Der „schmerzvolle Kompromiss“ in Brüssel aus Sicht der griechischen Regierung

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Noch bevor die neue Vereinbarung in Brüssel am Montagmorgen erzielt wurde, hat der griechische Wirtschaftsminister Giorgos Stathakis, der zugleich einer der drei wichtigsten wirtschaftspolitischen Ratgeber von Regierungschef Tsipras ist, folgende Einschätzung gegeben. Der hier leicht gekürzte Text, der vor allem auf die „verständlichen Problematisierungen und Zweifel“ innerhalb und außerhalb der Regierungspartei Syriza eingeht, erschien gestern – also noch vor der in Brüssel geschlossenen Vereinbarung – in der Internet-Ausgabe der linken (genossenschaftlich organisierten)  Tageszeitung Efimerida ton Syntakton. Übersetzung von Niels Kadritzke

Über die „neue Vereinbarung“
 
Von vielen Seiten wird die Frage gestellt: Was sind die Vorteile dieser Vereinbarung und welche Perspektiven eröffnet sie für die griechische Wirtschaft?

Erstens: Die Grundsubstanz der Übereinkunft ist ein neuer langfristiger Kredit vom Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der die kurzfristige Kreditierung der griechischen Volkswirtschaft durch den IWF und die EZB ablösen wird. Die Ersetzung kurzfristiger Darlehen für den Zeitraum 2015 bis 2018 durch Kredite mit 30jähriger Laufzeit stellt eine Mini-Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld dar.

Zweitens: Obwohl das jetzige Abkommen viele Maßnahmen enthält, die in Richtung Rezession wirken, lässt es sich in keiner Weise mit den Memoranden 1 und 2 (von 2010 und 2012) vergleichen. Die früheren Programme beinhalteten eine „Anpassung“ der öffentlichen Haushalte um 15 Prozent des BIP innerhalb von vier Jahren und Kürzungen von Renten und Gehältern im Bereich zwischen 30 und 40 Prozent. Die Haushaltskürzungen, die das neue Abkommen enthält, sind viel milder. Es sieht einen deutlich niedrigeren Primärüberschuss vor, der schrittweise bis 2018 erreicht werden soll, und flexiblere Methoden, was das Erreichen dieses Zieles betrifft. Das bedeutet, dass die Anpassung der Haushaltsplanung pro Jahr im Bereich von 1 Prozent des BIP liegen wird.

Drittens: Der Text formuliert Vorbedingungen, die in bestimmten Punkten einen Rückzug (von unseren alten Positionen) fordern, doch in anderen Punkten ist es uns gelungen, einen Kompromiss zwischen der griechischen Regierung und ihren Gläubigern zu erzielen. Zum Beispiel musste die Regierung in der Frage der Privatisierungen und der Warenmärkte bedeutende Zugeständnisse an die Institutionen machen. …

Viertens und letztens: Die Regierung geht davon aus, dass sie innerhalb der neuen Vereinbarung einen klaren Zeitplan durchsetzen kann, was die absolut notwendige Diskussion über eine Umstrukturierung der öffentlichen Schulden Griechenlands betrifft, und zwar über die Kredite des ESM wie auch der Mitgliedsländer für die gesamte Periode 2022 bis 2048.

Die oben dargestellten Punkte stellen die Gründe dar, aus denen die Zustimmung zu einer neuen Vereinbarung als notwendig zu erachten ist; aber ebenso viele Gründe gibt es, die eine Ablehnung (der Vereinbarung) außerordentlich problematisch machen würden.

Erstens: Sowohl der Wählerauftrag (vom 25. Januar) als auch unser erklärtes Ziel, das wir mit dem Referendum verfolgt haben, war nicht der Austritt aus der Eurozone. Heute stellt der Grexit nicht etwa eine vage Bedrohung dar, sondern eine reale Möglichkeit, deren Verwirklichung unmittelbar einsetzen wird, falls die Verhandlungen zusammenbrechen. Dieses Szenario hätte konkrete und spürbare Folgen für die griechische Gesellschaft, die sich im Fall der Ablehnung einer „neuen Vereinbarung“ ergeben würden.

Ein Grexit unter den gegenwärtigen Bedingungen würde einen unkontrollierten Bankrott mit dramatischen Folgen bedeuten, als da wären: die unmittelbare Liquidierung von 50 Prozent der Bankguthaben der griechischen Bürger, die brutale Minderung der Gehälter und der Renten, die Entwertung vieler materieller und immaterieller Güter von Tausenden griechischen Unternehmen.

Eine solche Option ist für eine linke Regierung politisch ausgeschlossen. Eine linke Regierung mit dem Bankrott des Landes zu identifizieren, ist einfach undenkbar, zumal dies den ärmeren Schichten eine weit größere Beeinträchtigung ihres Lebensstandards bringen würde als alle Maßnahmen innerhalb der „neuen Vereinbarung“.

Des weiteren ist zu bedenken: Jenseits der unmittelbaren Folgen eines Austritts aus der Eurozone setzt die hypothetische Perspektive im Zuge eines Grexit der griechischen Wirtschaft voraus, dass man über Devisenreserven verfügt, die das Land derzeit nicht hat – und angesichts unserer  negativen Handelsbilanz auch nicht rasch bilden könnte.

Angesichts dessen würde das Land, da es von den Märkten abgeschnitten ist, neue Kredite benötigen, also wahrscheinlich neue entsprechende Anträge an den IWF stellen müsste. Das ergibt sich aus den früheren Erfahrung europäischer Länder mit eigener Währung, wie etwa Ungarns, Rumäniens und Lettlands, die während der Krise gezwungen waren, sich an den IWF zu wenden, um ihre ökonomischen Schwierigkeiten zu bewältigen.

Aber auch jenseits solcher Fragen, die sich in dieser Situation unmittelbar stellen, wirft die „neue Vereinbarung“ eine weitere Frage auf. Sind die griechische Wirtschaft und Gesellschaft in der Lage, wieder eine Dynamik zu entwickeln? Unter den jetzigen Bedingungen – da das Land alle ausstehenden Schulden abzahlen muss, da es seit fast einem Jahr keine zusätzlichen Finanzmittel mehr bezogen hat, und das es Kapitalverkehrskontrollen einführen musste – hat unsere Wirtschaft eine leichte Rezession zu verzeichnen. Angesichts der Ungewissheit, die durch den Druck unserer Gläubiger erzeugt wurde… kann man unterstellen, dass der Abschluss einer Vereinbarung die Wachstumsimpulse für die griechische Wirtschaft wieder freisetzen würde. In Verbindung mit einem sofort wirksamen Entwicklungspaket könnte dies dazu führen, … dass die griechische Wirtschaft ab nächstem Jahr potentiell zum Wachstum zurückfindet.

Vor allem aber werden wir, ganz unabhängig von der neuen Vereinbarung, … die zentralen Strukturen in allen Bereichen der griechischen Gesellschaft verwirklichen müssen, die wir versprochen haben und die man von uns fordert. Die Veränderungen im Gesundheitswesen, im Bildungssektor, in der öffentlichen Verwaltung, in den Beziehungen zwischen öffentlichem und privaten Sektor, die Förderung von Forschung und Innovation, die Herausbildung eines neuen wirtschaftlichen Entwicklungsmodells, die Erweiterung der genossenschaftlichen Ökonomie, all dies müssen wir anpacken, ohne einen einzigen Tag zu verlieren.

Langfristig wird man den Erfolg dieser Regierung daran messen, was sie von diesen genannten Zielen umgesetzt hat – und nicht daran, ob sie es ohne demokratischen Auftrag zugelassen hat, dass das Land im ungeregelten Bankrott unter einer nationalen Währung versinkt.