Zum Tode von Johannes Rau
Ein erfülltes politisches Leben ging zu Ende, aber was Johannes Rau als Mensch und Politiker gewollt und mit ganzer Kraft angestrebt hat, bleibt als Auftrag: Das Leben der Menschen in dieser Welt ein Stück weit menschlicher zu machen!
Manche hielten sein Leitmotiv für zu menschelnd, zu wenig programmatisch für politisches Handeln und das hat ihn manchmal verletzt, doch dieser Grundantrieb war umfassender, grundlegender und humaner als die allermeisten politischen Programme – und vor allem näher bei den Menschen.
Johannes Rau war alles andere als ein Dogmatiker, aber er war umso beharrlicher, wenn es darum ging, das politisch Mögliche möglich zu machen. Das spürten die Menschen, sie vertrauten ihm, weil er sagte, was er tun kann und er tat, was er sagte.
Er kündigte nicht erst großartig etwas an und viele nannten ihn deshalb zögerlich, aber er suchte in unermüdlicher Kleinarbeit nach Lösungen. Er wusste nicht von Anfang an alles besser, aber am Ende wusste er meistens eine gute Lösung. Er preschte nicht nach vorne und er heischte nicht nach Schlagzeilen, er betrieb das mühselige Geschäft, andere mitzunehmen, sie einzubinden. Seine politische Waffe war das Florett und nicht der schwere Säbel, aber wer die Mäßigung im Ton mit Unentschiedenheit in der Sache verwechselt hatte, sah sich regelmäßig eines anderen belehrt.
Johannes Rau hat auch im heftigsten Wettstreit und selbst wenn er sich persönlicher Angriffe erwehren musste, nie seinen Gegner als Person angegriffen, er hat seine Meinung in der Sache dagegen gestellt und dem Angreifer Brücken gebaut und er hat mit seinem Stil und mit seinem Umgang mit dem politischen Gegner Mehrheiten für sich gewonnen: Bei seinem knappen Abstimmungssieg gegen Friedhelm Farthmann als nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender, bei seiner Kandidatur gegen Dieter Posser als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, bei vier Landtagswahlen. Nur bei seiner Kandidatur zum Bundeskanzler im Jahre 1987 prallte seine Botschaft „Versöhnen statt spalten“ auf den Machterhaltungswillen des Amtsinhabers Helmut Kohl und auf eine zu wenig entschlossene SPD. Auf welchen politischen Positionen Johannes Rau auch immer gekämpft hat, er hat nie Verletzte zurückgelassen. Ob als junger Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Wuppertal – ein Amt, das er, ganz typische für seinen Wunsch nach Bürgernähe, immer als seine schönste Aufgabe bezeichnet hatte – ob als jüngster Abgeordneter und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion gegen seine streitbare politische Gegnerin Christine Teusch, auch gegenüber dem vom persönlichen Temperament ganz gegensätzlichen Friedhelm Farthmann hat er es nie zu einem Bruch kommen lassen und der zwischen Dieter Posser, der mit ihm um das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten konkurrierte, und Johannes Rau entwickelte sich eine persönliche Freundschaft.
Helmut Kohl hat ihn bei seiner ersten Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten tief enttäuscht, weil er sein Wort nicht gehalten hat, wie übrigens auch einige Spitzenpolitiker der FDP. Auch der Ausweg eines Rückzugs aus der Kandidatur nach der Niederlage im ersten Wahlgang stand ihm nicht mehr offen, weil die Wahlmänner der FDP die (von ihnen ungeliebte) Kandidatin im Stich gelassen hatten. „Seine“ SPD für die er im Parteivorstand und im Präsidium über Jahrzehnte viele Brücken gebaut hat und die Sprachlosigkeit zwischen manchen ihrer führenden Repräsentanten überwand, hielt ihm nach der Abstimmungsniederlage die Treue und nominierte ihn 1998 ein zweites Mal – und zwar nicht – wie es vielfach zu lesen war – als Ergebnis eines politischen Handels sondern aus Respekt und Dankbarkeit.
Das Vertrauen der Grünen bei seiner zweiten Kandidatur zum Bundespräsidenten hatte er sich durch seinen fairen, ja geradezu pädagogischen Umgang mit diesem von ihm ungewollten Koalitionspartner gewonnen.
Johannes Rau hatte anders als sein Vorgänger Roman Herzog und sein Nachfolger Horst Köhler für die Medien keinen Neuigkeitswert und sein Hang zu den leiseren und mahnenden Tönen ließen ihn zu Beginn seiner Amtszeit in einer die Zuspitzung fordernden elektronischen Medienwelt nicht so viel Gehör verschaffen, wie er das verdient hätte oder wie er sich das gewünscht hätte. Johannes Rau blieb verletzlich, weil für ihn Politik und ethisches Handeln unzertrennlich zusammengehörten. Der Vorwurf, das es zwischen dem ihm anvertrauten Amt und seiner persönlichen Glaubwürdigkeit eine Lücke geben könnte, traf ihn hart.
Ethisch gebundene Verantwortung und politische Gestaltung waren bei ihm eine biografische Einheit. Als jüngstes Kind einer kinderreichen Familie wurde er 1931 in eine fromme Bergische Familie hineingeboren. Es ist so, als ob der vom im Krieg stehenden Vater vorgeschlagene Name Johannes, vom biblischen Johannes dem Täufer, also dem der die Menschen in die Christengemeinde aufnehmende, geradezu Omen war. „Menschenfischer“ wurde Johannes Rau oft und nicht zu unrecht genannt.
Der Vater war Blaukreuzler und pietistisch geprägter Prediger. Die Mutter eine starke, lebensfrohe Frau.
Der Politiker Johannes Rau las nahezu täglich in der Bibel oder zumindest die Herrnhuter Losungen, aber er war nicht frömmelnd. Bis in den vielfach allzu weltlichen politischen Alltag hinein, spürte man, dass er durch seinen Glauben „gehalten“ war. „Teneo quia teneor“, ich halte, weil ich gehalten werde, war für ihn mehr als ein Konfirmandenspruch.
Aufgewachsen an der Grenze zwischen dem Westfälischen und dem Rheinischen, im Bergischen Wuppertal, hatte er wie er paradoxierend immer spöttelte etwa von der „Leichtigkeit“ der Westfalen und von der „Bodenständigkeit“ der Rheinländer.
Die Lebenszugewandtheit und die Fähigkeit zum humorvollem Witz, das selbstbewusste Understatement, die Selbstdisziplin und die Aufopferungsbereitschaft gingen bei ihm eine Charaktersymbiose ein. Viele, die ihn als pilstrinkenden und skatklopfenden Anekdotenerzähler abtaten, konnten gar nicht erahnen, wie viel Fleiß und Mühe bis zur Auszehrung hinter dem fröhlichen und unverkrampften Menschen nach außen standen. Es gab manche Gegner, die ihm nach knapp zwanzigjähriger Amtszeit als Ministerpräsident landesväterliche, ja sogar „monarchische“ Züge nachsagten, sie alle haben übersehen, wie geradezu asketisch und bescheiden seine persönlichen Ansprüche an materielle Dinge waren. Hummer, Kaviar und Champagner waren ihm zuwider, mit Suppe und Frikadelle konnte er sich gut ernähren, einen Frack oder gar Cut hatte er lange Zeit nicht und sie blieben ihm immer fremd und selbst von den altmodisch gewordenen Anzügen mochte er sich nur schwer trennen.
Er gönnte sich zunehmend weniger Schlaf und seine engsten Mitarbeiter fürchteten seine Anrufe in aller Herrgottsfrühe, in denen er Nachfragen zu nächtlings studierten Vermerken hatte. Er hatte die akribische und sachkundige Zeitungslektüre schon längst hinter sich, wenn ich als sein Sprecher, sich noch die Müdigkeit von der nächtlichen Begleitung am vorigen Abend wegzuduschen versuchte.
Weil es viele selbst erfahren hatten, hat sich herumgesprochen, dass es sich Johannes Rau nicht nehmen ließ, unzählige persönliche Briefe zu schreiben, ob mühevoll und geradezu kaligrafisch mit der Hand oder auf dem Laptop. Kaum einer hat sich Gedanken darüber gemacht, zu welchen Nachtzeiten die Zeilen geschrieben werden mussten, weil der Terminplan des Tages dafür nicht die Lücke ließ.
Offenheit, Fröhlichkeit und Humor, Einsatz bis zur Selbstausbeutung, sich kümmern um die kleinsten Angelegenheiten, Beharrlichkeit, höchste Forderungen an sich selbst und seine Mitarbeiter, Geduld statt Konflikt, auf diese Charaktereigenschaften baute sich eine der bedeutendsten Karrieren dieses Nachkriegspolitikers auf.
Dabei hat die Tatsache, dass er in den Wirren der Nachkriegszeit das Gymnasium verlassen hatte, seinen späteren Wissensdurst eher angespornt. Dass er Wissenschaftsminister ohne Abitur und Studium geworden ist, hat damals viele verwundert. Wenn man weiß, dass Johannes Rau dabei eine nicht erfüllbar gewesene Sehnsucht zur Wissenschaft beherrschte, wundert man sich nicht mehr.
Johannes Rau, der die Bildungsreform der sechziger Jahre als bildungspolitischer Sprecher mit den legendären blauen Broschüren nicht nur mit angestoßen – er hat sie umgesetzt. Er hat fünf Gesamthochschulen in Duisburg, Essen, Paderborn, Wuppertal und Siegen gegründet und die in den siebziger Jahren noch visionäre Fernuniversität Hagen auf den Weg gebracht. Nicht nur, weil für ihn Wissenschaft und Forschung ein zentrales Feld politischen Handelns waren, sondern weil er der festen Überzeugung war, dass Bildung und Qualifikation für junge Menschen und innovatives Wissen der entscheidende Motor für den herannahenden Strukturwandel des von Kohle und Stahl geprägten industriellen Kernlandes NRW waren.
Auch als Ministerpräsident blieb er im Herzen immer auch Wissenschaftsminister und an seinem Kabinettstisch saßen neben dem jeweils amtierenden Wissenschaftsminister eine zeitlang mit Anke Brunn, Reimut Jochimsen, Rolf Krumsiek, Hans Schwier und der ehemalige Wissenschaftsstaatsekretär Herbert Schnoor mehrheitlich ehemalige Wissenschaftspolitiker.
Seine Reden zu Bildung und Wissenschaft als Bundespräsident füllten ein ganzes Buch. „Den ganzen Menschen bilden – wider den Nützlichkeitszwang“ ist sein leidenschaftliches Plädoyer und mit jeder Zeile beschämt er die modernistischen Bildungs-„Reformer“, die in einem Studium nur noch ein privates Investment zur unternehmerischen Verwertung der eigenen Arbeitskraft und in den Hochschulen nur noch auf dem Bildungsmarkt konkurrierende, nach betriebswirtschaftlicher Effizienz geführte Unternehmen sehen wollen.
Er konnte in seinen Kabinetten so unterschiedliche Temperamente, Talente und Begabungen wie den liberalen Rechtspolitiker Herbert Schnoor und das sozialdemokratische „Urgestein“ Hermann Heinemann, den in wissenschaftlicher Distanz und Detailbesessenheit vortragenden Wirtschaftsprofessor Jochimsen und den emotional hoch engagierten und heißblütigen Klaus Matthiesen, den intellektuell brillanten und deshalb manchmal arrogant argumentierenden Christop Zöpel und den immer Gewerkschafter gebliebenen Heinz Schleuser, die zähe und niemals aufgebende Anke Brunn und den väterlichen Hans Schwier nach oft stundenlangen Debatten nicht nur zusammenhalten und zusammenführen, sondern ohne ausdrückliche eigene Vorgabe zu dem Ergebnis führen, das ihm vielleicht zu Beginn der Debatte noch gar nicht ganz klar war, aber zu dem von ihm gewünschten Ergebnis führen – mit allen notwendigen Differenzierungen.
Sogar den ungestümen, vom Zeitungsjournalismus geprägten Stil von Wolfgang Clement konnte er als Chef der Staatskanzlei mit kleinen Fingerzeigen dämpfen.
Es ist immer schwierig „der“ Politik bestimmte Entwicklungen und Resultate unmittelbar zuzuschreiben und der persönliche Beitrag bedeutender Politiker ist immer nur schwer auszumachen. Dass aber das Ruhrgebiet fast eine halbe Million Bergleute und mehr als zweihunderttausend Stahlarbeiter und der Niederrhein und das Münsterland hunderttausende in der Textilindustrie Beschäftigte verloren hat, ohne dass es zu Unruhen gekommen ist und ohne dass die Menschen „ins Bergfreie“ gefallen sind, das hat ganz viel mit Johannes Rau zu tun.
Dass eine Hochschulwüste, wie das Ruhrgebiet bis in die sechziger Jahre eine war, heute eine der dichtesten Hochschullandschaften ist, hat sehr viel mit Johannes Rau zu tun.
Dass Nordrhein-Westfalen kein von der britischen Besatzungsmacht zusammengestückeltes Bindestrichland, sondern ein Land mit einer eigenen Identität und gar einem Heimatgefühl geworden ist, hat noch mehr mit Johannes Rau zu tun.
Dass es zu einer Respektierung zwischen Israel und Deutschland, ja sogar zu Freundschaften zwischen Juden und Deutschen gekommen ist, daran hat Johannes Rau einen hohen Anteil. Das bewies nicht zuletzt seine Rede in deutscher Sprache vor der Knesset. Seine persönliche Wertschätzung die er in Israel genoss, zeigten die tröstenden Worte von Shimon Peres nach seiner Abstimmungsniederlage in der Bundesversammlung: „Johannes, komm zu uns, bei uns hast Du die Mehrheit auf Deiner Seite.“
Dass ihn dennoch Yassir Arafat als einen „Neffen im Geiste für den Friedensprozess“ im Nahen Osten bezeichnet hat, ist wieder ein Ausdruck der Fähigkeit von Johannes Rau, Brücken zu bauen, Menschen, ja sogar Feinde zusammenführen.