Die Katze lässt das Morsen nicht

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Über Brauchtum, Tradition, Lebensmittel und immaterielle Weltkultur. Das immaterielle Weltkulturerbe der UNESCO und die hiesige Handhabung desselben.
Über die Bemühungen und die Motive die „weltweit einzigartige“ deutsche Theaterlandschaft zum „immateriellen Weltkulturerbe“ zu erheben. Und zur Frage, ob ein System, das seine Existenz schlicht staatlichen Entscheidungen und Zuwendungen verdankt, tatsächlich auf eine solche Liste gehört, zumal der Unterschied zum öffentlichen Theaterwesen in anderen Staaten nicht recht ersichtlich ist. Von Wolfgang Hippe[*].

Was macht den Unterschied zwischen einem Hefe- und einem Mürbeteig? Diese Frage ist nicht nur für Hobby-Köche interessant, sondern auch kulturpolitisch brisant. „Kultur“ galt im deutschen kulturpolitischen Diskurs über Jahrzehnte hinweg als „Hefe“ im „Teig“ der Gesellschaft. Dass sich diese Metapher so lange halten konnte, legt die Vermutung nahe, dass die Protagonisten wenig Ahnung von Hefe hatten. Zuviel davon bläht den Teig über Gebühr auf und lässt ihn schließlich im wahrsten Sinne des Wortes platzen und unansehnlich werden. Beim Mürbeteig ist es etwas komplizierter. In der cuisine francaise wird er etwa für Quiches oder die Tarte Tatin verwendet. Dieser Apfelkuchen ist ein beliebtes Dessert bei einem „repas gastronomique“. Man könnte das einfach als „gastronomisches Mahl“ (oder „Essen im gehobenen Restaurant“) übersetzen. Doch das wird seiner kulturpolitischen Bedeutung nicht gerecht. Denn hier ist von einer besonderen „Feinschmecker-Mahlzeit“ die Rede. Die wird von einem genialen Chefkoch und seiner Küchenbrigade zubereitet – natürlich mit frischen Zutaten aus der Region, ergänzt durch vielfältige Produkte anderer Landstriche und passende Weine. Das Fünf-Gänge-Menu wird von einem Oberkellner und seinen Assistenten serviert, wobei die „Ästhetik der Tafel“ von besonderer Bedeutung ist. Dieses „traditionelle Essen mit Apéritif, Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch, Käse und Kaffee“ war lange Zeit in Frankreich en Vogue, doch dann ließ das Interesse daran nach. Um den damit verbundenen Niedergang der „französischen Identität“ zu bremsen, wurde „the gastronomic meal of the French“ – so die offizielle UNESCO-Bezeichnung – 2010 zum immateriellen Weltkulturerbe. Das Mahl als Ritual: es spielt eine „active social role within its community“, es fungiert als „catalyst for mutual respect and intercultural dialogue“, und nicht zu vergessen: „The gastronomic meal draws circles of family and friends closer together and, more generally, strengthens social ties.“ Aus UNESCO-Sicht alles Indizien für ein weltweit einzigartiges kulturelles Angebot.

German Angst
Die deutsche Theaterlandschaft ist ihrem Selbstverständnis nach ebenfalls „weltweit einzigartig“, doch nicht nur deren Existenz bereitet Kulturfunktionären hierzulande Sorge. Den deutschen Städten droht der Niedergang, „Räume der Teilhabe eines gemeinsamen Erlebens und lebendigen Austauschs“ werden dort immer „rarer“, die „Notwendigkeit rationalen Handelns und Verhandelns“ dominiert, ist im Antrag nachzulesen, der auch die „Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft“ in die Liste des „immateriellen Weltkulturerbes“ befördern soll. Gegen das um sich greifende nur noch „kausale und zielgerichtete Denken“ bedarf es eines Ortes, der mehr „emotionale Erfahrung“ vermittelt und sich dem „Spiel mit dem Unerwarteten, Experimentellen, dem noch nicht Gedachten“ widmet – keine Frage, nicht von Bundesliga-Stadien ist die Rede, sondern von den deutschen Bühnen. Der erste Anlauf zu deren Status als Kulturerbe scheiterte vor gut einem Jahrzehnt noch, jetzt eilt es angesichts weiter sinkender Kartenverkäufe und dem steigenden Alter des Publikums. Zudem steht mit dem Titel eines Weltkulturerbes „natürlich außer Zweifel, dass Kürzungen der öffentlichen Zuwendungen für das Theater und Orchester …. schwieriger werden und in der Öffentlichkeit … als problematisch dargestellt werden können“ – so der Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins. Nur so könnte den „jahrelangen, kürzungsbedingten Schrumpfungsprozessen“ Einhalt geboten werden, so der Generalsekretär des Deutschen Musikrates. Dabei hätte man es doch einfacher und vor allem positiver formulieren können. Etwa: die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft spielt eine „active social role within its community“, sie fungiert als „catalyst for mutual respect and intercultural dialogue“ und “draws circles of family and friends closer together and, more generally, strengthens social ties“. Hilfreich wäre dazu der Hinweis auf den genialen Intendanten, seine Schauspieltruppe und Musiker und natürlich die besondere „Ästhetik der Bühne“ gewesen.

Das hätte vielleicht auch glaubwürdiger als die in der deutschen „Tradition“ wurzelnde, einstudierte Verlustrhetorik geklungen. Denn andere Analytiker beschreiben den Gesellschaftszustand trotz aller aktuellen Krisen eher als offen und erlebnisorientiert, die Städte eher als lebendig. Dazu finden zunehmend weniger Kulturinteressierte Gefallen an der Rolle des bloß passiven Zuschauers (etwa vor der engen Guckkastenbühne). Das Bemühen der Einzelnen um „Authentizität“, eine aktive Selbstverwirklichung, engagierte Laientätigkeit und „Kultur als Fest“ liegen eher im Trend, von der allerorten durchscheinenden Präsenz eines sog. „Kreativitätsdispositivs“ ganz zu schweigen. Viele Kultureinrichtungen orientieren sich längst an diesen Kundenwünschen und haben ihr Programm rund um ihre Kernkompetenz erweitert, etwa durch eine Gastronomie oder spartenübergreifende „sonstige“ Angebote. Hier scheint sich unter der Hand langsam das schon ältere Konzept des soziokulturellen Zentrums auch in der „Hochkultur“ durchzusetzen.

Traditionen …
„Die weltweite Erfahrung von Globalisierungsprozessen hat auch ein neues Bewusstsein für das komplexe Verhältnis von Modernisierung und Tradition geschaffen“, heißt es in der Erklärung der Deutschen UNECSO-Kommission zum „immateriellen Weltkulturerbe“. Allerdings dürfe die „Erhaltung nicht zu einem Unterdrücken oder zur Abwehr neuer Impulse und zu einer Absage an die Weiterentwicklung der Kulturformen führen.“ Gefragt sei vielmehr „ein kluger Umgang mit den wirtschaftlichen Dimensionen und touristischen Interessen“. Von diesem komplizierten Geflecht oder gar der Globalisierung ist hierzulande in den offiziellen Statements zum Thema kaum die Rede. Der hiesige Reichtum „an unterschiedlichen Traditionen und Bräuchen“ ist etwa aus Sicht von Kulturstaatsministerin Monika Grütters vor allem „historisch bedingt“, denn die Deutschen waren „zuerst eine Kulturnation und erst dann eine politische Nation“. Schon deshalb müsse das immaterielle Kulturerbe „in den Köpfen und Herzen fortbestehen”, um so das „Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland“ zu stärken.
Nun lässt dieser Rekurs kaum Rückschlüsse auf das „komplexe Verhältnis von Modernisierung und Tradition“ zu. Der Rückgriff auf die „Kulturnation“ ist eher irritierend, weil sich damit stets die Vorstellung eines homogenen Volkes mit einer homogenen Kultur verbunden hat. Die Geschichte der „Nationalstaaten“ ist denn auch eng mit ethnischen Säuberungen und dem nicht immer freundlichen Umgang mit den sogenannten „nationalen“ Minderheiten verbunden (ganz schlechtes Beispiel: die Juden im deutschen Staat). Deutschland galt nicht nur Konservativen aller Couleur noch bis vor kurzem nicht als „Einwanderungsland“, „Gastarbeiter“ konnten danach gar nicht Teil der „Kulturnation“ sein, allen Beschwörungen der europäischen Zusammenhänge zum Trotz. Die heutige Formel von der „Vielfalt der Kulturen“, Begriffe wie Transkultur oder Interkultur haben längst Abschied von der kulturellen Homogenität auch in einem Lande genommen. Unsere „Alltagskultur“ ist entsprechend pluralisiert und diversifiziert (die gern hervorgehobene „Zivilgesellschaft“ übrigens auch).

Wirklich merkwürdig wird es, wenn offiziell behauptet wird, die in das nationale Verzeichnis aufgenommenen „immateriellen Kulturgüter“ prägten „unsere lebendige Alltagskultur“ (so Grütters). Die dort aufgeführte Morse-Technik ist für heutige Kommunikationsformen zu vernachlässigen. Die „Flößerei“ hat vor allem als Touristenattraktion überlebt. Und wer im 21. Jahrhundert glaubt, der rheinische „Karneval“ habe tatsächlich „eine politische Ventilfunktion“, dem ist der „Alltag“ des Brauchtums entgangen. Der Bund Deutscher Karneval (BDK) mag dekreditieren, in welchem Zeitraum sich der Karnevalist überhaupt kostümieren darf. Derlei ist für die überwiegende Zahl der Jecken ganz uninteressant. Die Grenzen der traditionellen Session sind längst durchbrochen, derzeit wird ganz ohne Festkomitee unter dem Motto „Jeck im Sunnesching“ Karnevaleskes schon für den August geplant. So drängt sich die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen der Kanonisierung des immateriellen Erbes auf. Bei der deutschen „Theater- und Orchesterlandschaft” wäre etwa zu fragen, ob ein System, das seine Existenz schlicht staatlichen Entscheidungen und Zuwendungen verdankt, tatsächlich auf eine solche Liste gehört, zumal der Unterschied zum öffentlichen Theaterwesen in anderen Staaten nicht recht ersichtlich ist.

…und globale Dynamiken
Befürworter der UNESCO-Konvention verweisen gerne und immer wieder darauf, dass „Tradition“ stets im Spannungsfeld zu neueren kulturellen Formen zu sehen ist und dass sich die „Entdeckung“ des immateriellen Kulturerbes ursprünglich gegen eine allzu „eurozentrische“ Orientierung der UNESCO auf Baudenkmäler und Ähnliches richtete. Damit sollten auch indigene Kulturen und ihre mündlichen, „immateriellen“ Überlieferungen gewürdigt werden. Freilich: Überlieferungen und „Traditionen“ können an ihr natürliches Ende kommen, wenn die materiellen und sozialen Voraussetzungen für ihre Existenz nicht mehr gegeben sind. Eine Schweizer Anthropologin hat in diesem Zusammenhang mit Blick auf Asien und Lateinamerika vor einer drohenden „Mumifizierung“ von Kulturen durch die UNESCO gewarnt.

Auch in den westlichen Metropolen hat man sich – Denkmalschutz hin oder her – stetig mit dem immateriellen Vergangenen beschäftigt. Jenseits der Frage, welche Bedeutung eine regionale Käseproduktion für die „kulturelle Identität“ haben kann, ist das Phänomen der „Musealisierung“ seit den 1960er Jahren immer wieder Thema gewesen. Damals wurde übrigens der deutsche Begriff erfunden. In den 1970ern thematisierte etwa Jean Baudrillard die „Museifizierung“ des Realen. Umberto Eco schrieb später über die „Musealisierung der Moderne“. Die öffentliche Erregung von verspäteten Bildungsbürgern machte sich insbesondere an Hermann Lübbe fest. Der konstatierte ausgerechnet 1989: „Die Musealisierung unserer kulturellen Umwelt hat ein historisch beispielloses Ausmaß erreicht.“ Mit Blick auf die UNESCO-Pläne kann man feststellen: er hat sich geirrt. Gleichwohl beschreibt auch er das „Spannungsfeld“ zwischen „Museum und Fortschritt“. Ähnliche Formulierungen finden sich wie zitiert auch im „theoretischen“ Teil der Ausführungen der Weltorganisation. Im kulturpolitischen „Alltag“ spielt derlei freilich keine Rolle. Komplizierte Zusammenhänge werden schnell zu Formeln gestutzt, die mit allgemeinen Förderrichtlinien kompatibel sind. Wer will das den jeweiligen Interessenvertretern verübeln? Deshalb ein Hinweis. Ist nicht die deutsche Museumslandschaft eine der dichtesten „weltweit“ und damit wohl „einzigartig“? Und sind diese Museen nicht auch „catalyst for mutual respect and intercultural dialogue“? Das sind doch beste Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Liste des „immateriellen Weltkulturerbes“ und die damit verbundene öffentliche (nationalstaatliche) Förderung …


[«*] Wolfgang Hippe, Redakteur der StadtRevue Köln; freier Journalist; A.R.T. – Agentur für Recherche und Text mit Schwerpunkten Kultur- und Medienwirtschaft und Kultur- und Medienpolitik, seit 2001 freie Mitarbeit beim Institut für Kulturpolitik (IfK).

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