Rückkehr zur Vernunft: Was Deutschland jetzt braucht
Von Albrecht Müller, Beitrag für „Die Pfalz“, Zeitschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft
Etwas für „Die Pfalz“, das Organ der Pfälzer in Bayern, zu schreiben ist reizvoll. Es lässt mich an die spannenden Jahre denken, die ich als Student und wissenschaftlicher Assistent an der Universität in München verbracht habe, damals noch (nur) als Kurpfälzer. Ich könnte von der Liberalität und Ideologiefreiheit schwärmen, die in der Staatswirtschaftlichen Fakultät am Siegestor und weit darüber hinaus in der wirtschaftspolitischen Debatte zuhause war. Spanne ich den Bogen auf heute, dann vergeht mir das Schwärmen, weil ich notieren muss, welcher Dogmatismus inzwischen dort eingezogen ist.
Unsere öffentliche Debatte ist von einem Wust von Vorurteilen und Denkfehlern, von Mythen, Legenden und auch von Lügen geprägt. Weil die öffentliche Debatte eine so miserable Qualität hat, leidet auch die Qualität der politischen Entscheidungen. Mit diesem Zusammenhang beschäftige ich mich spätestens seit meiner Münchener Zeit, zuletzt in meinem Buch „Die Reformlüge“. Wenn wir bessere politische Entscheidungen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die öffentliche Debatte rationaler, besser und kompetenter verläuft.
„Was braucht Deutschland jetzt? Zur Beantwortung dieser Frage versetze ich mich in die Rolle der künftigen Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers und stelle mir vor, was sie/er in der ersten Regierungserklärung sagen könnte:
„Was braucht Deutschland jetzt? Uns mangelt es zu allererst an einer undogmatischen Wirtschaftspolitik. Deshalb haben wir uns auf eine pragmatische Kombination von sogenannten keynesianischen Methoden, um die Konjunktur anzuschieben, mit angebotsökonomischen Instrumenten, um das Land und die hier Arbeitenden weiter fit zu halten, verständigt.
Unsere Wirtschaft ist ausgesprochen wettbewerbsfähig. Das hat viel mit den Qualitäten unseres Landes zu tun. Wir leben in einem lebenswerten Land. Wir haben Regeln des Zusammenlebens entwickelt, die man mit Fug und Recht ein Modell nennen kann:
Der soziale Friede war bisher einzigartig. Wir werden alles tun, um ihn zu erhalten. Wir werden die Arbeitnehmer und die Tarifpartner ermuntern, zu besseren Löhnen und Gehältern zu kommen. In den letzten 10 Jahren lag die Lohnentwicklung unterhalb des Produktivitätsfortschritts. Diese ungerechte Entwicklung dient nicht dem sozialen Frieden. Mein Vorgänger hat schon im Wahlkampf die Arbeitnehmer zu höheren Tarifabschlüssen ermuntert. Höhere Löhne, so meinte Bundeskanzler Schröder, würden die Binnennachfrage und damit die Konjunktur stärken, sie würden die Arbeitslosigkeit senken und mehr Beiträge in die Kassen der sozialen Sicherungssysteme spülen. Gerhard Schröder hatte Recht. Es ist schade, dass ihm diese Einsicht zu spät kam.
Unser Ausbildungs- und Bildungssystem ist um vieles besser, als heute behauptet wird. Anders ist die Konkurrenzfähigkeit unserer Betriebe auf den Weltmärkten nicht zu erklären. Wo Schwächen sichtbar sind, werden Bund und Länder gemeinsam und jeder nach seiner Verantwortung nachhelfen: für eine bessere Ausstattung der Universitäten, für mehr Kontrolle und Motivation der Lehrenden, für neue Unterrichtsmethoden in den Schulen und eine bessere Lehrer-Schüler-Relation, für mehr Ganztagsschulen, mehr Musikunterricht, weniger Fernsehen … und weniger Gewalt auf dem Bildschirm. Die schrittweise Entkommerzialisierung des Fernsehens ist, wenn uns das gelänge, einer wichtigen Voraussetzungen dafür, die jungen Menschen in Deutschland gut zu bilden und auszubilden. Das sind Reformen, die wir wirklich brauchen.
Wir haben eine vergleichsweise gute Infrastruktur. Sie war und ist wichtig für die Qualität des Standorts Deutschland. Wo sie unter der Finanzschwäche des Staates, vor allem der Gemeinden, leidet, wollen wir aktiv werden. Wir werden den Gemeinden wieder mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. – Deutschland liegt in der Mitte Europas und wird zusehends zur Verkehrsdrehscheibe des europäischen Lkw-Verkehrs. Wir stehen in der Gefahr, im europäischen Verkehr zu ersticken. In dieser Situation hilft der Bau neuer Autobahnen wenig; wir werden versuchen, unnötige Verkehre zu vermeiden und wir werden große Investitionen in den transnationalen Schienenverkehr machen müssen, um einen messbaren Anteil des Lkw-Verkehrs auf die Schiene zu verlagern. Wir werden diesen internationalen Verkehr einschließlich der PKW an den Investitionskosten beteiligen.
Menschen, die sich sicher fühlen, sind produktiver als solche in Not und in ungesicherten Arbeitsverhältnissen. Jeder vernünftige Arbeitgeber weiß das. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, dass wir den vermeintlichen Trend zu ungesicherten Arbeitsverhältnissen umkehren wollen. Wir werden ein Programm zur Sicherung der Normalarbeitsverhältnisse starten. Dabei sind wir uns mit vielen Unternehmern einig. Diese haben begriffen, dass die eigene Wettbewerbsfähigkeit von der Qualität der im Unternehmen arbeitenden Menschen abhängt und dass ein sicheres Arbeitsverhältnis und ein humaner Kündigungsschutz wichtige Voraussetzungen für die Produktivität der Mitarbeiter sind.
Wir müssen alles tun, um unsere Außenwirtschaftsbeziehungen und Hilfen in der EU neu zu gestalten. Wir sehen nicht ein, dass wir für ein Land wie Irland, die Slowakei oder Ungarn weiter netto zahlen, wenn diese Länder von uns Unternehmen mit Dumping-Steuersätzen weglocken.
Wir müssen etwas tun, um dem Ausplündern gesunder deutscher Unternehmen Einhalt zu gebieten. Wir werden die seit 2002 gültige Steuerbefreiung beim Verkauf von Unternehmen zurück nehmen. Sie hat das Fleddern auf ungewöhnliche Weise erleichtert.
Wichtig für die Attraktivität unseres Landes sind auch die sogenannten weichen Standortfaktoren: Wir wollen unsere einzigartige kulturelle Vielfalt erhalten. Wir wollen ein sicheres Land bleiben. Wir werden Korruption bekämpfen und damit werben; wir wollen auch damit werben, dass man sich hierzulande frei bewegen kann, ohne Angst um Leib und Leben. Es darf hierzulande nicht zur Regel werden, dass sich die besser Situierten hinter Mauern und Stacheldraht zurück ziehen müssen.
Unser Land leidet nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt unter einer konjunkturellen Krise. Weder die Regierung Kohl noch die jetzige Regierung haben darauf angemessen geantwortet. Es ist inzwischen eine gefährliche Rezession, unter der die Arbeitslosen, die Arbeitnehmer und viele auf den Binnenmarkt konzentrierte Unternehmer massiv zu leiden haben. Deshalb werden wir gemeinsam eine große Anstrengung zur Belebung der Konjunktur unternehmen. Es wird ein vielfältiges Programm sein. Im Kern steht ein Zukunftsinvestitionsprogramm. Wir werden eine zeitlich begrenzte Investitionszulage einführen. Und wir ermuntern die Tarifpartner, die Löhne und Gehälter im Rahmen der Produktivitätszuwächse steigen zu lassen.
Mit diesen Aktivitäten zur Belebung der Konjunktur werden wir die Schulden nicht vermehren; schon in kurzer Frist werden sich die Früchte zeigen. Wir werden aus Arbeitslosengeldbeziehern Arbeitslosenbeitrags- und Steuerzahler machen.
Das Wichtigste: wir haben uns darauf verständigt, unser Land und die deutsche Volkswirtschaft künftig realistisch darzustellen. Das meint, endlich wieder gut über die Strukturen des Landes und über die Qualität der Menschen, die hier arbeiten, zu reden. Das kostet kein Geld, dazu bedarf es keiner besonderen Phantasie, es bedarf nur eines wohlwollenden Sinns für die Realität. Und den Willen, mit dem eigenen Land und den hier lebenden und arbeitenden Menschen freundlicher, positiver, optimistischer umzugehen. Auf geht’s. Die Richtung stimmt.“
So könnte die Regierungserklärung klingen. Es wäre so einfach. Aber die Rückkehr zur Vernunft ist vermutlich nur ein freundlicher Traum.