Wiederholt sich die Geschichte rassistischer Ausgrenzung und Gewalt? Von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen führt eine Linie nach Heidenau
Die jüngsten, teilweise von der NPD angemeldeten Demonstrationen und Gewaltaktionen organisierter Neonazis vor den Flüchtlingsunterkünften in Berlin-Hellersdorf und Heidenau bei Dresden erinnerten stark an die pogromartigen Übergriffe im ebenfalls sächsischen Hoyerswerda (September 1991) und in Rostock-Lichtenhagen (August 1992). Dort griffen rassistisch motivierte Jugendliche und teils zugereiste Rechtsextremisten die Anlaufstellen für Asylbewerber und die Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter unter dem Beifall vieler Anwohner mit Molotowcocktails an. Bei den tagelangen Ausschreitungen wurde zwar wie durch ein Wunder niemand getötet, aber Todesangst unter Migranten und Medienvertretern erzeugt, die in einem brennenden Wohnheim eingeschlossen wurden, als sie darüber berichten wollten, und nur mit viel Glück den Flammen entkamen. Von Christoph Butterwegge.
Hintergründe, Zusammenhänge und Folgen
Den geistigen Hintergrund für das brutale Vorgehen der Neonazis gegen Flucht- bzw. Arbeitsmigranten in Hoyerswerda und Lichtenhagen sowie dessen schockierend breite Akzeptanz unter den Anwohnern bildete eine Debatte, die sich um den angeblich massenhaften Missbrauch der Sozialhilfe durch „Wirtschaftsasylanten“ drehte. Presse, Politiker und etablierte Parteien überboten sich monatelang in der Hetze gegen Flüchtlinge, die sie zu „Asylbetrügern“ und „Sozialschmarotzern“ stempelten. Nur so ist erklärbar, dass biedere Kleinbürger, Mittelschichtangehörige und brave Familienväter dem brandschatzenden Mob vor laufenden Fernsehkameras applaudierten.
Ein paar Wochen nach dem mehrtägigen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, das überall auf der Welt pures Entsetzen auslöste, schlossen CDU/CSU, FDP und SPD auf Bundesebene den sog. Asylkompromiss. Gemeinsam schränkten sie das Grundrecht auf Asyl in der Hoffnung drastisch ein, die Flüchtlinge würden fortan einen Bogen um die Bundesrepublik machen – eine Illusion, wie man heute weiß und damals schon hätte erkennen können. Bis das Bundesverfassungsgericht der Aushungerungs- und Abschreckungspraxis gegenüber Flüchtlingen im Juli 2012 einen Riegel vorschob, erhielten politisch Verfolgte nach dem „Asylbewerberleistungsgesetz“ bloß noch das Lebensnotwendigste. Dies werteten die Neonazis damals ebenso als bleibenden Erfolg ihrer aggressiven Strategie und ihrer radikalen Methoden wie den Umstand, dass die Stadt an der Ostsee durch die Evakuierung der angegriffenen Migranten „ausländerfrei“ geworden war.
Durch die Rostocker Ausschreitungen gewann der rechte Terror – mehr noch als durch die Brandanschläge in Hoyerswerda knapp ein Jahr vorher – eine neue Dimension: Bis in die organisierte Neonazi-Szene hinein war eine Mobilisierung über Ländergrenzen hinweg gelungen. Wirkungsvoller als jedes andere zeitgeschichtliche Ereignis haben die Geschehnisse in Hoyerswerda und Lichtenhagen den Boden für die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) bereitet. Ohne das dortige Pogrom hätte es die Radikalisierung der ostdeutschen Szene und die Hinwendung von Kadern des Thüringer Heimatschutzes zum Rechtsterrorismus vermutlich nie gegeben.
Peinliche Parallelen
Schon im Vorfeld des Lichtenhagener Pogroms war das Verhalten vieler politisch Verantwortlicher dermaßen skandalös gewesen, dass Kritiker von Komplizenschaft sprachen. Polizeiführung und Mitglieder der Landesregierung suchten die Ereignisse herunterzuspielen. Auch wurde die juristische Ahndung von Straftaten verschleppt. So dauerte es fast zehn Jahre, bis vor dem Landgericht Schwerin das letzte Hauptverfahren wegen versuchten Mordes, schwerer gemeinschaftlicher Brandstiftung und Landfriedensbruchs eröffnet wurde.
Heute decken die verantwortlichen Politiker, die demokratischen Parteien und die Polizei zwar keine rechten Gewalttäter mehr, die Strafverfolgungsbehörden überschlagen sich allerdings nicht gerade in dem Bemühen, vor den Flüchtlingsunterkünften begangene Delikte schnell aufzuklären und streng zu ahnden. Nur zwei Personen wurden in Heidenau vorläufig festgenommen, aber nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt. Ob die beteiligten Neonazis angezeigt werden, prüft die zuständige Staatsanwaltschaft in den nächsten Wochen.
Nach den Brandanschlägen auf von Migrant(inn)en türkischer Herkunft bewohnte Häuser in Mölln und Solingen 1992/93 weigerte sich Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Begründung, für „Beileidstourismus“ stehe er nicht zur Verfügung, an den Begräbnissen der Todesopfer teilzunehmen. Angela Merkel hat sich trotz entsprechender Aufforderungen des Koalitionspartners und der Opposition lange geziert, eine Flüchtlingsunterkunft zu besuchen, ist aber kürzlich doch nach Heidenau gefahren und hat dort mit den Betroffenen gesprochen. Dass der Bundeskanzlerin ein tieferes Verständnis für deren Situation gleichwohl fehlt, zeigte ihr Verhalten ausgerechnet beim Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ an einer Rostocker Schule, wo Merkel der jungen Palästinenserin Reem Sahwil, die aus dem Libanon kommt und seit vier Jahren hier lebt, wenige Wochen vorher zu erklären gesucht hatte, dass nicht alle Flüchtlinge bleiben könnten. Als die 14-jährige Schülerin daraufhin zu weinen begann, ging die Bundeskanzlerin auf sie zu, strich ihr liebevoll übers Haar und sagte „Das hast du doch prima gemacht“, als ob Aufregung und nicht die Angst vor Abschiebung der Grund für den Gefühlsausbruch des Mädchens gewesen sei.
Deutliche Parallelen zwischen Hoyerswerda und Lichtenhagen einerseits sowie Hellersdorf und Heidenau andererseits gibt es insofern, als Mitglieder der politischen Klasse die Entwicklung im rechten Spektrum bis heute verharmlosen und entpolitisieren, wenn sie NPD-Anhänger als „Spinner“ (Bundespräsident Joachim Gauck) und rassistische Gewalttäter als „Pack“ (Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel) oder „alkoholisierte Schreihälse“ (Regierungssprecher Steffen Seibert) bezeichnen. Nein, es handelt sich um organisierte Neonazis und rechtsextreme Parteiaktivisten, die überlegt handeln, konsequent ihre politische Ziele verfolgen und in diesem Rahmen auch eine geschickte Strategie verfolgen: Sie instrumentalisieren durch zahllose Krisen, Kriege und Katastrophen fast überall auf der Welt ausgelöste Flüchtlingsdramen, suchen größere Teile der einheimischen Bevölkerung mittels Horrorszenarien massenhafter Zuwanderung und ethnischer bzw. religiöser Überfremdung in Panik zu versetzen, unterminieren die Demokratie durch Denunziation ihrer gewählten Vertreter als „Volksverräter“ wollen nach Art einer „Propaganda der Tat“ die mentale Basis für eine Neuauflage des totalitären Führerstaates schaffen.
Obwohl es mittlerweile erheblich mehr Flüchtlingsinitiativen als vor einem Vierteljahrhundert und mancherorts sogar eine ausgeprägte Willkommenskultur gegenüber politisch Verfolgten gibt, die sich nach Deutschland durchgeschlagen haben, wittern Rechtsextremisten erneut Morgenluft und begleiten noch immer rassistische Hasstiraden das Geschehen – heute sogar massenhaft über das Internet verbreitet. Facebook beruft sich ebenso wie Rechtsextremisten und Rassisten auf demokratische Grundrechte, wenn gegen Flüchtlinge gehetzt wird. Meinungsfreiheit bedeutet aber mitnichten, menschenverachtende Äußerungen unter die Leute bringen zu dürfen, sowenig die Gewerbefreiheit die Möglichkeit eröffnet, unbehelligt mit Kindern und Kokain zu handeln. Ganz im Gegenteil: Wer die Gewerbefreiheit bewahren will, muss dafür sorgen, dass alles unterbleibt, was sie in ein falsches Licht rücken würde!
Dass trotz sich zuletzt häufender Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im Land der Täter keine rechte Pogromstimmung aufkommen will, verdankt sich dem Meinungsumschwung in fast allen Leitmedien: So wirbt der Spiegel, damals mit seinen geschickt montierten Titelbildern und demagogischen Botschaften neben dem Boulevard publizistischer Scharfmacher Nr. 1, schon seit Wochen um Verständnis für Flüchtlinge und widmete ihnen ein Heft (Nr. 31 v. 25.7.2015). Beklagte mit Bild seinerzeit das auflagenstärkste Blatt des Landes eine „Asylantenschwemme“ und forderte von den Politikern rasche Abhilfe durch Abschaffung des Grundgesetz-Artikels 16 und Abschottung der Bundesrepublik, verbreitet die Zeitung mit den grellsten Schlagzeilen diesmal (fast) keine Vorurteile, sondern „entlarvt die sieben größten Lügen über Asylbewerber“ (Bild v. 27.8.2015). Wenngleich in standortnationalistischer Manier mit dem die Kosten übersteigenden Nutzen der Flüchtlinge für den hiesigen Wirtschaftsstandort argumentiert wird und man diese als demografische Lückenbüßer eines schrumpfenden deutschen Volkes und als Lösung für das vermeintliche Problem des Fachkräftemangels „unserer“ Wirtschaft empfiehlt, überrascht das migrationsfreundliche Fazit: „Wir können uns diese Art der Zuwanderung nicht nur finanziell leisten, wir brauchen sie sogar!“
Wider die Wohlstandsfestung
Rüstet man (West-)Europa, wie das die Regierenden seit Jahrzehnten tun, zur Wohlstandsfestung auf, müssen Flüchtlinge verstärkt Schleuserdienste in Anspruch nehmen, um dorthin gelangen zu können. Sich anschließend über die Geschäftemacherei von Schleppern zu empören, diese statt der Fluchtursachen zu bekämpfen und Krokodilstränen über die im Mittelmeer ertrunkenen oder auf den Ladeflächen von Lastwagen erstickten Opfer der eigenen Flüchtlingsabwehr zu vergießen, ist mehr als heuchlerisch. Übrigens hätte Willy Brandt als linkssozialistischer Widerstandskämpfer im Frühjahr 1933 den Nazis ohne die Hilfe von Schleppern nicht auf einem Fischerboot über die Ostsee entkommen, über Dänemark nach Norwegen in Sicherheit gelangen und später Bundeskanzler werden können.
Der wachsende Andrang von Flüchtlingen ist nicht die Ursache, sondern nur ein Auslöser rechtsextremer Übergriffe. Unter der Eile leidet gewöhnlich die Sorgfalt: Durch eine weitere Beschleunigung der Asylverfahren, wie Bund und Länder sie anstreben, kann man sich der Flüchtlinge vielleicht schneller entledigen, das Problem lässt sich auf diesem Weg jedoch genauso wenig lösen wie mit der ebenfalls wohlfeilen Forderung, in die EU gelangte Flüchtlinge „gerechter“ auf die Mitgliedstaaten zu verteilen, also Länder zur Aufnahme von mehr politisch Verfolgten zu zwingen, die sie eher noch schlechter behandeln. Nur zur Erinnerung und zur Auffrischung des kollektiven Gedächtnisses sei es noch einmal ausdrücklich festgestellt: Das sog. Dritte bzw. Großdeutsche Reich war der Staat, welcher durch seine rassistisch motivierten Eroberungs- und Ausrottungsfeldzüge im Zweiten Weltkrieg die größten Flüchtlingsströme des Jahrhunderts erzeugt hat. Das oberste Ziel jeglicher Politik der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin dieses Staates müsste es schon deshalb sein, dass sich Hoyerswerda, Lichtenhagen, Hellersdorf und Heidenau nie mehr wiederholen – auch nicht außerhalb Deutschlands!
Wenn man sieht, wie nicht bloß rechtspopulistische Organisationen und Parteien à la AfD und Pegida, sondern auch konservative Biedermänner – allen voran der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer mit der NPD-Parole „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt“ und der zuständige Bundesminister Thomas de Maizière mit seinem Plan, Flüchtlingen statt des „Taschengeldes“ mehr Sachleistungen zu gewähren – erneut den geistigen Nährboden für die rechtsextremen Brandstifter geschaffen haben, bleiben jedoch ernhafte Zweifel, ob die Männer an den Schalthebeln der politischen Macht ihrer historischen Verantwortung und ihren humanitären Verpflichtungen gerecht zu werden vermögen.
Migration ist ein Menschenrecht, das wahrzunehmen im Zeitalter der Globalisierung als Normalität anerkannt werden muss [PDF – 655 KB]. Einwanderungsland zu sein bedeutet im Falle der Bundesrepublik auch, finanzielle Ressourcen von Einheimischen zu Migrant(inn)en umleiten zu müssen, was aber keineswegs harte Opfer „deutscher Familien“ erfordert, wie uns rechte Demagogen glauben machen wollen. Geld ist nämlich genug da, es ist nur ungerecht verteilt und befindet sich häufig in den falschen Taschen.
Umverteilung von oben nach unten heißt die Aufgabe der Stunde. Auch die öffentliche Armut, unter der die Handlungsfähigkeit des Staates im Bereich von Migration und Integration merklich leidet, könnte durch eine höhere Steuerbelastung der Wohlhabenden und Reichen beseitigt werden. Diese wurden seit der Vereinigung in unverantwortlicher Weise begünstigt – genannt seien nur die Aussetzung der Vermögensteuer, die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, mehrere Senkungen des Einkommensteuer-Spitzensteuersatzes und der Körperschaftsteuer (für Kapitalgesellschaften), die Einführung der Abgeltungssteuer (auf Kapitalerträge) sowie die Privilegierung der Unternehmerfamilien bei Erbschaft- und Schenkungssteuer.
Was zu tun bleibt
Rassistischen Ressentiments und rechten Parolen wie „Deutschland den Deutschen!“ oder „Ausländer raus!“ nachzugeben, wäre ein fatales Signal. Die aggressivsten Neonazis würden bestärkt, Nachahmungstäter auf den Plan gerufen. Ordnungskräfte, Polizei und Geheimdienste dürfen nicht wegschauen, wenn sich irgendwo Rechtsextremisten zusammenrotten, sondern müssen eingreifen, bevor die Würde anderer Menschen angetastet oder ihnen gar Gewalt angetan wird.
Zwar geht es auch um kriminelle Handlungen, die der Rechtsstaat „mit aller Härte des Gesetzes“ verfolgen und ahnden muss, wie Politiker aller demokratischen Parteien derzeit lauthals verkünden, ganz so, als sei dies in einem zivilisierten Gemeinwesen nicht selbstverständlich. Notwendig wäre darüber hinaus die gesellschaftliche Ächtung eines Denkens, das die rechten Gewalttäter bisher in der Vorstellung bestärkt, sie handelten im Sinne des Volkes; die Schaffung eines politischen Klimas, das rassistische Ausgrenzung und deutschnationalen Dünkel aus der Öffentlichkeit verbannt – beispielsweise aus unseren Sportnachrichten, die noch jede Bronzemedaille eines Deutschen tagelang bejubeln, während der Sieger keines Wortes gewürdigt wird, wenn er anderer Nationalität ist; schließlich die Förderung einer neuen Kultur der Solidarität mit allen sozial Benachteiligten und von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft diskriminierten Minderheiten.
Was ist das bloß für ein Land, in dem Synagogen seit Jahrzehnten unter Polizeischutz stehen und Moscheen ebenso wie Flüchtlingswohnheimen dasselbe Schicksal droht? „Dunkeldeutschland“ hat es Bundespräsident Gauck genannt und damit eine Bezeichnung aufgegriffen, die Antifaschisten in den frühen 1990er-Jahren verwendet hatten, um das Wüten des rechten Mobs zu kennzeichnen. Um eine Wiederholung der abscheulichen Vorfälle zu verhindern, müsste sich das Alltagsbewusstsein grundlegend ändern. Das längerfristige Ziel muss eine inklusive Gesellschaft sein, die alle Wohnbürger/innen umfasst und niemanden ausgrenzt, der hier lebt oder Zuflucht sucht.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Mitglied der dortigen Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt). Er hat zahlreiche Bücher zu diesem Themenbereich veröffentlicht, z.B. „Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung“, „Massenmedien, Migration und Integration“ sowie „Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut“.