Newsweek über Angela Merkel – Ein Medienspiel über die amerikanische Bande
Der Aufmacher in der früher einmal links-liberal geltenden amerikanischen Wochenzeitung über einen angeblichen Links-Ruck in Deutschland kam wie gerufen. Die Sprachrohre der Reformpolitik vom „Spiegel“ über die „Welt“ bis hin zur „Zeit“ stiegen mächtig darauf ein. BILD machte sogar mit der Schlagzeile auf: “US-Magazin nennt Angela Merkel ,verlorene’ Kanzlerin”. Was unterging: Mit einer Ausnahme stammen die Meinungsmacher in Newsweek alle aus Deutschland, so etwa der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer, Zeit-Herausgeber Josef Joffe oder der BILD-Kolumnist Hugo Müller-Vogg. Autoren, die in Deutschland mit ihrer Reformeuphorie kaum noch ernst genommen werden, benutzten jetzt die USA als ihren Resonanzboden. Dazu die SZ süffisant: Das US-Spezifische der Hauptgeschichte besteht darin, dass sie von einem nach Pittsburgh ausgewanderten Deutschen auf Englisch geschrieben wurde, der offenbar seit 2001 Deutschland-Korrespondent von Newsweek ist. Seine Hauptquellen sind das Allensbach-Institut, der Forsa-Chef, Zeit-Kommentator Jörg Lau und ein in London lebender Chef-Ökonom der Bank of America mit dem Namen Holger Schmieding. Unser Leser Roger Strassburg hat einen Leserbrief an Newsweek geschrieben.
An die Redaktion der Zeitschrift Newsweek:
ich bin ein in Deutschland lebender Amerikaner, und möchte die Beiträge in der 29. Oktober Ausgabe über Reformen in Deutschland und deren mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung kommentieren.
Der Artikel von Stefan Thiel über Angela Merkel und die Reformen in Deutschland ist voller Halbwahrheiten und Klischees.
Es stimmt, dass die meisten Deutschen den Sozialstaat bevorzugen. Ich möchte aber gerne der Behauptung widersprechen, dass die Deutschen nach links rücken würden. Tatsache ist, dass sie nie wirklich nach rechts gerückt sind. Es sind ihnen vielmehr Rezepte von Rechts verkauft worden, die angeblich den Sozialstaat retten sollten. Doch diese Rezepte haben den Sozialstaat eher abgebaut, als gerettet.
Es stimmt auch, dass die deutsche Industrie wächst. Leider wachsen hauptsächlich die exportorientierten Sektoren. Märkte, die von der Binnennachfrage abhängen, stagnieren. Diese bilden über 60% des BIP. Der „unglaubliche Boom“ der deutschen Wirtschaft betrug 2006 ganze 2,9 Prozent, geschätzt werden 2,4 Prozent für 2007 und 2 Prozent für 2008 (Bloomberg.com). Das einzig Unglaubliche ist, dass dieses bescheidene Wachstum als Boom bezeichnet wird.
Es ist auch merkwürdig, in einem amerikanischen Nachrichtenmagazin zu lesen, dass einem Ökonom wegen Mindestlöhne die Haare zu Berge stehen würden. Anders als die meisten europäischen Länder und die USA hat Deutschland keinen Mindestlohn. Wo stehen in diesen Ländern den Ökonomen die Haare zu Berge? Tatsächlich sind in den Ländern, wo es Mindestlöhne gibt, mehr Wachstum und höherere Beschäftigung zu beobachten, als in Deutschland. Könnte es sein, dass höhere Löhne durch erhöhte Nachfrage die Wirtschaft ankurbeln?
Thiel führt die erhöhte Beschäftigung bei denen an, die früher wenig Chancen hatten, einen Arbeitsplatz zu finden, wie z.B. Überfünfzigjährige(!). Was er nicht sagt, ist, dass die erhöhte Beschäftigung hauptsächlich in Form von Billig-Jobs – manche für nur einen Euro (unter 3 Dollar!) in der Stunde –, und dass viele dieser Arbeitnehmer Einkommenszuschüsse vom Staat benötigen, um ihre Lebenskosten zu decken. Einkommenszuschüsse versorgen im Endeffekt Arbeitgeber mit billiger Arbeit – auf Kosten der Steuerzahler.
Apropos Steuerzahler: Von den Steuersenkungen der letzten Zeit haben nur die Wirtschaft und Besserverdiener profitiert, während Verbraucher eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent ertragen mussten. Der Spitzensteuersatz wurde reduziert, diverse Unternehmenssteuern würden gesenkt oder eliminiert. Die Hans-Böckler-Stiftung schrieb 2005, dass trotz einem nominalen Unternehmenssteuersatz von 38,7 Prozent, die tatsächliche Steuerbelastung lediglich 22,6 Prozent beträgt, weit unter dem EU-Durchschnitt von 28,8 Prozent. Trotzdem fordern die Reformprediger immer noch weitere Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche.
Angesichts dieser Verlagerung der Steuerlast von Unternehmen und Besserverdiener auf Arbeitnehmer ist es nicht schwer zu verstehen, warum Wirtschaftsführer, die normalerweise staatliche Interventionen und Subventionen als wirtschaftsschädlich betrachten, staatliche Lohnsubventionen befürworten. Arbeitnehmer finanzieren sie mit ihren Steuern, und Unternehmen profitieren davon.
An was Deutschland zur Zeit kränkelt ist nicht der vermeintliche Mangel an Konkurrenzfähigkeit im globalen Markt, sonder die fehlende Konsumnachfrage im Inland. Diese Situation würde durch die Mehrwertsteuererhöhung, die minimale Lohnentwicklung und die Verlagerung der Kosten für Gesundheit und Altersversorgung vom paritätischen, einkommensabhängigen Beitragssystem auf den Arbeitnehmer nicht besser. Da Arbeitgeberbeiträge zu Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen eigentlich Teile der Arbeitsvergütung sind, ist die Verlagerung dieser vom Arbeitgeber auf die Arbeitnehmer in Wirklichkeit eine Lohnsenkung, was die Konsumnachfrage weiter schwächt.
Die Bezeichnung der Linkspartei als „radikal“ ist übertrieben. Die Linkspartei steht politisch etwa da, wo die Sozialdemokraten früher standen. Und Lafontaine ist nicht fremdenfeindlicher als der durchschnittlicher Demokrat in den USA (und weniger als manche Republikaner). Er lehnt einfach die Praxis ab, ausländische Arbeiter auszubeuten, um inländische Löhne zu drücken. Es ist nicht der ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokraten Lafontaine, der nach links gerückt ist, sondern seine damalige Partei, die sich erheblich nach rechts bewegt hat, und das traditionelle Parteiklientel im Stich gelassen hat.
Es ist auch wahr, dass die meisten Deutschen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe ablehnen. Es ist den meisten Menschen schwer verständlich, weshalb der Verkauf öffentlicher Unternehmen unter Wert an private Anleger sinnvoll ist, zumal private Anbieter nicht nur ihre Kosten decken müssen, sondern noch obendrein einen Gewinn brauchen, was die Preise für die Verbraucher steigen lässt, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung bekommen. Wobei die Deutsche Telekom seit ihrer Privatisierung die Preise etwas reduziert hat, ist das Gegenteil in anderen Bereichen der Fall, wie bei den im Großen und Ganzen unregulierten Strom- und Gasunternehmen, deren Preise in Folge der Privatisierung und Konsolidierung erheblich gestiegen sind.
Die wirtschaftlichen „Reformen“ in Deutschland galten bisher nur Lohnkosten und Steuern. Das skurrile daran ist, dass bislang so viel Aufmerksamkeit auf die Reduzierung von Lohnkosten um ein paar Prozentpunkte gerichtet war, während die Steigung des Euro-Werts im gleichen Zeitraum um mehr als 60 Prozent, was die Preise für deutsche Exporte entsprechend steigen ließ, weitgehend ignoriert wurde – und sogar durch die restriktiven Politik der Europäische Zentralbank noch verschärft. Trotz der vermeintlich hohen Arbeitskosten und hoher Euro-Bewertung hat Deutschland einen riesigen Handelsüberschuss.
Die Deutschen sind aus einem einfachen Grund mit der Reformagenda unglücklich: Die Früchte kommen hauptsächlich einer kleinen Minderheit zugute. Ist es seltsam, dass sie mit solchen Änderungen unzufrieden sind? Würde Newsweek einen solch einseitigen Artikel schreiben, wenn es Amerikaner wären, die auf einer ähnlichen Situation in den USA reagierten? Ich glaube eher nicht.
Es ist enttäuschend zu sehen, wie Newsweek einen Journalist von der Boulevardzeitung Bild zitiert – eine Zeitung, die Werbung mit Journalismus kombiniert, wie z.B. bei einer Zusammenarbeit in letzter Zeit zwischen Bild, T-Online und der Allianz-Versicherung, wo Werbung für private Rentenversicherung mit redaktionellen Beiträgen begleitet wurde. Das ist kein seriöser Journalismus.
Dieser Artikel samt seiner „Experten-“ Meinungen ist nichts anderes als die Fortsetzung der deutschen Reformpropaganda auf amerikanischem Boden. Die Experten, deren Beiträge in dieser Newsweek-Ausgabe veröffentlicht wurden, sind Teil der Kampagne gegen den deutschen Sozialstaat: Joschka Fischer als Teil der ehemaligen Schröder-Regierung, und Hugo Müller-Vogg und Josef Joffe als Befürworter der Reformen in ihren jeweiligen Zeitungen. Es wäre viel glaubwürdiger gewesen, wenn Newsweek auch Beiträge von Nationalökonomen wie Albrecht Müller, Heiner Flassbeck, Gustav Horn oder Peter Bofinger, dem Soziologen Christoph Butterwegge, oder amerikanischen Ökonomen wie Robert Solow, Joseph Stiglitz oder Paul Krugman gebracht hätte.
Leider war ihre Reportage völlig einseitig, und berichtete nur über die Fakten, die die Reform-Propagandisten in Deutschland benutzen, um ihre Änderungen durchzusetzen – von den gleichen Sprechblasen präsentiert, die wir seit Jahren in Deutschland hören mussten.
Mit freundlichen Grüßen
Roger Strassburg