Kritik an Habermas‘ SZ-Artikel „Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist“
Die NachDenkSeiten wurden von einer Reihe ihrer Leserinnen und Leser auf den Beitrag von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung vom 22. Juni aufmerksam gemacht. Die Hinweise waren ausnahmslos verbunden mit lobenden Worten, so wie auch in den Hinweisen des Tages von heute vermerkt. In der Tat enthält der Beitrag von Habermas eine Reihe von richtiger Kritik an der Griechenland-Politik Merkels und unserer Regierung. Aber die Freude darüber sollte uns nicht übersehen lassen, dass Habermas bei entscheidenden Fragen und Antworten falsch liegt. So schwierig es ist, eine so angesehene Person zu kritisieren, ich will es um der Sache willen versuchen. Schließlich gehen wir schon mindestens 15 Jahre lang falsche Wege in Europa und sollten das nicht weiter tun. Albrecht Müller.
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Die guten Seiten des Artikels muss ich nicht aufzählen – denke ich? Zur Kritik:
- Der Kern: Habermas sieht die Heilung in einer Reform der Institutionen, in einer Stärkung der politischen Union in Europa.
Er spricht von einer „Fehlkonstruktion einer Währungsgemeinschaft ohne politische Union“. Die Währungsgemeinschaft bleibe instabil, „solange sie nicht um eine Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion ergänzt wird“. Das verlange „den Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer politischen Union“. Und dann lobt er den EZB Präsidenten Draghi für dessen Einsicht: „Wir müssen wegkommen von einem Regelsystem für nationale Wirtschaftspolitik und stattdessen mehr Souveränität an gemeinsame Institutionen abgeben“. Und Habermas kommentiert diese Aussage Draghis so:
„Hier sprach jemand, der erfahren hatte, dass das Gerangel hinter verschlossenen Türen zwischen Regierungschefs, die nur an ihre nationale Wählerklientel denken, nicht ausreicht, um zu notwendigen fiskal-, wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen zu gelangen.“
Habermas übersieht, dass ein wichtiges Teil der Fehlkonstruktion darin liegt, dass die Währungsunion geschaffen wurde, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich die Leistungsbilanzen der einzelnen Teile der Währungsunion nicht himmelweit auseinander entwickeln. Selbst wenn es einen Schuldenschnitt gäbe, kann Griechenland wie auch andere Länder in der Währungsunion nur dann reussieren, wenn die anderen Partner ihm Luft lassen, zu exportieren bzw. im konkreten Fall Dienstleistungen zu erbringen, die von Kunden innerhalb und außerhalb des Währungsraums nachgefragt werden. Dazu gehört im konkreten Fall beispielsweise auch, dass die Masseneinkommen zum Beispiel im europäischen Norden so expandieren, dass das Tourismusgeschäft im Süden floriert. Was das konkret in einer Währungsunion ohne die Möglichkeit der Anpassung der Währungsrelationen bedeutet, haben wir und hat zum Beispiel Heiner Flassbeck, seitenlang abgehandelt: die Löhne im Norden müssen stärker steigen als bisher. Diese Länder, unter anderen Deutschland, hätten ihre Binnennachfrage stärken müssen, statt exorbitante Leistungsbilanzüberschüsse anzusammeln und damit praktisch auch Arbeitslosigkeit zu exportieren. Fazit: Die bessere Koordinierung der Politik in einer politischen Union macht nur dann einen Sinn, wenn Teil dieser Politik auch die ausgleichende Koordinierung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Teile der Währungsunion ist.
Statt eine solche Politik zu betreiben, wurden die Leistungsbilanzüberschuss-Länder auch aus Brüssel ermuntert, diese Politik zu verfolgen. Das war und ist Teil der gemeinsamen Ideologie. In jedem Fall kamen aus Brüssel vom zuständigen Währungskommissar und der Kommission insgesamt und auch vom europäischen Rat keine Mahnungen, diese Politik zu verändern. Es wäre aber die Aufgabe der Kommission und insbesondere des Währungskommissar gewesen, darauf zu achten, dass sich in der Währungsunion – also ohne die Möglichkeit der Wechselkursanpassung – die Leistungsbilanzen der einzelnen Partner der Währungsunion nicht so extrem auseinander entwickeln.
Wo sind denn die Mahnungen aus Brüssel aus den Jahren 2005 ff? Es gibt sie offensichtlich nicht, jedenfalls nicht hörbar. Es gibt sie nicht, weil in Brüssel die gleiche Ideologie verfolgt wurde wie in Berlin.
Angesichts dieser Erfahrung ist es nicht angebracht, in der politischen Union und damit in der Verlagerung der politischen Macht auf die europäischen Institutionen die Lösung des Problems zu sehen. Für die Stärkung der politischen Union kann man eintreten, aber dann sollte man sich auch die Fakten anschauen. Bei Jürgen Habermas habe ich das Gefühl, dass er die Lösung „Politische Union“ wie eine Blackbox als Heilmittel einsetzt und dass er damit letztlich auch der Gefangene einer schon seit längerem von ihm vertretenen Vorstellung ist. - Es ist fraglich, ob die Hauptursache der Fehlentwicklung in der Rücksicht auf nationale Interessen und die nationalen Wählerrinnen und Wähler zu suchen ist. Meines Erachtens ist die herrschende neoliberale Ideologie und die Rücksicht auf die Interessen der Finanzwirtschaft viel entscheidender.
Schäuble und Merkel folgen einer Ideologie wie ihre Partner in Brüssel und den meisten europäischen Ländern auch: Sparen ist gut, bei Exportüberschüssen bekommen sie glänzende Augen, nicht nur in Berlin, Reformen sind nötig, der Sozialstaat ist schuld am europäischen Elend, die öffentlichen Leistungen müssen heruntergefahren werden, Privatisierung ist gut, diese muss man selbst dann durchziehen, wenn öffentliches Eigentum auf diese Weise verscherbelt wird etc.
Auf die wirklichen Interessen der Mehrheit in Deutschland hat die Bundesregierung mit ihrer Verherrlichung der „Exportüberschüsse“ und damit in der Regel auch der Leistungsbilanzüberschüsse keine Rücksicht genommen. Real entspricht ein Leistungsbilanzüberschuss von 219 Milliarden wie 2014 und davor viele Jahre ebenfalls im dreistelligen Milliarden-Bereich dem Export von Wohlstand. Wir haben unter unseren Verhältnissen gelebt.
Dass eine solche Politik als Vorteil verkauft werden kann, hat mehrere Gründe:
- Auf diese Weise kann Arbeitslosigkeit exportiert werden. Das ist ein realer Vorteil, zumindest erscheint er kurzsichtigen Politikern und Beobachtern so, aber so kann eine Wirtschafts- und Währungsunion nicht überleben.
- Diese Politik erscheint als Vorteil, weil die exportorientierte Wirtschaft davon profitiert. Sie hat in Deutschland offensichtlich das Sagen.
- Leistungsbilanzüberschüsse haben in Deutschland einen guten Ruf, weil die Propaganda jede Einsicht in die wirklichen ökonomischen Zusammenhänge erschlagen hat. Meinungsmache beherrscht die Wirtschafts- und Finanzpolitik. (Das sage ich auf dem Hintergrund einer eigenen anderen Erfahrung: 1969 hat der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller eine Aufwertung der D-Mark mitten im Wahljahr propagiert und gegenüber dem Dollar durchgesetzt, weil er den Mut hatte zu sagen: Leistungsüberschüsse sind nicht gut für das Ganze – die Weltwirtschaft –und sie sind schlecht für unser Volk, weil wir Wohlstand verschenken.
- Habermas sieht oder würdigt nicht ausreichend, dass die aktuelle Politik der Gegner und Kritiker Griechenlands wesentlich davon bestimmt wurde und wird, dass die führenden Personen und die dahinter stehenden politischen Parteien der neuen griechischen Regierung und der dahinter steckenden politischen Bewegung keinen Erfolg gönnen können und wollen. Prinzipiell gilt: es gibt zur herrschenden neoliberalen Ideologie keine Alternative. TINA – dieses Prinzip würde durchlöchert, wenn Tsipras mit seiner politischen Bewegung und seiner Alternative einen Erfolg hätte.
In Habermas Beitrag für die Süddeutsche Zeitung schlägt sich dieser Gedanke viel zu wenig nieder. Schon deshalb gilt:
- Die Kritik an der neuen griechischen Regierung ist zum Teil unberechtigt und unfair.
„Tsipras und Syriza hätten das Reformprogramm einer linken Regierung entwickeln und damit ihre Verhandlungspartner in Brüssel und Berlin ‚vorführen‘ können“,
schreibt Habermas. Und weiter:
„Die linke Regierung hätte ganz im Sinne des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers (Amartya Sen, d.Verf.) eine keynesianische Entmischung der Merkel’schen Medizin vornehmen und alle neoliberalen Zumutungen konsequent zurückweisen können; aber gleichzeitig hätte sie ihre Absicht glaubhaft machen müssen, die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft durchzuführen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen usw.“ Stattdessen habe sie sich „aufs Moralisieren verlegt“. Habermas spricht in diesem Zusammenhang vom „schwachen Auftreten der griechischen Regierung“.
Von der Ferne kann man leicht so urteilen. Ich kann dieser Beschreibung und Beurteilung der neuen griechischen Politik nicht folgen. Da mag es da und dort Schwächen und Albernheiten gegeben haben. Aber der neuen griechischen Regierung vorzuwerfen, sie hätte kein Reformprogramm gehabt, ist nicht berechtigt. Jedenfalls folgte ihr bisheriger Misserfolg nicht aus einem Mangel an Reformvorstellungen.
Außerdem: Die Vorstellung, die griechische Regierung hätte die Verhandlungspartner in Berlin und Brüssel „vorführen können“, zeugt von Verkennung der Realität. Habermas sieht offenbar nicht, in welcher Weise die öffentliche Meinung speziell in Deutschland gegen Griechenland mobilisiert, ja geradezu aufgehetzt worden war. Nicht erst jetzt, schon seit 2010. Die – von Äußerungen von Politikern gestützten – Kampagnen der Bild-Zeitung und angeblich seriöser Blätter gegen Griechenland und für die sogenannten Reformen haben wir schon des Öfteren beschrieben. Die aufgeheizte Stimmung gegen ein europäisches Volk, gegen die „Pleite-Griechen“ ist eine Realität, mit der die neue griechische Regierung fertig werden musste. Sie konnte aber damit nicht fertig werden.
Übrigens waren schon die Vorgängerregierungen mit dieser Situation konfrontiert.Habermas kritisiert, in Athen habe man keinen vernünftigen Versuch gemacht Koalitionen zu bilden. Diesen Teil seiner Kritik verstehe ich einfach nicht. Welche Koalitionen hätten die Verhandlungen mit Berlin und Brüssel und Washington (Internationaler Währungsfonds) erleichtern sollen?
Anmerkungen zum Schluss:
Falsche Diagnosen und daraus abgeleitete ungeeignete Therapien sind nicht nur im Falle Griechenlands gefährlich. Es gibt eine Reihe anderer Länder und Völker in der Europäischen Union, die in ähnlicher Weise wie Griechenland unter die Räder kommen können und sogar schon nahe daran sind, wenn man die Probleme Europas vor allem darin sieht, dass es keine politische Union gibt.
Es kommt auch auf anderes an: Zum Beispiel darauf, jedem Volk die Möglichkeit zu lassen und zu geben, die eigenen produktiven Möglichkeiten zu entwickeln und arbeitsteilig konkurrenzfähig zu sein.
Es käme beim Blick auf die Zukunft der europäischen Völker auch darauf an, sich einiger Errungenschaften in europäischen Ländern zu erinnern – zum Beispiel der sozialen und der wirtschaftlichen Vorteile der Sozialstaatlichkeit, zum Beispiel der Vorteile der öffentlichen Daseinsvorsorge, zum Beispiel der Vorteile einer aktiven Beschäftigungspolitik.
Die Überwindung der allumfassenden Gültigkeit des TINA-Prinzips ist für die Zukunft Europas mindestens so wichtig wie die politische Union.