Afrikas Flüchtlinge, Afrikas Probleme und unsere Verantwortung
Sie treiben in Pirogen im Atlantik, ertrinken vor Lampedusa, werden vor Ceuta von EU-Grenzschützern abgeschossen und schaffen es manchmal sogar in die gelobten Länder des Nordens, wo sie entweder als illegale Billigarbeiter ausgebeutet oder gleich wieder abgeschoben werden – die Rede ist von schwarzafrikanischen Flüchtlingen, die hierzulande meist despektierlich als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet werden. Obgleich die öffentliche Debatte über schwarzafrikanische Flüchtlinge geradezu hysterisch geführt wird, wird außer oberflächlichen Halbwahrheiten nur sehr wenig über die Gründe des Massenexodus geschrieben und gesendet. Liegt das daran, dass die Gründe äußert komplex sind? Oder daran, dass „wir“, also der globale Norden, einen gehörigen Teil Mitverantwortung für die hoffnungslose Situation tragen? Von Jens Berger
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Lassen Sie mich zunächst einmal ein populäres Missverständnis ausräumen: Wenn von afrikanischen Flüchtlingen die Rede ist, ist dabei oft von Armutsflüchtlingen die Rede, von Hunger und Krankheit. Afrika ist bettelarm, fast jeder zweite Schwarzafrikaner lebt unterhalb der absoluten Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag. Wer jedoch denkt, dass die Ärmsten der Armen eines Tages vor den Toren Europas stehen, hat nicht wirklich verstanden, was absolute Armut bedeutet. Die Ärmsten der Armen schaffen es aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen noch nicht einmal, ihr Dorf oder ihre Stadt zu verlassen, geschweige denn eine Reise ins ferne Europa anzutreten. Wer die Flucht in eine bessere Zukunft ins ferne Europa wagt, gehört eher zur afrikanischen Mittelschicht, ist mobil, meist urbaner Herkunft und für afrikanische Verhältnisse sehr gut ausgebildet. Vor diesem Hintergrund von „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu sprechen und sich darüber zu echauffieren, dass einige der Flüchtlinge „sogar“ Smartphones besitzen, ist jedoch bigott. Wer von Afrika nach Europa aufbricht, der sucht vor allem eins – die Hoffnung, vielleicht doch noch ein besseres Leben zu führen. Den Ärmsten der Armen ist noch nicht einmal diese Hoffnung vergönnt.
Die persönlichen Gründe für die Flucht in den Norden sind dabei sehr vielfältig, haben jedoch auf der persönlichen Ebene meist einen gemeinsamen Nenner: Da gibt es den senegalesischen Fischer, der seine Familie nicht mehr ernähren kann, den nigerianischen Schlosser, der keinen Job findet oder den liberianischen Häuptlingssohn, für den es trotz guter Ausbildung als Zweit- oder Drittgeborenen keine adäquate Verwendung im eigenen Dorf gibt. Stets geht es vor allem darum, dass die meist jungen und männlichen Flüchtlinge in ihrer Heimat keine Chance auf einen halbwegs ordentlichen Job haben oder sich und ihre Familien nicht alleine ernähren können. Warum gibt es diese Chance in Afrika nicht?
Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Die Gründe für die afrikanische Dauermisere sind so komplex, wie der schwarze Kontinent selbst. Wenn hier von Afrika die Rede ist, dann geht es primär um Schwarzafrika, also die Länder unterhalb der Sahara. Und auch hier gibt es teils große Unterschiede. Man kann einen abgehängten Binnenstaat wie beispielsweise Burundi nun einmal nicht mit einem leidlich industrialisierten Schwellenland wie Südafrika vergleichen. Da das Gros der Flüchtlinge, die ihren Weg nach Europa finden, jedoch nicht aus den wenigen aufstrebenden Ländern des afrikanischen Südens (neben Südafrika wären da noch Botswana, Sambia und Namibia zu nennen) sondern aus den bitterarmen Ländern West- und Ostafrikas sowie der Sahelzone kommen, lohnt es sich, die Analyse auf diese Länder zu beschränken.
Wirtschaftlich abgehängt
Streng genommen befinden sich die meisten afrikanischen Länder noch immer in der vorindustriellen Zeit. Industrielle Produktion ist nahezu nicht vorhanden, bei den Exportgütern dominieren Rohstoffe und Agrargüter, Fertigprodukte nehmen nur einen verschwindend geringen und immer kleineren Teil ein. Waren 1980 noch 1,6 Prozent der afrikanischen Exporte Fertigwaren, so sind es heute nur noch 0,8 Prozent. Es ist jedoch egal, um welchen Sektor es geht, das große Problem der gesamten afrikanischen Wirtschaft ist deren rückständige Produktivität, die sämtliche Sektoren betrifft. Daher können afrikanische Güter und Produkte, die auch in anderen Regionen hergestellt werden können, sich in einem freien und offenen Markt auch nicht durchsetzen. Schweine- oder Hühnerfleisch aus niedersächsischen Agrarfabriken weist beispielsweise trotz der vergleichsweise hohen Lohnkosten in Deutschland aufgrund des betriebswirtschaftlich hoch effizienten Produktionsverfahrens mit einem hohen maschinellen Einsatz einen niedrigeren Stückkostenpreis auf als afrikanisches Schweine- oder Hühnerfleisch. Die Differenz ist dabei so groß, dass selbst die Transport- und Logistikkosten mehr als gedeckt sind, wenn diese Produkte nach Afrika exportiert werden. Ähnlich verhält es sich beim Getreide. Bei Fertigprodukten ist die Differenz noch größer. Wenn ein chinesischer Textilhersteller die Baumwolle aus dem Mali importiert und daraus in China ein T-Shirt fertigt, kann er dieses T-Shirt im Mali günstiger anbieten als ein lokaler Textilproduzent. Afrika ist aufgrund seiner niedrigen wirtschaftlichen Produktivität abgehängt.
Weltweit gab es immer Staaten und Regionen, die in puncto Produktivität hinterherhinkten und dennoch den Sprung schafften und dabei sogar vormals produktivere Regionen und Staaten überholten. Beispiele dafür sind das Deutsche Kaiserreich, das anfangs weit hinter dem früh industrialisierten Großbritannien zurücklag und in der Neuzeit China, das noch vor 40 Jahren ein lupenreines Entwicklungsland mit einer verschwindend geringen Produktivität war. Wie haben es diese Länder geschafft aufzuschließen? Die Antwort ist denkbar einfach: Durch einen teils rigorosen Protektionismus und durch eine egoistische Zoll- und Subventionspolitik. Würde die Republik Mali beispielsweise so hohe Einfuhrzölle auf chinesische Fertigtextilien erheben, dass sie am lokalen Markt teurer als einheimische Produkte sind, hätte die lokale Textilindustrie einen profitablen Markt und könnte die Umsätze erwirtschaften, die dafür nötig sind, die eigene Produktion effizienter zu machen und mittel- bis langfristig die Stückkosten so gering zu machen, dass man selbst ohne Schutzzölle mit chinesischen Produkten konkurrieren kann. Das Gleiche gilt analog für Agrarprodukte, die heute mit Importgütern aus dem globalen Norden konkurrieren.
Der Faktor „EU“
Genau diese erfolgversprechende Politik ist den afrikanischen Staaten im globalen Wirtschafts- und Handelssystem jedoch untersagt. Nahezu alle afrikanischen Staaten sind Mitglied der Welthandelsorganisation WTO und haben darüber hinaus Sonderabkommen mit den „Big Playern“ am internationalen Markt – der EU, den USA und China. Die EU zwingt afrikanische Staaten, keine Schutzzölle auf EU-Importe zu erheben. Wer sich diesem Diktat nicht beugt, verliert seinerseits den Zugang zum europäischen Markt. So statuierte die EU beispielsweise vor nicht einmal einem Jahr ein Exempel an Kenia. Kenia weigerte sich aus gutem Grund seine Schutzzölle auf EU-Importe wegfallen zu lassen. Im Gegenzug führte die EU darauf Schutzzölle auf kenianische Importe (z.B. Tee, Kaffee, Kakao, Schnittblumen) ein. Solche Kraftproben gewinnt am Ende immer derjenige, der den stärkeren wirtschaftlichen Arm hat und gegen den Wirtschaftsgiganten EU kann kein afrikanischer Staat bestehen. Kurze Zeit später knickte Kenia ein und musste mit ansehen, wie preiswerte EU-Importe lokale Produkte vom Markt verdrängen.
Heute dominieren EU-Agrarprodukte die afrikanischen Märkte. Gegen industriell produziertes und subventioniertes Milchpulver aus Deutschland, Hühnerfleisch aus den Niederlanden oder Tomatenmark aus Italien können lokale Produzenten preislich nicht bestehen. Die Folge ist, dass sie vom Markt verschwinden. 1990 stammten beispielsweise noch 80 Prozent des in Ghana verkauften Geflügelfleischs aus heimischer Produktion. Heute sind es nur noch 10 Prozent.
Vor allem in den westafrikanischen Küstenstaaten betreibt die EU zudem eine äußerst aggressive Fischereipolitik. Afrikanische Staaten, wie der Senegal, werden über Handelsabkommen dazu genötigt, Fischereikontingente an EU-Unternehmen abzutreten. In der Folge fischen dann europäische Fabrikschiffe den Ostatlantik leer und die senegalesischen Fischer kommen mit leeren Netzen zurück. Und nun dürfen sie dreimal raten, welche Perspektive diese Fischer haben und wohin es sie zieht. NGOs schätzen, dass rund ein Fünftel der afrikanischen Flüchtlinge „Fischerei-Migranten“ sind. Viele ehemalige Fischer nutzen dabei ihre Boote, um ihre Landsleute gegen Gebühr in die gelobten Länder des Nordens zu transportieren.
Die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström beschrieb die Freihandelsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten jüngst als „Partnerschaft unter Gleichberechtigten“ – selbst mit einer gehörigen Portion Zynismus ist diese Erklärung nicht zu ertragen.
Der Faktor „China“
Es ist jedoch nicht nur die EU, die ihre schiere wirtschaftliche Macht nutzt, um Afrika zu zerquetschen und ewig in der Abhängigkeit zu halten. Der neue Gigant auf dem afrikanischen Kontinent ist China. 2009 löste China die USA als wichtigsten Handelspartner Afrikas ab. Heute beträgt das Handelsvolumen zwischen China und Afrika rund 250 Milliarden Dollar – die EU erzielt rund 180 Milliarden Dollar, das Handelsvolumen zwischen Afrika und den USA sinkt kontinuierlich und beträgt heute nur noch rund 80 Milliarden Dollar. Der Handel zwischen China und Afrika wächst dabei jährlich im zweistelligen Prozentbereich, wobei die chinesischen Exporte noch schneller wachsen als die Importe.
Das Wachstum der chinesischen Importe erklärt sich von selbst. China ist zur Werkbank der Welt geworden und benötigt Rohstoffe, um Fertigprodukte für den globalen Markt herzustellen. Diese Rohstoffe kommen zum Teil aus Afrika. Und da die EU und die USA immer weniger Produkte selbst produzieren, sondern zunehmend Fertigprodukte aus China importieren, hat sich der Handelsstrom der afrikanischen Rohstoffe über die Jahre weg von der EU und den USA und hin zu China verschoben.
China ist jedoch weit davon entfernt altruistisch zu handeln oder seinerseits mit Afrika eine „Partnerschaft unter Gleichberechtigten“ anzustreben. Als Gegenleistung für meist ordentlich dotierte Schürf- oder Förderrechte und Exportabkommen besteht China seinerseits darauf, dass die afrikanischen Staaten ihrerseits ihre Märkte für chinesische Produkte öffnen. Oberflächlich betrachtet, ist dies ganz im Interesse der Afrikaner. Chinesische Unternehmen produzieren spezielle qualitativ minderwertige Produktlinien für den asiatischen und afrikanischen Markt, die nicht mit den chinesischen Importen in der EU oder den USA zu vergleichen sind. In Folge überschwemmen Billig-Handys und Billig-Kühlschränke made in China die afrikanischen Märkten und sind dabei oft die ersten Produkte dieser Art, die sich afrikanische Haushalte überhaupt leisten können. Der große Nachteil ist jedoch, dass chinesische Produkte oft auch mit heimischen Produkten konkurrieren – allen voran im Textilbereich. Waren es vor wenigen Jahren noch die Altkleidersammlungen aus dem Norden, die die lokalen afrikanischen Märkte beherrschten und die heimische Textilwirtschaft schädigten, sind es heute preiswerte Textilien aus China. Gegen ein 3-Euro-T-Shirt aus dem Perlflussdelta kann nun mal kein afrikanisches Produkt bestehen. Nachdem Nigeria seinen Markt für chinesische Importe öffnen musste, verschwanden 80% der nigerianischen Textilindustrie von der Bildfläche, 250.000 Nigerianer verloren dadurch ihren Job – dafür können sie jetzt günstige T-Shirts auf den Märkten kaufen und mit ihnen das nächste „Schlepperboot“ nach Europa besteigen.
Mit den steigenden Produktionskosten in China tritt jedoch auch hier bereits ein Wandel ein. Denn neben China gehört auch Indien zu den rohstoffhungrigen Ländern, die ein Auge auf Afrika geworfen haben und seinerseits 1-Euro-T-Shrits im Programm hat, die zollfrei die afrikanischen Märkte überschwemmen sollen. Die wenigen heimischen Betriebe, die sich noch gegen die 3-Euro-Shirts aus China halten konnten, drohen nun auch noch von der Bildfläche zu verschwinden.
Der Faktor „Korruption“
Volkswirtschaftlich betrachtet krankt der Außenhandel Afrikas vor allem daran, dass der schwarze Kontinent vor allem Rohstoffe exportiert. Kaum ein anderer Wirtschaftszweig bietet – gemessen am Umsatz – so wenigen lokalen Arbeitnehmern ein Einkommen. Die Erdölexporte Angolas tragen beispielswiese zur Hälfte zum nationalen BIP bei und stehen für 95% der gesamten Exporte. Dennoch sind lediglich 2% der Angolaner direkt oder indirekt in diesem Bereich beschäftigt. Der Großteil der Einnahmen fließt dabei in Form von Konzessionen und Exportzöllen an verschiedene Stellen im Staatsapparat, die hoch korrupt sind. Vom Rohstoffexport profitiert daher in der Regel vor allem eine kleine, dafür aber um so wohlhabendere korrupte Elite, die ihre Einnahmen nicht in produktive Investments im eigenen Lande steckt, sondern für Luxusgüter, Villen und ausgedehnte Shoppingtouren in New York, Zürich oder Hong Kong verplempert. Die lokale Wirtschaft profitiert in diesem Fall überhaupt nicht von den Einnahmen.
Hinzu kommt, dass volkswirtschaftlich nur sehr selten überhaupt Überschüsse erzielt werden. Wenn Geld für Förderlizenzen in das Land fließt (so es denn nicht gleich auf Schweizer Konten versickert), so strömt in der Regel noch mehr Geld aus dem Land ab – für Importe von Billigwaren aus China, Agrarprodukten aus der EU und Luxusgütern aus der gesamten Welt. Die Handelsbilanz ist dabei negativ, woraus folgt, dass das betreffende Land sich schlussendlich verschuldet. Und sobald die Staaten in der Schuldenfalle gefangen sind, haben sie endgültig ihre Souveränität verloren. Egal ob Weltbank, IWF oder China samt Staatsbanken – sämtliche Gläubiger bestehen darauf, dass Schutzzölle abgebaut und die lokalen Märkte für internationale Produkten geöffnet werden.
Da die zerstörerische Korruption auch in den betroffenen Ländern bekannt und ein destabilisierender Faktor ist, haben alle nennenswerten Akteure ihr eigenes Programm, um dafür zu sorgen, dass ihre teuren Investment nicht beim nächsten Putsch wertlos werden. Die EU und die USA haben ihre „Good-Governance-Regeln“, die jedoch nur selten erfüllt werden und bei strategisch wichtigen Investments auch schon mal ganz unter den Tisch fallen. China mischt sich grundsätzlich nicht in interne Angelegenheiten ein und hat stattdessen ein Programm aufgelegt, dass man als „Infrastruktur für Rohstoffe“ bezeichnen könnte. Ein großer Teil der Kosten für Förderlizenzen wird nicht in bar, sondern in Form von Infrastrukturprojekten bezahlt. Als Folge daraus sieht man in fast allen afrikanischen Ländern mehr oder weniger große chinesische Arbeitskolonnen, die Straßen, Schienen, Dämme oder Hafenanlagen bauen. Das ist natürlich auf den ersten Blick eine gute Sache. Den afrikanischen Ländern ist damit jedoch kaum geholfen, da diese Projekte komplett von chinesischen Unternehmen mit chinesischem Geld, chinesischen Maschinen, chinesischen Ingenieuren und Arbeitern umgesetzt werden. Ist das Projekt beendet, verschwinden Maschinen und know how und was bleibt ist eine Straße, die ohne Wartung und Instandhaltung schon in wenigen Jahren wieder zerbröselt. Der Gedanke, der dahintersteckt, ist, dass die dringend nötigen Investitionen schon kommen werden, wenn erst einmal die Infrastruktur vorhanden ist. Dies war jedoch in Afrika noch nie der Fall. Umgekehrt wird ein Schuh daraus – wenn produktive Unternehmen ernsthaftes Interesse an einem Investment haben, folgt in der Regel automatisch die nötige Infrastruktur. Doch zu produktiven Investitionen lassen sich weder die Chinesen noch die Europäer überreden. Was bleibt sind Infrastrukturprojekte, die im heißen Klima vor sich hin rotten und keine Arbeitsplätze schaffen. Als Zyniker könnte man sagen, dass eine unproduktive Straße für das Land doch immerhin besser ist als das zwanzigste Chanel-Kostüm für die First Lady. Und das ist auch gar nicht so falsch, behebt die grundlegenden Probleme Afrikas jedoch auch nicht.
Was bleibt den Menschen übrig?
Als die Wirtschaftskrisen im vorletzten Jahrhundert Irland, Italien, Deutschland, Großbritannien, Russland und Polen überzogen, entschieden sich viele Menschen aus diesen Ländern dazu, ihr Glück auf der anderen Seite des Atlantiks zu suchen. Die Entscheidung, die alte Heimat zu verlassen, um seinem Leben eine Perspektive zu geben, ist über alle Kulturgrenzen hinweg kein Novum. Wenn ein Fischer seine Familie nicht mehr ernähren kann, ein Schlosser keinen Job findet und auch in Zukunft keine Job finden wird und ein gutausgebildeter Zögling aus besserem Haus in der Heimat keine Perspektive sieht, dann verlassen diese Menschen ihre Heimat. Sei es, um in ein Nachbarland zu ziehen, in dem im konkreten Fall jedoch auch keine Perspektive besteht, oder um den großen Sprung über die Weltmeere zu wagen und fern der Heimat eine neue Chance zu beginnen. Solange sich nichts an den grundlegenden Problemen und den hier skizzierten Ursachen ändert, wird auch der Flüchtlingsstrom aus Afrika nicht versiegen. Im Gegenteil. Was wir momentan vor Lampedusa und Ceuta beobachten, dürfte nur das Vorspiel zu einer noch größeren Entwicklung sein, die unser Jahrhundert charakterisieren wird.
Noch so hohe Schutzzäune und noch so stark mit eingebundene autoritäre Staaten am südlichen Rand des Mittelmeeres werden diese Entwicklung nicht stoppen können. Und wenn wir in die Zukunft schauen, braucht man vor dem Hintergrund des Klimawandels und der demographischen Entwicklung in Afrika nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass wir den Migrationsstrom nur dann mindern können, wenn wir die Ursachen und nicht nur die Symptome bekämpfen.
Afrika durchlebt momentan eine Phase des Wachstums ohne Entwicklung. Was Afrika aber braucht, ist ein Wachstum mit Entwicklung. Dies ist jedoch nur dann zu erreichen, wenn man den Staaten des Kontinents die Chance gibt, sich weiterzuentwickeln. Dazu sollte man zunächst einmal vom hohen europäischen Ross herabsteigen. Die Afrikaner sind ja schließlich nicht dumm und wissen in den meisten Fällen selbst, was sie bräuchten. Sie sind jedoch in einem Handelssystem gefangen, das ganz explizit für die Interessen des globalen Nordens, zu dem man heute auch China zählen muss, und gegen die Interessen des globalen Südens konstruiert wurde. Wenn ein Schwergewichtsboxer und ein Fliegengewicht sich in einem Kampf „unter Gleichberechtigten“ gegenüberstehen, dann ist dieser Kampf nicht fair, sondern unfair. Genau so unfair ist der globale Freihandel, wenn wirtschaftlich unterentwickelte Staaten direkt mit den Giganten der Weltwirtschaft konkurrieren sollen. Wer Afrika helfen will, muss Afrika die Chance geben, sich weiterzuentwickeln. Und das geht nur, wenn man den afrikanischen Staaten gestattet, Schutzzölle zu erheben und darauf drängt, dass die Einnahmen aus den afrikanischen Exporten produktiv in den entsprechenden Ländern investiert werden. Dies betrifft übrigens keinesfalls nur afrikanische Staaten. Warum erhebt beispielsweise die EU keinen „Solidarzoll“ für europäische Exporte nach Afrika, dessen Einnahmen in einen von Afrikanern verwalteten Fonds gehen, mit dem afrikanische Unternehmen produktive Investments im eigenen Lande vornehmen könnten?
Es gäbe also Möglichkeiten, Afrika dabei zu helfen, dass es sich mittel- bis langfristig selbst helfen kann. Diese Möglichkeiten stehen jedoch weder in der EU, noch in den USA oder China auf der politischen Agenda und man muss kein Schwarzmaler sein, um vorherzusagen, dass das Pendel eher in die andere Richtung schlagen wird. Dann muss sich aber auch nicht wundern, wenn die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.