Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Was braucht der Mensch? 2/2
Im gestrigen Artikel wurde nachgezeichnet, wie seit Wochen mehrere große Medien die öffentliche Debatte über die zunehmende Armut in Deutschland zu beeinflussen versuchen, indem sie die allseits gebräuchliche und auch wissenschaftlich anerkannte Armutsdefinition mit absurden Argumenten beiseite wischen wollen. Dass diese Debatte nun ausgerechnet von der Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles aufgegriffen und dadurch mit einem noch höheren Gewicht versehen wurde, zeigt auf, wie wichtig die Aufklärung über das Problem der „relativen Armut“ ist. Von Lutz Hausstein [*]
Nach wie vor beherrschen Stammtischparolen das öffentliche Meinungsbild, sobald von (relativer) Armut in Deutschland die Rede ist. Da es „uns“ ja gut gehe, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht müde wird, beständig zu betonen, ist in dieser Logik natürlich auch Armut in Deutschland nur ein Hirngespinst. Immer wieder wird holzschnittartig auf Phrasen wie „Jammern auf hohem Niveau“ zurückgegriffen, ohne dabei die Absurdität dieses vermeintlichen „Arguments“ auch nur einmal zu reflektieren. Die reflexartigen Vergleiche mit Stereotypen der absoluten Armut lassen die Erscheinungsformen relativer Armut scheinbar hinter diesen verblassen. Dennoch sind die Wirkungen von relativer Armut auf die betroffenen Menschen selbst mittelfristig verheerend. Denn relativ Armen bleibt verwehrt, was gesellschaftlich übliche Normalität ist. Es ist kein „einfaches, aber gutes Leben“, das relativ Arme – abgekoppelt und einsam von der Normalität der übrigen Gesellschaft – führen müssen.
Was sind nun jedoch diese üblichen Verhaltensweisen und Verrichtungen, von denen relativ Arme häufig aufgrund ihrer fehlenden Finanzen ausgeschlossen sind? Der folgende Kurzfilm erzählt davon, welche ganz alltäglichen Sorgen relativ Arme in Deutschland haben.
Armut für seine Bürger zu beseitigen und zu verhindern, ist eine der Kernaufgaben der Bundesrepublik Deutschland und schon mit dem Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verankert. Mit der Pflicht zur Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums erkennt der Staat an, relative Armut ebenso wie absolute Armut innerhalb der Geltungsgrenzen seines Grundgesetzes nicht zuzulassen. Dem wird er jedoch mit seinem praktischen, konkreten Handeln immer weniger gerecht.
Der stetige Anstieg der Armutszahlen spiegelt diese Pflichtverletzung auch quantitativ wider. Die Grundlage für diese Entwicklung wurde mit der Agenda 2010 und den mit ihr verbundenen Gesetzen gelegt. Mit repressiv wirkenden Gesetzen werden Arbeitslose gezwungen, (fast) jede nur erdenkliche Arbeit, unabhängig von ihrer Qualifikation, Eignung und persönlichen Vorlieben, aber auch der Entlohnung, anzutreten. Die solcherart erzeugte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schlägt sich bis zum heutigen Tage in zurückbleibenden Löhnen, insbesondere bei den ohnehin schon niedrigsten Löhnen, nieder. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft so immer weiter auseinander.
Dabei kommt der Höhe des Arbeitslosengeldes II, umgangssprachlich auch mit Hartz IV bezeichnet, eine entscheidende Rolle zu. Je niedriger das ALG II, desto stärker senken die in den Arbeitsmarkt gepressten Arbeitslosen auch die Löhne. Ganz besonders in den untersten Lohnbereichen, für die Arbeitslose, vermeintlich mit (multiplen) Vermittlungshemmnissen behaftet, laut Lesart der Bundesagentur für Arbeit ausschließlich geeignet sein sollen. Auch aus diesen Gründen wurde das ALG II, welches, wie immer wieder regierungsamtlich betont, das Existenzminimum darstellen soll, seit Einführung des Hartz IV-Regelsatzes 2005 beständig politisch kleingerechnet. Auch die vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 festgestellte Verfassungswidrigkeit der Regelsatzhöhe und die dadurch erzwungene „Neuberechnung“ wurde von der Bundesregierung mittels der dafür sachlich nicht geeigneten EVS-Statistikmethode, zuzüglich weiterer teils obskurer, Abschläge auf den Regelsatzbetrag unterlaufen.
Ein völlig anderer Ansatz liegt der Studie zur Höhe der sozialen Mindestsicherung „Was der Mensch braucht“, die in wenigen Tagen erscheinen wird, zugrunde. Die Studie basiert auf der Warenkorbmethode, die durch ihre Herangehensweise nicht nur die Vermeidung absoluter Armut zum Ziel hat, sondern gleichfalls, entsprechend dem Grundgesetz, relativer Armut. Auch das Bundesverfassungsgericht betonte mehrfach, dass ein Mindestmaß an sozio-kultureller Teilhabe unverfügbarer Teil des Existenzminimums ist. Mittels der Sicherstellung sozio-kultureller Teilhabe wird jedoch relative Armut vermieden – und damit die finanziell erzwungene Exklusion von Menschen aus unserer Gesellschaft. Dieser Festlegung wird die Studie „Was der Mensch braucht“ gerecht, denn sie berücksichtigt die Integration armer Menschen, die ja keineswegs nur unter Arbeitslosen zu finden sind, in der Berechnung des Existenzminimums. Dies wäre ein großer Schritt auf dem Umkehrweg zu wieder mehr sozialer Gerechtigkeit und zum immer brüchiger werdenden sozialen Frieden in Deutschland. Dem sollte sich eine vermeintlich linke, sozialdemokratische Sozialministerin mehr als nur verpflichtet fühlen.
[«*] Lutz Hausstein (46), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.