Der finnische Albtraum – nun legen Schäubles treue Verbündete die Axt auch an ihr eigenes Land an
Finnland gilt innerhalb der Eurogruppe als treuer Verbündeter Deutschlands. Jahrelang galt der Staat auch als wirtschaftspolitisches Vorbild für andere Euroländer. Finnland zeichne sich schließlich durch eine solide und exportstarke Wirtschaft und eine noch solidere Haushaltspolitik aus, die von den Ratingagenturen stets mit einem AAA belohnt wurde. Doch diese Zeiten sind vorbei. Finnland befindet sich heute in einer Wirtschaftskrise. Wie leider kaum anders zu erwarten, deuten die neoliberalen Nordeuropäer die Gründe für diese Krise jedoch falsch und nun droht dem Land eine Überdosis der Medizin, die finnische Politiker auch auf europäischer Ebene immer gerne empfehlen. Für das Land könnte dies katastrophale Folgen haben. Von Jens Berger.
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Glaubt man einschlägigen deutschen Medienberichten, sieht es düster um Finnland aus. Die finnische Volkswirtschaft befindet sich nun im dritten Jahr in Folge in der Rezession, die Staatsschulden haben sich seit 2008 mehr als verdoppelt und die Arbeitslosenquote stieg in den letzten Monaten rapide und liegt nun bei fast zehn Prozent. Was sich auf den ersten Blick dramatisch anhört, ist bei näherer Betrachtung jedoch keine echte Katastrophe. Die Wirtschaft befindet sich zwar in einer Rezession, der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts liegt jedoch im kaum messbaren Bereich. Und wenn die Wirtschaft hinkt, gehen natürlich auch die Steuereinnahmen zurück und die Staatsausgaben steigen. Die Staatsschulden haben sich daher zwar seit Beginn der Finanzkrise in der Tat verdoppelt, liegen aber mit 60,3% des BIP nur unwesentlich über der Maastricht-Grenze und sind (mit Ausnahme von Luxemburg) die niedrigsten unter den Euro-Gründungsmitgliedern. Und die Arbeitslosenquote liegt mit aktuell 9,4% immer noch weit unter dem Durchschnitt aller Euroländer und auch weit unter den finnischen Vergleichszahlen aus den 1990ern, als Finnland schon Werte oberhalb der 16% vermelden mussten. In der Zeitreihe bilden eher die „Boomjahre“ von 2006 bis 2008, die heute immer als Vergleichszeitraum genannt werden, einen Ausreißer.
Neoliberale Wende
Diese „Schwarzmalerei“ hat natürlich einen Grund. Seit Ende Mai dieses Jahres wird Finnland von einer Mitte-Rechts-Koalition regiert, der neben der konservativen Nationalen Sammlungspartei und den rechtspopulistischen und euroskeptischen „Wahren Finnen“ auch das wirtschaftsliberale „Zentrum“, eine Art finnischer FDP, als stärkste Partei angehört. Finnland trat zwar auch unter der Vorgängerregierung traditionell auf europäischer Ebene als „Hardliner“ im Schlepptau der Deutschen auf. Die Vorgängerregierungen verschonten das eigene Land jedoch weitestgehend mit dem Gift aus dem neoliberalen Medizinschrank. Nun sind jedoch die echten neoliberalen Hardliner an der Macht und Finnland soll einer neoliberalen Schrumpfkur unterzogen werden. Schlechte und vermeintlich schlechte Wirtschaftszahlen sind dazu unverzichtbar, schließlich lässt sich kein Volk einer neoliberalen Schrumpfkur unterziehen, wenn keine Bedrohung an die Wand gemalt wird, die diese Politik als „alternativlos“ darstellt. Die Parallelen zu Deutschland sind unverkennbar.
Der finnische Peter Hartz heißt „Anders Borg“ und war als ehemaliger schwedischer Finanzminister von 2006 bis 2014 maßgeblich für die Abschaffung des schwedischen Wohlfahrtsstaates und die neoliberale Wende in Schweden verantwortlich. Basierend auf einem Sonderbericht Borgs schlägt die finnische Regierung nun Alarm, setzt den vermeintlich schwarzen Zahlen der Gegenwart noch schwärzere Zahlen für die Zukunft entgegen und ist sich in der Analyse der Misere einig: Schuld an der Krise seien, man ahnt es, die zu lohnen Lohnkosten, zu viel Bürokratismus und natürlich ein zu stark regulierter Arbeitsmarkt. Die finnische Wettbewerbsfähigkeit liege „10 bis 15 Prozent“ hinter der der finnischen „Wettbewerber“. Richtig ist, dass die finnischen Löhne im letzten Jahrzehnt im europäischen Vergleich ordentlich gestiegen sind. Dies ist auch ein Grund, warum sich die finnische Binnenwirtschaft als tragende Säule der Volkswirtschaft so gut entwickelt hat. Dadurch sind jedoch auch die Lohnstückkosten gestiegen. Dies als Ursache für die momentan hinkende Wirtschaftsentwicklung darzustellen, ist jedoch unlauter.
Ursachen der Krise: Nokia …
Hinter der Binnenwirtschaft sind es vor allem zwei Wirtschaftszweige, die die finnische Volkswirtschaft dominieren – die Elektronik- und die Papierbranche. Die finnische Elektronikbranche ist untrennbar mit dem einstigen Vorzeigeunternehmen Nokia verbunden. 2007 hatte Nokia bei mobilen Telefonen einen Weltmarktanteil von mehr als 50%. Zu seinen Glanzzeiten trug das Unternehmen mehr als 10% des finnischen Bruttoinlandsproduktes, sorgte alleine für rund 20% der finnischen Exporte und ist aufgrund seiner rasanten Entwicklung für 25% bis 30% des gemessenen Wirtschaftswachstums des gesamten Landes in den „goldenen Jahren“ verantwortlich. Im Umfeld von Nokia bildeten sich zudem unzählige Zulieferer und Start-Ups, die hauptverantwortlich für den Wirtschaftsboom der finnischen Volkswirtschaft waren. Die Jahre 2007 und 2008 markierten jedoch einen Wendepunkt in der finnischen Erfolgsstory. Die Gründe dafür waren weder die Lohnkosten, noch Bürokratie oder Arbeitsmarktregulierungen, sondern die Entwicklungen von zwei IT-Giganten im fernen Kalifornien: 2007 brachte Apple das erste iPhone heraus, 2008 entwickelte Google die erste Version seines Smartphone-Betriebssystems Android. Nokia verschlief diese Entwicklungen, präsentierte erst Jahre später ein eigenes, jedoch technisch rückständiges Smartphone und verlor massiv Marktanteile. Galt Nokia früher als technischer Vorreiter, war es um 2010 herum vor allem als Hersteller von Billighandys für den Markt in Entwicklungs- und Schwellenländern bekannt und ist heute fast vollkommen vom Markt verschwunden. 2014 wurde die Nokias Handysparte von Microsoft übernommen und soll nun komplett eingestellt werden. Was Finnland bleibt, ist die Netzwerk- und Telekommunikationstechniksparte und die Softwaresparte des einstigen Weltunternehmens Nokia. Zehntausende Arbeitsplätze aus der Handysparte gingen jedoch direkt verloren, die Auswirkungen auf Zulieferer und die gesamte Start-Up-Szene sind verheerend.
Natürlich hat auch Nokia seine Handys vorwiegend in Billiglohnländern auf der ganzen Welt fertigen lassen, während die Entwicklung und der Prototypenbau in Finnland ansässig waren. Nicht die Lohnstückkosten, sondern klassische Managementfehler haben Nokia ins Aus katapultiert. Hätten die Finnen nur die Hälfte verdient, eine ultraliberale Verwaltung und Arbeitsrecht aus Zeiten des Manchester-Kapitalismus gehabt, hätte dies die Absatzchancen der Nokia-Handys um kein Jota verbessert – eher im Gegenteil, schließlich gehörte der heimische Markt bis zuletzt zu den letzten Stützen von Nokia.
… die Papierbranche …
Ähnlich verhält es sich bei der zweiten Schlüsselbranche, der Herstellung von Papier und Zellstoff. Selbst wenn die Finnen für einen Euro pro Stunde arbeiteten, würde dadurch die Digitalisierung und der damit verbundene Rückgang der weltweiten Papiernachfrage nicht gestoppt. Waren es in der Elektronikbranche vor allem Managementfehler, leidet die finnische Papierindustrie unter einer Entwicklung, die sich wohl am besten als Strukturwandel charakterisieren lässt.
… und die EU-Russland-Sanktionen
Dass die Wirtschaft im letzten Jahr weiter stagniert und die Arbeitslosenzahlen steigen, liegt jedoch vor allem an einer dritten Entwicklung – Finnland leidet so sehr wie kein anderes Land der Welt unter den EU-Sanktionen gegen Russland. Finnland hat – was wegen der geographischen Lage auch kaum verwundern kann – traditionell sehr gute Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Das Land ist hinter Schweden und Deutschland drittwichtigster Markt für finnische Exporte und gleichzeitig der wichtigste Handelspartner bei den Einfuhren. Die EU-Sanktionen gegen Russland sind für Finnland purer ökonomischer Selbstmord. Auch diese Entwicklung hat überhaupt nichts mit den finnischen Löhnen oder Arbeitsmarkregulierungen zu tun. Finnland befindet sich zwar in der Tat in einer leichten Wirtschaftskrise, die Gründe dafür haben jedoch ganz offensichtlich nichts mit der neoliberalen Diagnose zu tun. Und wenn die Diagnose schon falsch ist, kann die Medizin auch nicht wirken – zumal dann, wenn die Medizin selbst bei korrekter Diagnose die Krankheit nicht lindern, sondern verschlimmern würde.
Und nun bekommt das Land die eigene Medizin verabreicht
Die finnische Regierung will nun die Sozialleistungen kürzen, die Steuern erhöhen (natürlich ausdrücklich nicht die Unternehmenssteuern), mehr Druck auf Arbeitslose ausüben und die Ladenöffnungszeiten liberalisieren. Sie will also die allseits bekannten Mittel aus dem neoliberalen Giftschrank, die Finnland auf europäischer Ebene schon lange anderen Ländern empfiehlt, selbst schlucken. Mehr noch – ginge es nach der finnischen Regierung sollen die Lohnstückkosten bis 2019 um mindestens fünf Prozent sinken. Um dies zu erreichen, soll die Tarifautonomie künftig abgeschafft und die Löhne sollen zentral von der Regierung festgelegt werden. Die Gewerkschaften haben nun bis zum 21. August Zeit, zu diesem unglaublichen Vorschlag Stellung zu beziehen. Lehnen sie ab, droht die Regierung bereits mit einer nächsten Kürzungsrunde. Armes Finnland.