Für oder gegen Tsipras – eine Polemik
Der griechische Ministerpräsident hat alles falsch gemacht. Ein Verräter! Er hat alles richtig gemacht, meinen andere. Und dann auch noch diese Kommunisten und Marxisten! Die Polemik gegen sie gründet auf der Gefühlswelt der Fünfzigerjahre. – Im Netz und sonst wo tobt die Debatte. Und zwar ganz schön nach dem Schema links/rechts. Und ganz Schlaue wie der Nobelpreisträger Krugmann beklagen sich, Tsipras hätte nicht gesagt, dass er keinen Plan B hat. Hätte Herr Krugman ihn ja fragen können, er hat ihn ja persönlich getroffen. – Plan B, ein ominöses Wort, aber in aller Munde. Wäre ja ganz gut gewesen, so etwas zu haben. Aber so einfach, wie sich das manche Kritiker vorstellen, ist es nicht. – Mir scheint, es gibt einen gravierenden Fehler des Chefs von Syriza und der griechischen Regierung: Er hat den Zynismus und die Menschenverachtung der auf europäischer – maßgeblich deutscher – Seite handelnden Personen weit unterschätzt. Und er hat vor allem nicht wahrgenommen, dass Personen wie Merkel, Schäuble und die Verantwortlichen bei der EU das totale Scheitern Griechenlands brauchen, um sich und ihre Länder vor dem Hintergrund der düsteren griechischen Wirklichkeit umso glanzvoller darzustellen und damit vergessen zu machen, wie laienhaft und fehlerhaft ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik ist. Albrecht Müller.
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Möglicherweise hat der griechische Sozialist die Fähigkeit eines deutschen Christdemokraten zum Mitleid überschätzt.
Er konnte möglicherweise nicht wissen, dass im Milieu des bürgerlichen Protestantismus des Herrn Schäuble nicht Mitleid, sondern Härte und Wehtun als Tugenden betrachtet werden. Diese Härte ist die Schwester der frommen Sprüche. (Siehe dazu am Ende dieses Textes den Nachtrag zu einer geplanten Predigt des deutschen Finanzministers)
Die Brüsseler und die Berliner Versager brauchen das Elend im Süden, um zu glänzen
Tsipras und seine Leute haben unterschätzt, wie sehr Griechenland dafür herhalten muss, die wirtschafts- und finanzpolitische Linie der Schäubles zu bestätigen. Die EU hat es versäumt, gegen die Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeiten der europäischen Länder und insbesondere der Länder in der Euro-Gruppe an zu arbeiten; unter Führung der deutschen Bundesregierung wurde eine Austeritätspolitik durchgesetzt, die keinen Erfolg haben konnte und hatte. Das alleine sind schon zwei gravierende Fehler. Indem es aber dem widerspenstigen Griechenland ganz elend geht, erscheinen seine Widersacher als die großen Könner. Die Fehler bei der Anlage der Eurozone und die laufenden Fehler der maßgeblich von Deutschland bestimmten Politik sind weggewischt, denn verglichen mit Griechenland stehen die anderen gut da. Aber eben nur verglichen mit Griechenland und mit Spanien und Italien und Portugal. Griechenland musste und muss ganz tief sinken, damit nach den Fehlern der anderen keiner mehr fragt. Auch nicht nach der Verantwortung für das ganze Elend.
Es könnte sein, dass Tsipras die Konsequenz der implementierten Verelendungspolitik unterschätzt, dass er mit seinem Einlenken, was manche eine 180° Wendung nennen, zwar einen Schrecken in Kauf nimmt, aber auf das Ende des Schreckens hofft. Das könnte eine trügerische Hoffnung sein. Es könnte sein, dass die entscheidenden Leute in Berlin, in Helsinki und in Den Haag ein Exempel statuieren wollen und deshalb die Griechinnen und Griechen noch tiefer tauchen wollen. Diese Vermutung wäre auch dann noch von Bedeutung, wenn Griechenland aus der Eurozone ausgeschieden wäre. Auch dann können Griechenlands Peiniger noch nachtreten. Und auch diese Vermutung muss man als Verantwortlicher in Griechenland in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Es ist alles komplizierter, als die laufende Polemik erkennen lässt.
Tsipras hat möglicherweise die Gefügigkeit der europäischen Medien unterschätzt.
Aber was hätte er denn tun sollen? Er kann sich keine demokratischen, kritischen Medien backen. Schon gar nicht in Europa, nicht einmal im eigenen Land. So muss er und sein Volk hinnehmen, dass den unpassenden und grotesken Forderungen und sogenannten Reformen applaudiert wird: zum Beispiel zur Mehrwertsteuererhöhung und zur Rentenkürzung mitten in der Rezession, und zur Privatisierung des Volksvermögens, was man angesichts der schlechten Konjunktur nur als Verscherbeln betrachten kann: als Raub. Darauf spekulieren im Übrigen die Betreiber der sogenannten Reformen. Siehe das Interesse von Fraport Frankfurt an den griechischen Flughäfen.
Tsipras kann auch nicht verhindern, dass Schäuble und Co. mit ihrer Grexit-Debatte die Spekulation gegen Griechenland anheizen und so die Lage noch weiter verschlimmern.
Was hätten sie dagegen tun sollen? Was kann man tun gegen den zynischen Einsatz von Spekulation gegen ein anderes Volk und gegen dessen Politiker, also gegen die eigenen Kollegen? Nichts. Gar nichts. Wer machtlos ist, erscheint als Versager, vor allem dann, wenn die anderen alles besser wissen.
Gut, man könnte sagen, Tsipras hätte das alles wissen müssen und den Versuch machen müssen, alle diese Gemeinheiten durch Vorhersagen zu entschärfen.
Aber auch das zu realisieren ist sehr schwierig und deshalb ist die Empfehlung vermutlich zu billig.
Die in Griechenland Verantwortlichen hatten und haben nur die Wahl zwischen schlechten und noch schlechteren Alternativen, und sie haben das Problem, angesichts der Komplexität der Probleme nicht vorhersagen zu können, welches die schlechten und welches die noch schlechteren Alternativen sind. Schon deshalb ist die Polemik von links gegen weiter links und umgekehrt unangebracht.
Ein Nachtrag aus aktuellem Anlass:
Am 6. September 2015 kommt Wolfgang Schäuble ins Nordelsass zum Jahresfest der evangelischen Kirchen in Elsass/Lothringen. Er wird dort um 10:00 Uhr predigen. Siehe hier und hier die Übersicht:
Jahresfest des Hauses des evangelischen Kirchen in Elsass/Lothringen
Predigt und Nachgespräch
Datum: 06. September 2015
Zeit: 10:00
Ort: Chateau Liebfrauenberg/Elsass
Schäuble straft Griechen mit Eiseskälte und geht dann predigen. Und die evangelischen Kirchen von Elsass und Lothringen spielen den Tetzel und bieten preiswerten Ablass.
Wenn die Nachbarn des Chateau Liebfrauenberg unter unseren Leserinnen und Lesern, also Menschen aus dem Elsass, aus Lothringen, aus Baden, der Pfalz und dem Saarland Zeit und Lust haben, sich dieses verlogene Spektakel anzusehen und anzuhören, dann machen Sie einen Spaziergang/-fahrt zum Chateau Liebfrauenberg. Von Karlsruhe sind es 63 km, von Saarbrücken 87 km, von Straßburg 54 und von Wissembourg 28 km.
Die NachDenkSeiten werden vorher einen Offenen Brief an die Veranstalter veröffentlichen. Es wäre schön, er fände Ihr Interesse.