfassungsgericht zum „Tarifeinheitsgesetz“ sagen wird.
Auf Seite 9 lesen wir:
„Deutschland hat den Aufbruch in die kulturelle Moderne vollzogen.“
Wann war das genau?
Zu „4. Eine Welt voller Unsicherheiten.“
Auf Seite 9 lesen wir:
„… so wirkt Russland heute autokratisch und aussen- wie innenpolitisch aggressiv.“
Stimmt es nicht, dass viele Aufgaben und Probleme in Europa und in der Welt nicht ohne Russland und erst recht nicht gegen Russland gelöst werden können?
Warnen Egon Bahr, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl und viele andere nicht zu Recht vor einer Dämonisierung Putins und vor einer ganz einseitigen Wahrnehmung und Darstellung der russischen Politik? Tragen EU und NATO überhaupt keine Verantwortung für die Situation?
Auf Seite 10 lesen wir:
„… in der Alltagswahrnehmung verbindet sich aktuell wieder mehr und mehr das Thema Zuwanderung mit dem Import von Unsicherheit statt mit einer richtigen und planbaren Strategie zur Bewältigung des demografischen Wandels in Deutschland.“
Ja, Ängste vor Zuwanderung wachsen, und ja, Ängste muss man auch dann Ernst nehmen, wenn man sie nicht oder nur teilweise für berechtigt hält.
Kurzfristig sind die Möglichkeiten, die Zahl der Flüchtlinge zu verringern, sehr begrenzt. Niemand sollte da falsche Erwartungen wecken. Genauso falsch ist es, Flüchtlinge in erster Linie unter wirtschaftlichen Nutzen-Überlegungen zu betrachten. Was müssen die Menschen in Deutschland denken, die zum Teil seit Jahren arbeitslos sind, die keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben? Warum kümmert man sich nicht zuerst um sie, bevor man sich um gezielte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt kümmert?
Das beste Mittel gegen Ängste vor Zuwanderung ist eine Politik des sozialen Ausgleichs, die dafür sorgt, dass es bezahlbare Wohnungen, Kita-Plätze, Sozialarbeiter in Schulen, Qualifizierung, öffentlich geförderte Beschäftigung für alle gibt, die darauf angewiesen sind. Wenn der Eindruck entsteht, dass für Flüchtlinge Geld da ist, das
denen, die seit vielen Jahren in schwierigen Verhältnissen in Deutschland leben, vorenthalten worden ist und wird, dann ist das sozialer Sprengstoff.
Gelingende Integration hat viel mit ausreichenden öffentlichen Mitteln und öffentlichen Leistungen und ihrer gerechten Verteilung zu tun.
Die wachsende Zahl von Flüchtlingen ist ein weiteres Argument für mehr sozialen Ausgleich und dafür, dass starke Schultern mehr tragen sollten als schwache.
Ungerechtigkeit führt zu Unsicherheit, zu Angst und Wut, die zu Hass und Gewalt werden können.
Auf Seite 11 lesen wir:
Auch in der Innenpolitik gebe es Themen, die grosse Unsicherheit verbreiten. Genannt werden neben Alltagskriminalität und dem wachsenden Druck auf die arbeitende Mitte unserer Gesellschaft:
„Das tägliche Erleben von Menschen mit niedrigem Einkommen, dass sich ihre Lebensbedingungen trotz harter Arbeit nicht verbessern.“
Ja, das stimmt, passt aber nicht zum Hochglanzbild vom „starken Land“ unter 3., in dem alles gut und immer besser läuft.
Was hat die SPD diesen Menschen anzubieten? Es soll offenbar möglichst kein Geld kosten, wie immer das gehen soll.
„Die SPD ist gut beraten, die Antwort darauf (auf die Frage, woher die Ressourcen kommen) nicht vorschnell mit dem Ruf nach höheren Schulden oder höheren Steuern zu geben.“
Ist die SPD gut beraten, die niedrigen Steuersätze für Spitzenverdiener, den Verzicht auf Vermögensteuer, die Privilegierung der Eigentümer von Unternehmen bei der Erbschaftsteuer zum Mass aller Dinge zu erklären?
Ist es vorschnell zu überlegen, ob Steuersätze wie in anderen Ländern oder wie zu Zeiten von Helmut Schmidt und Helmut Kohl durchaus vernünftig und zumutbar sein könnten?
Soll es weiter so sein, dass im internationalen Vergleich Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge relativ mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen als Grossverdiener?
Wäre die SPD nicht gut beraten, darüber nachzudenken – natürlich nicht vorschnell – wie das Steuersystem ökologischer gestaltet werden kann: Umweltschädliche Subventionen und Steuervergünstigungen abschaffen und die Belastung von Böden, Wasser und Luft stärker belasten.
Steuerdumping soll bekämpft werden, aber:
„Dabei geht es nicht darum, möglichst hohe Steuern zu erheben.“
Nein, es geht darum, Recht und Gesetz durchzusetzen und nicht zuzulassen, dass Konzerne, die Millionen an Steuerkanzleien zahlen für immer wieder neue Umgehungstatbestände, den Staaten weiter auf der Nase rumtanzen.
Nein, es geht um ausreichende Steuereinnahmen, damit Brücken und Schienen, Schulen und andere öffentliche Gebäude nicht verkommen, damit genügend Menschen im öffentlichen Dienst arbeiten und anständig bezahlt werden: im öffentlichen Gesundheitswesen, im Arbeitsschutz und der Lebensmittelkontrolle, in Kindertageseinrichtungen und der Jugendarbeit, bei der Steuerfahndung und bei der Verfolgung aller Formen von Kriminalität.
Zu „5. Konsequenzen für die Politik der SPD.“
Auf Seite 12 lesen wir:
„Koalitionsverträge sind keine Ausrede für Nichthandeln in wichtigen Fragen.“
Wem gilt diese „gelbe Karte“? Ist das eine Selbstbezichtigung?
Auf der Suche nach Lösungen für „mehr Sicherheit in Deutschland und Europa“ sind wir
„uns dabei bewusst, dass wir keine Bilderbuchlösungen parat haben…“
Bilderbuchlösungen?
Sabine Zehnder Schlapbach aus Bern bietet einen workshop an:
„Bilderbuchlösungen. Zum Gebrauch von Bilderbüchern in der kreativen Kindertherapie – unter besonderer Berücksichtigung der Mehrgenerationenperspektive“.
Ob das gemeint ist? Sind Bilderbuchlösungen die neuen, digitalen Patentrezepte der kulturellen Moderne?
Auf Seite 13 lesen wir und das muss man wirklich genau lesen:
„Die oben genannten (Un)Sicherheitsfragen der Menschen müssen wir ansprechen und diskutieren (auch strittig) und ohne schon alle fertigen Antworten zu haben oder gar vorzutäuschen. Es stellt sich aber die Frage, wer die Führung in der Debatte zu diesen Themen übernimmt – und damit auch Verantwortung. Nicht um die Durchsetzung oder dem Werben für angeblich „alternativer Lösungsansätze“, sondern in der wertebasierten und doch gestaltbaren, unfertigen, ergebnisoffenen Debatte. Das wird eine Debatte, die in wesentlichen Passagen deutlich über die Legislaturperiode (auch über die kommende) hinausweist.“
Kann man es noch genauer und noch differenzierter sagen? Fragen über Fragen. Wer übernimmt die Verantwortung, unfertig, wertebasiert und zugleich strittig, auf jeden Fall aber über die Legislaturperiode hinaus? Wer wirbt um die Durchsetzung, ohne fertige Antworten vorzutäuschen?
Zu „6. Deutschland 2025: Grosse Herausforderungen meistern.“
Auf Seite 13 lesen wir:
„Und wo gestern noch Erze, Chemikalien, Öl und Gas die Rohstoffe der wirtschaftlichen Entwicklung waren, sind es heute mehr und mehr Daten.“
Ja, Daten werden immer wichtiger. Deshalb muss die Politik sich darum kümmern, dass Daten nicht gegen die Interessen der grossen Mehrheit der Menschen eingesetzt und genutzt werden. Das ist weit mehr als Datenschutz, das ist Teil einer Industriepolitik auf der Höhe der Zeit.
Nein, Autos und Bahnen und Flugzeuge werden nie mit Daten fahren, die brauchen Energie.
Daten können materielle Rohstoffe nie ersetzen. In der cloud kann man höchstens so schlafen wie auf Wolke sieben.
Tatsächlich geht es darum, die Ressourcenproduktivität drastisch zu erhöhen und nicht erneuerbare Ressourcen durch erneuerbare zu ersetzen. Weit über die Stromerzeugung hinaus, auch und besonders in der chemischen Industrie. Auch das muss Teil einer Industriepolitik auf der Höhe der Zeit sein.
Weiter lesen wir auf Seite 13:
„Wir ernten heute die Früchte vergangener Reformen, die verschiedene Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmer durchgeführt haben.“
Ja, in den vergangenen Jahren gab es auf manchen Feldern Fortschritt, Schritte in die richtige Richtung. Auf zentralen Feldern aber wurden die Weichen falsch gestellt, auf kurze Sicht gedacht statt langfristig tragfähig:
Die geltende Rentenformel wird in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Rentnerinnen und Rentner in Altersarmut und aufs Sozialamt treiben. Die „Riester“- Rente hält nicht, was ihre Propagandisten versprochen haben. Das Rentenniveau insgesamt steigt nicht, es sinkt. Nicht alle stehen sich besser, sondern die meisten schlechter als mit der gesetzlichen Rente früher. Sie müssen für schlechtere Leistungen mehr bezahlen.
Deutschland lebt von der Substanz. Wir lassen zu, dass die öffentliche Infrastruktur an immer mehr Stellen verkommt.
Noch immer verlassen mehr als fünf Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss.
Noch immer machen hunderttausende junge Menschen keine berufliche Ausbildung. Das wird uns in mehr als einer Hinsicht teuer zu stehen kommen.
Auf Seite 14 lesen wir:
„Wir dürfen allerdings nicht die Illusion verbreiten, gesellschaftlicher Fortschritt und eine erfolgreiche Industriegesellschaft seien ohne jedes Risiko erreichbar. Dies ist wiederholt in der Vergangenheit formuliert worden mit der Aussage: „Wenn wir uns alle wechselseitig die Haare schneiden, werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht sichern.“
Welch ein Popanz wird da aufgebaut. Die Menschen in Deutschland setzen grosse Erwartungen in Wissenschaft, Forschung und Technik. Von Technikfeindlichkeit kann keine Rede sein. Das zeigen alle empirischen Untersuchungen der vergangenen Jahre, von den einschlägigen „Eurobarometern“ bis zum „Wissenschaftsbarometer“.
Die Menschen wollen aber in ihrer grossen Mehrheit nicht Technik um der Technik willen.
Sie unterstützen Grundlagenforschung und wenn es um Praxis-orientierte Forschung geht, dann haben sie klare Vorstellungen davon, was wichtig ist: Gesundheit und Ernährung, Klima und Energie. Sie haben grosses Vertrauen in Wissenschaftler, die an Hochschulen und in öffentlichen Forschungseinrichtungen arbeiten, ihr Vertrauen in Wissenschaftler/innen, die bei Unternehmen arbeiten, ist deutlich geringer, weil die Menschen da offenbar Interessenkonflikte sehen.
All das und noch viel mehr kann man, wenn man will, in Studien lesen, bevor man Vorurteile verbreitet.
Das „wechselseitige Haare schneiden“ passt hier nicht her. Es stammt aus der Debatte über die Bedeutung von Industrie und Dienstleistungen. Das könnte man wissen.
Deutschland hat gut ein Fünftel Industrie-Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Die wachsende Produktivität der industriellen Produktion sorgt dafür, dass der Anteil der Beschäftigten in der Industrie kontinuierlich zurückgeht. Der allergrösste Teil der zusätzlichen Arbeitsplätze ist in den vergangenen Jahren bei den privaten und öffentlichen Dienstleistungen entstanden.
Die Debatte Industrie oder Dienstleistungen ist falsch. Wir brauchen beides. Für die Arbeitsplätze sind die Dienstleistungen aber wichtiger, die produktionsbezogenen, vor allem aber die personenbezogenen.
Weiter lesen wir auf Seite 14:
„Unsere Eltern und Grosseltern haben in der Vergangenheit Grossartiges geleistet und unser Land und Europa aufgebaut- …“
Ist das die ganze Geschichte? Haben sie unser Land und Europa aufgebaut?
Ja, aber nicht nur viele unserer unmittelbaren Nachbarn erinnern sich auch an anderes, davor.
Weiter lesen wir auf Seite 14:
„Über die Demografie wissen wir relativ viel, da demografische Prognosen relativ stabil zu erstellen sind.“
Das ist falsch. Man muss sich nur einmal anschauen, wie stark sich die Ergebnisse für die künftige Bevölkerungszahl gerade auf Länderebene innerhalb weniger Jahre unterscheiden. Da wird aus Schrumpfung Zuwachs, und die Zahlen verändern sich erheblich.
Die wirklichen Kenner des Themas sind übrigens bescheidener. Sie sprechen von Bevölkerungsvorausberechnungen. Da kommt am Ende das raus, was man vorne als Annahmen eingibt.
Die Annahmen sind unsicher, und deshalb sollte man nicht so tun, als sei der demografische Wandel eine Art Naturgesetz. Schon die durchschnittliche Zahl von Kindern je Frau ist höher als in den Vorausberechnungen unterstellt. Nicht 1,3 oder 1,4, sondern die Tendenz geht in Richtung 1,5 bis 1,6 Kinder je Frau. Das Max Planck-Institut für Demografie in Rostock weist seit Jahren darauf hin. Das wird aber so gut wie nicht zur Kenntnis genommen, weil Fakten für manche Argumentationen störend sind.
Auf Seite 15 lesen wir:
„In den nächsten 15 Jahren wird sich die Situation verschärfen.“ Gemeint ist der Rückgang der Bevölkerungszahl.
Die am 28. April 2015 bei einer Pressekonferenz des Statistischen Bundesamtes vorgestellte 13. Bevölkerungsvorausberechnung sagt das Gegenteil. Der Rückgang geht auf jeden Fall langsamer vor sich als früher berechnet. Viele Städte und Regionen wachsen.
Nach den beiden Haupt-Varianten 1 und 2 geht die Bevölkerungszahl bis 2030 um 1,6 Millionen zurück bzw. wächst sogar um 0,1 Millionen. Von einer Verschärfung der Situation, was immer das inhaltlich, über die Zahlen hinaus, heissen mag, kann keine Rede sein.
Auf Seite 15 lesen wir weiter:
„Dabei wird Europa noch mehr als heute auch ein Europa der unterschiedlichen Integrationsgrade, der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ werden.“
Ist das Beschreibung oder Programm? Will die SPD das oder ist das „Schicksal“? Kann man das politisch beeinflussen oder nicht? Was bedeutet das praktisch?
Zu „7. Politik aus der Mitte des Alltags: Erfolgsrezept gegen wachsenden Populismus.“
Auf Seite 17 lesen wir:
„Geopolitische Konflikte und Konflikte zwischen Zivilisationen, Religionen oder Kulturen sind ein gewaltiges Risiko für Wohlstand weltweit.“
Sind Konflikte wirklich in erster Linie „ein gewaltiges Risiko für Wohlstand“? Geht es da nicht zunächst um Leib und Leben von Millionen Menschen? Geht es nicht um Freiheit und Sicherheit?
Geht es bei Konflikten zwischen Religionen und Kulturen wirklich in erster Linie um Religion und Kultur? Stecken dahinter nicht wirtschaftliche, politische Interessen, die ethnisiert oder kulturalisiert werden und religiös verbrämt, leider oft mit Unterstützung religiöser „Führer“ und Fanatiker, und das beileibe nicht nur im Islam?
Auf Seite 18 lesen wir:
„Denn die Populisten – links wie rechts – nehmen Stimmungen und Bewertungen auf, die in der Bevölkerung weiter verbreitet sind als im tatsächlichen Wählerverhalten sichtbar wird. Der wachsende Teil der Wählerenthaltung ist ein deutlicher Fingerzeig darauf.“
Ja, die Wahlenthaltung steigt und sie ist sozial sehr ungleich verteilt wie der Blick auf Stimmbezirke in „gehobenen“ und in „einfachen“ Wohnvierteln zeigt. Das wird immer stärker zu bewusster Wahlverweigerung mit dem Ergebnis, dass Parlamente heute viel weniger repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sind als in der Vergangenheit.
Stimmungen und Bewertungen darf man nicht den „Populisten“ überlassen. Gerade politisch Verantwortliche müssen dem Volks auf´s Maul schauen, dürfen aber niemandem nach dem Mund reden.
Zu „8. Unsere Haltung: Sozial, freiheitlich und international“
Auf Seite 19 lesen wir:
„Gleichzeitig zeigt ein patriotisches Selbstverständnis unsere Identifikation mit der Zukunft unseres Landes.“
Vorsicht, vielfach vermintes Gelände. Da muss man genau sagen, was man unter „patriotisch“ und „Patriotismus“ versteht.
An Nationalgefühl und Patriotismus wird meistens dann appelliert, wenn die Innenpolitik auf äussere Feindbilder angewiesen ist, bis hin zur Vorbereitung von Krieg. Solche Appelle sind oft ein Zeichen für ungelöste soziale Konflikte, von denen abgelenkt werden soll.
Ein stark an Emotionen gebundenes Selbstverständnis wie „Patriotismus“ ist eine sehr persönliche Angelegenheit.
Für die SPD als Partei ist entscheidend, dass Vaterland und Internationalismus nicht gegeneinander gestellt werden. Wenn man sich das gesamte politische Spektrum, auch im historischen Rückblick anschaut, geht bei vielen beides nicht zusammen. Vor denen muss man sich hüten, weil sie gefährlich sind, für andere Länder und für das eigene Land.
Ich halte es mit Johannes Rau, der gesagt hat:
„Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“
Weiter lesen wir auf Seite 19:
„Mario Soares in Portugal, Felipe Gonzales in Spanien oder Francois Mitterrand in Frankreich folgten wie Willy Brandt einer patriotisch-liberalen Gesinnung im Ost-West-Konflikt.“
So unterschiedlich diese vier Männer nach Herkunft, politischer Kampferfahrung und Sozialisation waren, einer „patriotisch-liberalen Gesinnung“ (was immer das sein soll) folgte keiner von ihnen. (Übrigens: Warum wird hier Bruno Kreisky nicht genannt?)
Auf Seite 20 lesen wir:
„Die SPD war immer dann besonders erfolgreich, wenn sie fair und offen war. Fair mit Blick auf die Teilhabe am Sagen und Haben möglichst aller in unserer Gesellschaft. Und offen mit Blick auf möglichst grosse Freiheitsspielräume sowohl für die persönliche Lebensgestaltung als auch für unternehmerisches Handeln.“
Die SPD war immer dann besonders erfolgreich, wenn sie klare Überzeugungen hatte und sie auch klar vertreten hat, auch gegen den Zeitgeist. Sie war immer dann besonders erfolgreich, wenn sie Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit vertreten und nicht stattdessen von „Fairness“ geredet hat, die auch wichtig, aber etwas anderes ist.
Freiheit für die persönliche Lebensgestaltung darf man nicht gleichstellen mit Freiheit für unternehmerisches Handeln.
Unternehmerisches Handeln unterliegt weit strengeren Regeln als die persönliche Lebensgestaltung, gerade weil es so stark in die persönliche Lebensgestaltung von Millionen Menschen eingreift.
Artikel 14 unseres Grundgesetzes legt fest: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist etwas ganz anderes als die wünschenswerte soziale Rücksichtnahme bei der persönlichen Lebensgestaltung.
Auf Seite 20 lesen wir weiter:
„Dabei bekräftigen wir die Notwendigkeit einer Haltung, die den Menschen vor der Übermacht des Staates wie vor der Übermacht der Märkte schützen will.“
Der Staat hat die Aufgabe, die Freiheit und die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger zu schützen, auch vor wirtschaftlichen Interessen, die die ganze Gesellschaft zum Markt machen wollen und keine Bürgerinnen und Bürger kennen, sondern nur Kunden.
Zu „9. Unser Leitgedanke für Deutschland 2025: Sicher leben in einer offenen Gesellschaft.“
Auf Seite 21 lesen wir:
„Sicher können wir auf Dauer nicht leben, wenn Deutschland sich in Europa isoliert oder sich dem Freihandel verschliesst.“
Freihandel ist kein Wert an sich, sondern ein Instrument, das in vielen Fällen vernünftig ist, in anderen aber nicht. Freihandel darf nicht über Demokratie und Rechtsstaat stehen.
Freihandel darf mit Projekten wie TTIP weder verwechselt noch gleichgesetzt werden.
Auf Seite 21 lesen wir weiter:
„Wir wollen Sicherheit im Wandel erreichen, Zukunft und Gerechtigkeit verbinden. Wenn es dafür einen zentralen und heute hochaktuellen Begriff gibt, dann ist es die offene Gesellschaft.“
Nein, dieser Begriff ist schon deshalb untauglich, weil er mit völlig unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Inhalten gefüllt werden kann. Passepartouts gehören gerahmt an die Wand, aber nicht in die Politik.
Was wir brauchen ist die Verbindung von technischem mit sozialem Fortschritt, von Innovation und Gerechtigkeit, von Leistungsbereitschaft und sozialem Ausgleich.
Die Antwort auf wachsende soziale Ungleichheit ist eine solidarische Gesellschaft.
Auf Seite 21 lesen wir weiter:
„…Staat und Verwaltung (sollen) nicht mehr autoritär, sondern moderierend und unterstützend handeln…“
Moderieren und unterstützen ist in vielen Fällen vernünftig, verfehlt aber den Kern dessen, was staatliches Handeln ausmacht und vom Handeln aller anderen unterscheidet.
Der demokratische und soziale Rechtsstaat setzt die Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben, die für alle gelten. Er muss bereit sein und auch in der Lage, diese Regeln durchzusetzen, gegen individuelles Fehlverhalten und gegen mächtige wirtschaftliche oder andere Interessen. Im Konfliktfall muss er sanktionieren.
Das gilt für den Arbeits- und den Umweltschutz, für die Verfolgung von Wohnungseinbrüchen und Geldwäsche, für Steuerhinterziehung und Menschenhandel.
Auf Seite 22 lesen wir:
„Neue Sicherheit heisst „Null Toleranz“ bei Kriminalität und Gewalt, aus welchen Gründen auch immer…“
Warum fehlt der Hinweis darauf, dass die Kriminalität in Deutschland – entgegen dem Eindruck, der durch mediale Berichterstattung erweckt wird – in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich zurückgegangen ist?
Warum wird nicht gesagt, dass es genau so wichtig ist, die Ursachen von Gewalt und Kriminalität zu bekämpfen?
Auf Seite 22 lesen wir weiter:
„Sozialdemokraten wollen Gerechtigkeit. Fragt man, was die meisten darunter verstehen, so heisst die Antwort: Chancen- und Leistungsgerechtigkeit.“
Nein, es geht um gleiche Chancen, soweit irgend möglich, damit nicht soziale Herkunft die individuelle Zukunft bestimmt. Gerechte Chancen gibt es nicht, und die Bezahlung in Deutschland entspricht immer weniger der Leistungsgerechtigkeit. Wenn angestellte Manager inzwischen zweihundert Mal so viel verdienen, nein, bekommen, wie eine Krankenschwester, dann ist das der denkbar grösste Anschlag auf das Leistungsprinzip.
Wer das nicht ändern will, soll vom Leistungsprinzip und von Leistungsgerechtigkeit schweigen.
Auf Seite 22 lesen wir weiter:
„Wir müssen die Familienleistungen und unser Steuersystem am Kompass einer von Privilegien freien, nicht diskriminierenden und durchlässigen Gesellschaft ausrichten.“
Nein, wir müssen sagen, was wir wollen, vom Spitzensteuersatz bis zum Ehegattensplitting. Da hilft kein Kompass. Der ist ein Instrument, damit man weiss, wo Norden ist. Die Richtung und das Ziel muss man schon selber bestimmen.
Auf Seite 23 lesen wir:
„Deutschlands Investitionsschwäche und Deutschlands Investitionsabhängigkeit sind ein schwer zu erklärender Widerspruch.“
Das ist ein schwer zu verstehender Satz.
Ohne Investitionen lebt jedes Unternehmen, lebt jeder Staat, jede Stadt, von der Substanz. Deshalb hängt ihre Zukunft von ausreichenden Investitionen ab. Wenn zu wenig investiert wird, bekommen alle ein Problem.
Der Widerspruch besteht nicht zwischen Schwäche und Abhängigkeit.
Der Widerspruch liegt darin, dass der Staat in Deutschland sich aus ideologischen Gründen weigert, den dringenden Bedarf an Investitionen in Brücken, Schienen, Strassen, Schulen durch Kredite auf historisch niedrigem Zinsniveau oder durch höhere Steuereinnahmen zu decken.
Dieser Widerspruch ist so zu erklären: Es fehlt der Wille der politisch Verantwortlichen.
Auf Seite 24 lesen wir:
„Religiös-fanatische und separatistische Gewalt haben die staatlichen Ordnungen in Syrien und Libyen zusammenbrechen lassen.“
War da nicht noch anderes: Militärische Gewalt von aussen, „regime change“, „coalition of the willing“ ohne UNO-Mandat?
Haben die Regierungen der gleichen Länder nicht Jahre und Jahrzehnte je nach eigener tatsächlicher oder vermeintlicher Interessenlage mit den Machthabern eng und gut zusammengearbeitet? Waren die nicht hochgeschätzte Rohstofflieferanten und Abnehmer von Waffen aller Art, von Überwachungstechnik und von vielem anderen?
Schlussbemerkung
„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“
Georg Christoph Lichtenberg
[«*] Christoph Habermann war u.a. stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes in der Amtszeit von Bundespräsident Johannes Rau, von Ende 2004 bis 2007 war er Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit und danach Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesund, Familie und Frauen von Rheinland-Pfalz.