SPD und Frankfurter Rundschau händchenhaltend auf dem Weg in den Abgrund
In der Frankfurter Rundschau vom 31. August dieses Jahres findet sich ein Beitrag des Bundestagsabgeordneten und haushaltspolitischen Sprechers der SPD Bundestagsfraktion Carsten Schneider, worin dieser die rot-schwarze Reformpolitik zu verteidigen versucht („Leitern für den sozialen Aufstieg“) . Der Artikel ist ein weiteres Beispiel für das Trommelfeuer mit Leerformeln durch das SPD-Führungspersonal. Die Frankfurter Rundschau als ehemaliges Blatt der kritischen Intelligenz macht sich mit solchen, in letzter Zeit häufenden Beiträgen mehr und mehr zum Sprachrohr der SPD-Führung. Anbei ein paar Anmerkungen. Zitate sind kursiv gesetzt. Kai Ruhsert
Seit 1998 hat sie (die SPD, KR) mit einer konsequenten Reformpolitik die Wirtschaft gestärkt, die Sozialsysteme reformiert – und damit zum derzeitigen Aufschwung maßgeblich beigetragen. Andererseits ist gerade diese Politik unter vielen Mitgliedern umstritten.
Viele Mitglieder haben eben verstanden, dass der (Mini)-Aufschwung der Weltkonjunktur zu verdanken und kein Erfolg der Reformen ist. Im Gegenteil: Auf den nächsten, weltweiten Konjunktureinbruch ist Deutschland wegen der anhaltenden Schwäche des Binnenmarkts und der Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme so schlecht wie nie zuvor vorbereitet.
Denn die sozialdemokratische Ambivalenz existiert auch in der Haushaltspolitik. Seit bald einem Jahrzehnt ist die SPD verantwortlich für die Konsolidierung des Bundeshaushaltes, doch ein Markenzeichen der deutschen Sozialdemokratie ist diese Politik noch nicht geworden.
Es ist genau umgekehrt. Gerade diese Spar- und Steuersenkungspolitik Eichelscher Prägung ist zu einem Markenzeichen der deutschen Sozialdemokratie geworden und droht den Staat durch Austrocknung der Steuerquellen schrittweise handlungsunfähig zu machen sowie die öffentliche Infrastruktur von der Bildung bis zu den Verkehrswegen verrotten zu lassen. Die volkswirtschaftlich verfehlte Mehrwertsteuererhöhung ändert daran nichts.
Ja, viele SPD-Anhänger betrachten diese Erfolgsgeschichte sogar kritisch.
Wer sonst außer der SPD-Führung kann sich über diese Kritik noch wundern?
Um handlungsfähig zu sein, braucht der Staat genügend Mittel – auch langfristig. Doch seit Jahren gibt der deutsche Staat weit mehr Geld aus als er einnimmt. Allein im Bundeshaushalt klafft derzeit eine strukturelle Lücke von um die 23 Milliarden Euro (Entwurf 2008), die wir mit immer neuen Krediten und dem Verkauf von Vermögen schließen müssen.
Wann genau wurde die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben so groß? In den sozialdemokratischen Siebzigern oder in den schwarzen Achtzigern und Neunzigern, anschließend fortgesetzt durch die Agenda 2010 und Eichels prozyklische Sparpolitik? Was bedeutet “strukturelle Lücke” anderes als eine Sprechblase, um die Notwendigkeit von weiteren Strukturreformen (sprich: weiterem Sozialabbau) zu suggerieren? Gegenüber den Kritikern innerhalb der SPD bemerkenswert ungeschickt erscheint gerade derzeit die Behauptung, man müsse weiter Vermögen verkaufen, denn mit dem (Teil-)Verkauf der Bahn beteiligt sich die SPD-Bundestagsfraktion an einem für den Steuerzahler teuren, nächsten Privatisierungsprojekt gegen den Willen nicht nur der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch der weit überwiegenden Zahl der SPD-Anhänger.
Raus aus der Schuldenfalle – prinzipiell gibt es zwei Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Variante eins: Wir erhöhen die Steuern und nehmen mehr Geld ein. Die SPD sollte eine solche Maßnahme nie grundsätzlich ausschließen, zumal wir international bei der Abgabenquote wie bei der Staatsquote im Mittelfeld liegen. Jedoch sind moderate Steuersätze in einer globalisierten Welt ein Wettbewerbsvorteil, den wir nur im Notfall aufgeben sollten. Höhere Steuern oder Abgaben hätten negative Auswirkungen auf die Binnenkonjunktur, das Beschäftigungsniveau und die Leistungsbereitschaft der Erwerbstätigen.
Wir lagen auch vor der letzten Unternehmenssteuerreform bereits im Mittelfeld der Abgabenquoten. Warum setzte sich gerade der SPD-Finanzminister und das künftige Parteivorstandsmitglied Steinbrück damals für eine weitere Nettobelastung der Staatsfinanzen von (voraussichtlich weit) über fünf Milliarden Euro ein?
Bleibt Variante zwei: Wir reduzieren die Neuverschuldung sukzessive auf null und führen eine “Schuldenbremse” ein, die neue Kredite in Zukunft verhindern soll. Dieses Vorgehen ist auch deshalb alternativlos, weil der Druck auf die öffentlichen Haushalte in den kommenden Jahren massiv zunehmen wird. (…) Wenn wir den Weg aus der Schuldenfalle nicht jetzt antreten, wann dann?
Wie verbohrt muss man sein, um keine Alternativen zu sehen, wenn doch gerade erst ein Mini-Aufschwung (und eben nicht irgendwelche Sparmaßnahmen) die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte so deutlich verbessert hat? Die öffentlichen Kassen werden erst dann dauerhaft mehr einnehmen, wenn die Binnenwirtschaft, die den weitaus größten Teil des Bruttosozialprodukts ausmacht, auf einen sich selbst tragenden Wachstumspfad einschwenkt. Ohne einen aktiven Staat, der auch in nennenswertem Umfang Investitionen für eine bessere Zukunft tätigt, ist das kaum möglich.
Das Ziel solider Staatsfinanzen bedeutet allerdings nicht, den Gestaltungsanspruch des Staates aufzugeben. Mehr denn je sind wir gezwungen, klare Prioritäten sozialdemokratischer Haushaltspolitik zu definieren und von der verbreiteten Mentalität des “Sowohl-als-auch” zu einer Mentalität des “Entweder-oder” zu kommen.
Carsten Schneider fordert also eine klare Entscheidung:
Um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu begünstigen, die Erwerbsquote zu steigern und auch in Zukunft soziale Sicherheit zu garantieren, müssen wir mehr Mittel für zukunftsbezogene und weniger für vergangenheitsbezogene Ausgaben bereitstellen.
Gegen Ende seines Textes bleibt von dieser eingeforderten Entschlussfreude allerdings nicht viel übrig:
Um Missverständnissen vorzubeugen: Der vorsorgende soll den nachsorgenden Sozialstaat nicht ersetzen, sondern ergänzen. Aber er wird dazu führen, dass der traditionelle Wohlfahrtsstaat weniger häufig in Anspruch genommen werden muss.
Ja, was denn nun, “Entweder-oder” oder “Sowohl-als-auch”?! Carsten Schneider weiß sehr wohl, dass er keine ernstzunehmenden Alternativen diskutiert. Seine Fragen sind rhetorisch gemeint und dienen nur als Überleitung zur plumpen Werbung für eine Fortsetzung der Agenda-Politik. Logische Widersprüche nimmt er dabei locker in Kauf, wenn es ihm angeraten erscheint, die verheerende Wirkung abzuschwächen, die seine eingangs gemachte Androhung einer noch rigideren Fiskalpolitik auf die angesprochenen SPD-Mitglieder haben könnte.
Im Zentrum des traditionellen deutschen Wohlfahrtsstaates stehen statussichernde Transferleistungen, die über die Sozialversicherungen abgewickelt werden.
“Abgewickelt werden” – eine für einen Ostdeutschen bemerkenswerte Wortwahl, wenn man etwa an den Umgang der Treuhandgesellschaft mit den DDR-Betrieben denkt. Sollten die Sozialleistungen nicht „statussichernd“ sein, sollen die Leistungsempfänger denn auch „abgewickelt“ werden?
Dieser “konservative” Sozialstaat agiert in erster Linie passiv: Er unterstützt Menschen finanziell, die bedürftig geworden sind – und zwar vergleichsweise großzügig.
Der bisherige auch von der SPD erkämpfte Sozialstaat ist also „konservativ“! Die frühere Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe stellte auch nicht mehr als eine soziale Grundsicherung dar, bot aber für eine gewisse Übergangszeit Schutz vor dem (häufig endgültigen) sozialen Absturz in die Bedürftigkeit, vor dem Zwang zur Niedrigstlohnarbeit. Wer die heutigen Sozialtransfers “eine vergleichsweise großzügige Unterstützung nennt”, sollte sich einmal in seinem thüringischen Wahlkreis umhören. Dass er platte Parolen der Unternehmerverbände repetiert, scheint Carsten Schneider nicht einmal mehr zu merken.
Doch die Politik der bloßen Alimentation ist heute vollkommen ineffizient. “In dem neuen, offenen Haus der Völker und der emanzipierten Individuen ist die alte nationale Sozialheizung nahezu wirkungslos geworden”, heißt das bei Klaus von Dohnanyi. “Man pulvert Energie in den Ofen, aber die Fenster sind eben offen und es wird nie mehr so richtig warm.”
Wer außerstande ist, Zusammenhänge zu erklären, muss wohl zu völlig missglückten Sprachbildern greifen.
Die Menschen in Deutschland “frieren” nicht wegen zu geringer Transferleistungen oder eines mangelhaften Kündigungsschutzes. Sie frieren, weil der Staat ihnen nicht genügend Leitern für den sozialen Aufstieg bereitstellt.
Das möge Herr Schneider doch bitte einmal Menschen ins Gesicht sagen, die arbeitslos geworden und auf Hartz IV angewiesen sind und unter Androhung des totalen Leistungsentzugs unter entwürdigenden Umständen in dubiose 1-Euro-Jobs gezwungen werden. Danach würde er wahrscheinlich dringend Personenschutz benötigen.
Genau deshalb investiert der vorsorgende Sozialstaat systematisch in die Fähigkeiten der Menschen, damit sie sich – wo immer möglich – selbst helfen können, bevor der nachsorgende Sozialstaat eingreifen muss.
Aus diesem Absatz müssen die Verlierer sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik herauslesen, dass sie abgeschrieben sind und dass sie mit der Hoffnung vertröstet werden, dass es der Nachfolgegeneration irgendwann vielleicht einmal wieder besser gehen soll.
Er hat zum Ziel, die Kompetenzen und damit die Lebenschancen jedes Einzelnen zu stärken und zugleich qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen bereitzustellen, die es Männern und Frauen ermöglichen, arbeiten zu gehen. Soziale Gerechtigkeit ist mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Sie umfasst gerade auch Chancengleichheit.
Leere Sprechblasen – nichts Konkretes, dem man zustimmen oder widersprechen könnte. Man merkt, dass der Text sich allmählich dem Ende nähert und der Autor nicht mehr so recht weiterweiß.
Sicher, der vorsorgende Sozialstaat soll mittelfristig Kosten sparen. Doch zum Nulltarif ist er nicht zu haben. Deutschland muss vor allem massiv in ganztätige Bildung und in Weiterbildung investieren; im internationalen Vergleich liegen die öffentlichen Bildungsausgaben auf einem erschreckend niedrigen Niveau.
“Öffentliche Bildungsausgaben auf einem erschreckend niedrigen Niveau”, wo hat da die Reformpolitik zu einer Verbesserung geführt?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Der vorsorgende soll den nachsorgenden Sozialstaat nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Warum waren dann zuerst die Leistungen gekürzt worden? Die Wähler laufen der SPD in Scharen davon, weil der Agenda-Kurs eine Zerstörung des Vertrauens in den Sozialstaat gebracht hat. Den Verheißungen von mehr Wohlstand für alle in einer fernen Zukunft bei einer Fortsetzung dieses Kurses glauben sie nicht mehr.
Daher sollte die sozialdemokratische “Erzählung” in der Haushaltspolitik von einem handlungsfähigen Staat handeln, den wir unseren Kindern hinterlassen wollen; von einem vorsorgenden Sozialstaat, der alle Menschen befähigt, tatkräftig mit anzupacken; und von dem sozialdemokratischen Markenkern “soziale Gerechtigkeit”, der auch “Generationengerechtigkeit” und “Chancengleichheit” umfassen muss.
Siehe oben: Leere Wortblasen.
Ein derart schwaches Argumentationspapier zum jetzigen Zeitpunkt beweist zum einen, wie wenig belastbar die veröffentlichten Begründungen für weitere Reformschritte und Perspektiven für das neue Grundsatzprogramm der SPD sind. Zum anderen scheint die SPD-Führung sich immer noch keiner ernsthaften Kritik innerhalb der Partei stellen zu müssen, wenn sie meint, mit so dürftigen Argumenten auf das Rumoren an der Basis antworten zu können.
Mit Papieren dieser Qualität treiben “Theoretiker” wie Carsten Schneider den Abschied der SPD als Volkspartei voran. Die Frankfurter Rundschau wiederum muss sich die Frage gefallen lassen, welchen Leserkreis sie mit der kritiklosen Veröffentlichung so gehaltloser Texte zu gewinnen oder zu halten glaubt. Die ohnehin überzeugten Verfechter einer so verstandenen Reformpolitik greifen nun einmal zu einem anderen Frankfurter Blatt.