Der Informationskrieg der Geheimdienste
Die Anschläge in den USA vom 11. September 2001 haben weltweit eine Gewaltwelle ausgelöst, die zu Krieg und Terror, Folter und Elend sowie zu gravierenden Menschen- und Völkerrechtsverletzungen geführt hat. Und zwar nicht allein durch die zahlreichen Terrorakte, die wir seitdem erleben, sondern in weit größerem Maße durch die Art der weltweiten Terrorbekämpfung. Der „Krieg gegen den Terror“ hat nicht nur außenpolitisch zu einem permanenten Ausnahmezustand geführt, sondern diesen auch im Innern der westlichen Demokratien etabliert, was zu einer zunehmenden Militarisierung des Zivilen, zum Erstarken insbesondere des antimuslimischen Rassismus sowie einer immer weiteren Erosion von Grund- und Freiheitsrechten geführt hat. Zur Militarisierung der inneren Sicherheit und der Rolle der Geheimdienste hierbei sprach Jens Wernicke mit Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte.
Herr Gössner, im soeben erschienenen Sammelband „Kriege im 21. Jahrhundert“ widmen Sie Ihren Aufsatz dem Thema „Informationskrieg der Geheimdienste“. Was darf man darunter verstehen? Wer führt da Krieg gegen wen?
Ich habe mich im Laufe meiner Recherchen und der Beschäftigung mit der NSA-Massenüberwachung, die Edward Snowden aufgedeckt hat, gefragt, was eigentlich hinter dem globalen und verzahnten Überwachungssystem von NSA, GCHQ, BND & Co. steckt, und wozu der ganze Aufwand eigentlich betrieben wird. Dabei habe ich eine These gewagt: Das Szenario aus wechselseitiger Digitalspionage, Massenüberwachung und militärischen Interventionen deutet meines Erachtens darauf hin, dass wir uns in einem globalen und geheimen Cyber- und „Informationskrieg“ der Geheimdienste befinden. Oder anders und allgemeiner ausgedrückt: in einem permanenten und präventiven Ausnahmezustand, der seinen Ausnahmecharakter längst verloren hat und zum staatlich-gesellschaftlichen Normalzustand geworden ist.
Dabei müssen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Informationskrieg“ eher „asymmetrisch“ denken und nicht nur in traditionellen Konstellationen wie „Wer führt da Krieg gegen wen?“ beziehungsweise in Kategorien von „blutigen“ Frontkriegen verfeindeter Nationalstaaten und ihren Armeen. Gleichwohl kommen auch durch informationell fundierte Kriegshandlungen Menschen zu Tode, denken Sie nur an die mörderischen US-Drohnenangriffe auf „Terrorverdächtige“ mit ihren verheerenden „Kollateralschäden“.
Und wie genau sieht dieser „Krieg“ dann aus? Was muss ich mir inhaltlich darunter vorstellen, wenn Sie von Cyber- und Informationskrieg sprechen und worum geht es dabei im Kern?
Es geht in erster Linie um eine flächendeckend-globale Ausforschungsarbeit der Geheimdienste, die primär der Sicherung politischer, ökonomischer und militärstrategischer Interessen dient und zwar in einer nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr bipolaren, sondern in einer weitgehend „in Unordnung“ geratenen Welt – mit all den damit verbundenen unkalkulierbaren „asymmetrischen“ Krisen, staatlichen Instabilitäten, Konflikten und Kriegen.
Der Informationskrieg der Geheimdienste dient der präventiven Vormacht- und Herrschaftssicherung einzelner Staaten und Staatengemeinschaften, denen es letztlich um wirtschaftliche Einflusszonen und geostrategische Interessen in Zeiten sich verschärfender ökonomischer Krisen, sozialen Niedergangs, drohender Rohstoffknappheit, bedrohlichen Klimawandels sowie wachsender „Flüchtlingsströme“ geht. Zu den probaten „Waffen“ in diesem Informationskrieg gehört auch die Beeinflussung von Medien und Öffentlichkeit durch gezielte Desinformationen.
Den USA als Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“ dürfte es zur Interessenswahrung vor allem darum gehen, die globale sicherheits- und wirtschaftspolitische Dominanz sowie die Dominanz der US-Informationstechnologie und strategisch wichtiger US-Unternehmen auf dem Weltmarkt zu sichern und auszubauen. Darauf deutet auch die soeben bekannt gewordene Beihilfe des Bundesnachrichtendienstes zur massenhaften Wirtschaftsspionage gegen europäische Unternehmen und Politiker im Auftrag der NSA hin.
Im Rahmen dieses Informationskrieges geht es natürlich auch um globale Krisenverhütung und -bewältigung sowie um Handels- und Ressourcen-Sicherung überall auf der Welt. Und in diesem Kontext ist auch die globale Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung zu sehen, die sowohl mit geheimdienstlichen als auch mit militärischen Mitteln betrieben wird.
Anders als immer wieder behauptet, geht es aber bei all den geheimdienstlichen Massenaktivitäten und -praktiken nicht nur darum, Staaten und ihre Bevölkerung oder ganze Staatengemeinschaften vor „Extremismus“, Terror, Gewalt und Kriminalität präventiv oder repressiv zu schützen, sondern auch darum, auf denkbare Umbrüche, soziale Unruhen oder militante Aufstände bestmöglich vorbereitet, sprich: mithilfe geheimdienstlicher Informationen gewappnet zu sein.
Die Geheimdienste entpuppen sich bei näherer Betrachtung also durchaus als präventive Vorhut militärischer Aktionen und Aufstandsbekämpfung sowie als nachrichtendienstliche Absicherungsorgane des Militärs sowie von militärischen Operationen und Interventionen. Der Cyberkrieg zielt darüber hinaus auch auf die kritische Infrastruktur anderer Staaten, um im Zweifel deren Destabilisierung im eigenen Hegemonialinteresse betreiben zu können – nicht mit herkömmlicher Waffengewalt, sondern mit der Schlagkraft informationstechnologischer Cyber-Angriffe. So etwa per Einschleusung von Sabotagesoftware, die im „Bedarfsfall“ aktiviert werden kann, um lebenswichtige Infrastukturen – wie etwa Elektrizitätswerke, Wasserversorgung, Telekommunikationssysteme, Krankenhäuser etc. – lahm zulegen oder fehlzusteuern.
„Ich komme zum zweiten Fall, jetzt in eigener Sache, so daß es nun zwangsläufig auch persönlicher wird. Wie inzwischen nachgewiesen, bin ich seit 1970 fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen vom Bundesamt für VS beobachtet und ausgeforscht worden – eine der längsten dokumentierten Überwachungsgeschichten in der Bundesrepublik. Geheimdienstlich beobachtet wurde ich als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein ganzes Arbeitsleben lang in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen – also als Publizist, Rechtsanwalt, Parlamentarischer Berater, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift Ossietzky sowie auch als Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises »BigBrotherAward«.
Ich erlebe es immer wieder, daß viele Menschen in ungläubiges Staunen verfallen, wenn sie von dieser rekordverdächtigen Überwachungsgeschichte erfahren. Kann das wirklich wahr sein, oder leidet da einer an Verfolgungswahn? Redet der von Stasi-Methoden oder vom bundesdeutschen Rechtsstaat? Und tatsächlich: Womit hat jemand in diesem Land der freiheitlich demokratischen Grundordnung verdient, sein gesamtes Studenten-, Ausbildungs- und Arbeitsleben – vier von sechs Lebensjahrzehnten hindurch – ununterbrochen von einem Geheimdienst beobachtet und ausgeforscht zu werden? Das muß doch gute Gründe im bösen Tun haben. Warum sonst wird ein Bürger dieses Landes quasi als gefährlicher Staats- und Verfassungsfeind einer solch »fürsorglichen Belagerung« (Heinrich Böll) unterzogen?
Tatsächlich geht es um mein gesamtes bewußtes Leben – und um das, was der Verfassungsschutz aus seiner selektiven, ideologisch motivierten Sicht aus diesem Leben macht: Er zeichnet in Personenakten und Schriftsätzen ein aus zeitgeschichtlichen Zusammenhängen herausgerissenes Bild, konstruiert abstruse Anschuldigungen und bedient sich einer geradezu inquisitorischen Beweisführung. Heraus kommt ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wiedererkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde. Letztlich geht es um die Deutungshoheit über ein politisches Leben, über politisches Handeln und politische Kontakte, deren sich der Verfassungsschutz mit seiner obsessiven Gesinnungsschnüffelei und seiner amtlichen Interpretation oder besser: Fehlinterpretation bemächtigte. Nun versuche ich, mir diesen Teil meiner eigenen Lebensgeschichte wieder anzueignen (…).
Diese Aufarbeitung und Selbsthinterfragung muß öffentlich geschehen. Denn auch die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre kritischen Mitglieder müssen sich angesichts eines solch exemplarischen Falles die dringliche Frage stellen, was all dies für die Meinungs- und Pressefreiheit, für Mandatsgeheimnis und Informantenschutz, für Dialogbereitschaft und Offenheit in diesem Land bedeutet. Insofern handelt es sich um ein brisantes Lehrstück in Staatskunde, ein Lehrstück in Sachen Bürgerrechte und Demokratie. Selbstverständlich ist dies kein Einzelfall, schließlich gab und gibt es zahlreiche andere Fälle von Bespitzelung mit zum Teil weit gravierenderen Folgen, und zwar in allen Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrepublik: ob in den Zeiten der Kommunistenverfolgung der 1950er und 60er Jahre, in Zeiten des Deutschen Herbstes der 70er Jahre oder erstarkender politisch-sozialer Bewegungen der 80er Jahre; auch nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges bis heute sind Parteien, Gewerkschaften und politische Organisationen bespitzelt und infiltriert worden. Die Überwachungs- und Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes ist jedenfalls ellenlang.“
Rolf Gössner: „Verfassungsschutz in Aktion“
Und wie schlägt sich diese ganze Entwicklung in der Bundesrepublik nieder?
Auch hierzulande vollzieht sich eine geheimdienstliche Vorsorgeentwicklung – und zwar im Schatten des Rechtsstaats. Der demokratische Rechtsstaat hat sich im Laufe der herrschenden „Antiterrorpolitik“ – besonders nach 9/11 – mehr und mehr zu einem entgrenzten Sicherheits- und Präventionsstaat entwickelt, in dem die Eingriffsschwelle für staatliche „Sicherheitsmaßnahmen“ immer mehr herabgesenkt wurde und weiter wird, und in dem personenbezogene Daten und demokratisch nicht kontrollierbare Geheimdienste als Machtsicherungsinstrumente eine immer größere Rolle spielen – und zwar weit im Vorfeld irgendwie messbarer Gefahren. Denken Sie nur an die verdachts- und anlasslose Massenüberwachung, an die Vorratsspeicherungen von Telekommunikationsdaten, an verdachtsunabhängige Kontrollen der Polizei etc. pp.
Und der rasante Fortschritt technischer Möglichkeiten gibt diesem Wandel immer weitere technologische Unterfütterung, sodass Massenüberwachungen und -datenauswertungen inzwischen im großen Maßstab sowie in Echtzeit machbar geworden sind.
Können Sie ein konkretes Beispiel für die problematische Ausweitung geheimdienstlicher Massenüberwachung nennen?
Sicher: Nehmen wir einfach den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik, der auf den Namen Bundesnachrichtendienst, kurz: BND, hört. Trotz seiner inzwischen bekannt gewordenen ausufernden, illegalen und unkontrollierbaren Praxis wird der BND nicht etwa rechtsstaatlich gezügelt, sondern soll zukünftig noch weiter digital aufgerüstet und für das Massenüberwachungsgeschäft tauglich gemacht werden – für satte 300 Millionen Euro, von denen fast 35 Millionen bereits bewilligt worden sind.
Das geheime Aufrüstungsprogramm trägt den Tarnnamen „Strategische Initiative Technik“, kurz: SIT. Dazu gehört, dass der BND künftig „soziale Netzwerke“ systematisch, flächendeckend und anlasslos ausforschen soll – und zwar sowohl Metadaten als auch Inhalte; dazu gehört auch, dass der BND mithilfe von Sicherheitslecks und „Nachschlüsseln“ in fremde Computersysteme einbrechen und Verschlüsselungen knacken soll.
Was hat es denn mit der „Lizenz zur Ausforschung sozialer Netzwerke“ auf sich, von der Sie in Ihrem Buchbeitrag schreiben? Worum geht es da?
Der BND soll schon demnächst einen höchst fragwürdigen Freibrief erhalten – und zwar zur anlasslosen Ausforschung „sozialer Netzwerke“ wie Facebook, Flickr, YouTube oder Twitter, aber auch von Blogs und Internet-Foren. Die systematisch aufgefangenen Netzwerkdaten und Inhalte sowie das gespeicherte Kommunikationsverhalten der Nutzer können damit jederzeit automatisiert durchrastert, zu Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen verdichtet oder biometrisch ausgewertet werden. Und auch Rückschlüsse auf soziale und politische Kontakte werden möglich, weshalb diese Internet-Durchleuchtung stark in die Grundrechte der Betroffenen eingreift.
Die Behauptung der Bundesregierung, dies betreffe doch nur das Ausland, ist sowohl irreführend als auch schlicht unzutreffend: Zum einen gelten Grund- und Menschenrechte schließlich auch im Ausland; und zum anderen sind Server von sozialen Netzwerken quer über die Welt verteilt, so dass der innerdeutsche Datenverkehr auch über andere Länder fließt und somit eben auch bundesdeutsche Nutzer leicht ins BND-Visier geraten.
„Es wird festgestellt, dass die Beobachtung des Klägers (Rolf Gössner) bis zum 13.11.2008 einschließlich der während dieses Zeitraums erfolgten Erhebung und Speicherung von Daten zu seiner Person rechtswidrig gewesen ist.“
Verwaltungsgericht Köln: Urteil 20 K 2331/08
Und wozu soll das Ganze dienen?
Die globale Ausforschung sozialer Kommunikationsräume – in denen Infos, Meinungen, Bilder und andere sensible Daten ausgetauscht werden – soll dazu dienen, Stimmungen, Auffälligkeiten, Wirtschaftstrends, politische Proteste und Beziehungsgeflechte in bestimmten Ländern und Krisenregionen präventiv herauszufiltern und zu analysieren.
Die „sozialen Netzwerke“ wecken geheimdienstliche Gelüste vor allem auch deshalb, weil sie sich weltweit zu Mobilisierungsforen für Protestbewegungen entwickelt haben – wie etwa während des „Arabischen Frühlings“ –, aber auch für Terrorpropaganda und -aktionen. Deshalb sollen sie nun – ab 2015 – nach NSA-Vorbild auch unter die Echtzeit-Kontrolle des BND gestellt werden; ihre Auswertungserkenntnisse sind für die Bundesregierung, den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ und auch die Bundeswehr von Interesse, um etwa Krisen, geopolitische und militärstrategische Probleme und politische Akteure frühzeitig zu erkennen.
Auf diese Weise will der BND offenbar sein Image als „Wurmfortsatz“ der NSA, wie ihn Ex-NSA-Mitarbeiter Thomas Drake vor einiger Zeit despektierlich nannte, loswerden und sich vom Großen Bruder emanzipieren. Wir werden also Zeugen eines fatalen Wettrüstens im Informationskrieg der Geheimdienste. Und Verfechter solcher modernen Massenüberwachungsmethoden behaupten zu deren Rechtfertigung, nur so könne man Terroranschläge verhindern oder die Organisierte Kriminalität bekämpfen, was auch schon passiert sein soll – eine Behauptung, die allerdings aus Geheimhaltungsgründen nie wirklich überprüfbar gewesen ist.
Was hat das alles mit der Militarisierung des Inneren zu tun, auf die Sie ebenfalls in Ihrem Aufsatz in Bezug auf die Bundesrepublik abstellen?
Wir erleben seit Jahren nicht nur eine problematische Präventionsentwicklung, die insbesondere vom Ausbau der Geheimdienste und ihrer Befugnisse geprägt wird, sondern – neben der Militarisierung der Außenpolitik – auch eine Militarisierung der Gesellschaft und der „Inneren Sicherheit“ in der Bundesrepublik.
Im Mittelpunkt steht dabei der Bundeswehreinsatz im Inland, der längst schon begonnen hat und der verfassungsrechtlich abgesichert werden soll. Mit dem militärischen Inlandseinsatz wird im Übrigen ein Tabu gebrochen, das auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung ist: Denn hierzulande sind Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen.
Längst gibt es jedoch Ansätze, die bereits verfassungswidrig zu einer Interventionsarmee umgebaute Bundeswehr auch in Friedenszeiten flexibler im Innern des Landes einsetzen zu können. Und zwar nicht nur im Verteidigungs- oder Katastrophenfall, nicht nur im formell erklärten Notstandsfall nach den umstrittenen Notstandsgesetzen, sondern regulär als innenpolitisches Machtinstrument und nationale Sicherheitsreserve im Inland – was letzten Endes auch Aufstandsbekämpfung bedeuten kann. Die verfassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei wird dabei mehr und mehr aufgebrochen.
Und das ist nicht etwa Verschwörungstheorie? Gibt es denn Belege dafür?
Tatsächlich konnte sich die Bevölkerung ja bereits an solche heimischen Militäreinsätze der Bundeswehr gewöhnen – etwa anlässlich der Fußball-WM 2006, besonders beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm und beim NATO-Gipfel 2009 oder 2015 zum kommenden G-7-Gipfel im oberbayerischen Schlossgut Elmau. All dies dient als Exerzierfeld, um dem zu verzeichnenden Paradigmenwechsel jede Anstößigkeit zu nehmen.
Es gibt im Übrigen zahlreiche Dokumente, aus denen diese Entwicklung abzuleiten ist. Ich möchte hier nur ein paar Stichworte nennen: die Notstandsverfassung von 1968, nach der das Militär in bestimmten Situationen im Innern eingesetzt werden kann; die Solidaritätsklausel in Artikel 222 des Lissabon-Vertrags, die den Militäreinsatz bei Katastrophen, aber auch zur Terrorabwehr innerhalb der EU-Staaten erlaubt; das amtliche Weißbuch des Bundesverteidigungsministeriums, nach dem der „Verteidigungsfall“ nach Artikel 87a Grundgesetz per Definition vorverlagert wird, um ihn auch bei drohenden Terroranschlägen ausrufen zu können, die damit kriegerischen Angriffen von feindlichen Armeen gleichgesetzt werden; oder der zivil-militärische „Heimatschutz“, der in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Jahres 2011 festgeschrieben wurde und dessen Infrastruktur bereits das ganze Land überzieht.
Um noch ein plastisches Beispiel zu nennen: Bundeswehrsoldaten trainieren bereits die Bekämpfung militanter Aufstände sowie militärische Interventionen realitätsnah in urbanen Räumen – und zwar nicht nur in Israel, sondern demnächst auch im Gefechtsübungszentrum des Heeres, kurz: GÜZ, in der Colbitz-Letzlinger Heide in Sachsen-Anhalt, wo gerade eine sechs Quadratkilometer große und über 100 Millionen Euro teure militärische Übungsstadt namens „Schnöggersburg“ aufgebaut wird.
Dort entsteht ein „urbaner Ballungsraum“ mit 520 Gebäuden, einer Altstadt und Hochhaussiedlung, einem Regierungs- und einem Elendsviertel, mit Industriegebiet und Bahnstation, Flughafen, Autobahnausfahrten und Straßen, mit U-Bahn-Tunnel und Kanalisation, Kirche und Moschee, mit Stadion und Stadtpark sowie Fluss und Brücken – also die typische und komplexe Infrastruktur moderner europäischer Metropolen, wo sich soziale Konfliktlagen mehr und mehr zusammenballen und eines Tages auch entladen könnten.
Nach der Fertigstellung der Kampfstadt „Schnöggersburg“ unter Regie des Rüstungskonzerns Rheinmetall Defence werden Bundeswehr-, EU- und NATO-Kampfverbände gemeinsam den „asymmetrischen“ Krieg in dieser Stadt proben – für weitere Auslandseinsätze, aber auch für Bürgerkriegs- und Militäreinsätze in europäischen Städten. Das ist – leider, muss man sagen – keine Verschwörungstheorie, sondern im Aufbau begriffene Realität.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Mitherausgeber des “Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland” (Fischer-TB), der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ sowie Mitglied der Jury zur jährlichen Vergabe des Negativpreises „BigBrotherAward“ www.bigbrotherawards.de. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte. Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Er stand selbst vier Jahrzehnte lang unter Beobachtung des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“ – von Anfang an grundrechtswidrig, wie das Verwaltungsgericht Köln 2011 urteilte. Er ist Miterstatter einer Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienstverantwortliche in Sachen NSA, BND & Co. sowie Mitautor eines Memorandums zur Auflösung des „Verfassungsschutzes“ [PDF].
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Grafik: opendatacity.de: „Stasi versus NSA“
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