Geschichte wiederholt sich – das gilt zumindest für den Einsatz von Wahlprognosen für die Wählermobilisierung. Beispiel Großbritannien und Vorgänger BTW 1965.
Der Wahlkampf mit Wahlprognosen in Großbritannien erinnert an vergleichbare Vorgänge bei der Bundestagswahl 1965 in Deutschland. Damals war vom Institut für Demoskopie Allensbach und anderen ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt worden. Das bestimmte die öffentliche Debatte und auch die Stimmung in den Parteien. Die SPD hoffte darauf, mit der CDU/CSU gleichzuziehen, und den Regierungswechsel zu schaffen. Sie führte einen treuherzig biederen Wahlkampf mit dem neuen Kfz Kennzeichen und darin die Jahreszahl 1965. Wirklich die Proklamation eines umwerfenden Alleinstellungsmerkmals! Die CDU/CSU genoss das Kopf-an-Kopf-Rennen. CDU-Bundesgeschäftsführer Josef Hermann Dufhues bekannte, die Kopf-an-Kopf-Propaganda sei eine Wahllist gewesen, um die Bürger an die Urne zu bringen. Das Ergebnis: mit 47,6 Prozent lag die Union weit vor der SPD mit 39,3 Prozent. Albrecht Müller
„Der Spiegel“ berichtete damals ausführlich über die Schlacht der Demoskopen. Siehe hier der Link und maßgebliche Auszüge aus dem Text:
29.09.1965
WAHLPROGNOSE
Gewerbe auf der Grenze
DEMOSKOPIE
Die Demoskopie, so lehrt der Kölner Soziologe Professor Dr. Erwin Scheuch, 37, “ist ein Gewerbe auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Geschäft”. Die Wahlprognosen der beiden bekanntesten Demoskopier-Anstalten aus Allensbach und Bielefeld (Emnid), so argwöhnt der Kölner Professor hätten eher den politischen Commerz als die Wählermeinung repräsentiert.
Schlag zwölf Uhr mittags am Freitag vor der Bundestagswahl hatte Notar Dr. Hans Daniels in seiner Bonner Kanzlei, Meckenheimer Straße 49, zwei längliche Kuverts versiegelt. Sie bargen die letzten Wahlprognosen des Instituts für Demoskopie in Allensbach und der Emnid-Institute in Bielefeld.
Zwei Tage später, am Wahlabend um 20.18 Uhr, brachen die beiden Konkurrenten, Allensbach-Chefin Professor Elisabeth Noelle-Neumann und der Emnid-Institutsleiter Karl-Georg Freiherr von Stackelberg, in der Bonner Beethovenhalle vor den Kameras des Zweiten Deutschen Fernsehens Siegel und Schweigen.
Die Professorin vom Bodensee, die noch wenige Tage vor der Bundestagswahl mit Verve ein Brust-an-Brust-Finish der beiden großen Parteien geweissagt hatte, enthüllte nun; sie erwarte einen 49,5-Prozent-Sieg der Christdemokraten und eine 38,5-Prozent-Niederlage der SPD. In der Beethovenhalle stieg Gelächter auf.
Elisabeth Noelle: “Die CDU/CSU erringt einen klaren Sieg. Sie könnte vielleicht sogar die absolute Mehrheit im Bundestag gewinnen.”
Kontrahent Stackelberg machte einen langen Hals über die Noelle-Schulter, um die Prognose der Konkurrenz wenigstens ein paar Sekunden vor den Zuschauern zu erhaschen. Dann wandte er sich abrupt zur Seite und zog sein Orakel hervor.
Erneutes Staunen, denn der Bielefelder Demoskop blieb, wie schon anläßlich dreier vorangegangener Emnid-Umfragen, bei seinem Kopf-an-Kopf-Einlauf-Tip. CDU und SPD würden die Wahlstatt mit je 45 Prozent der Wählerstimmen verlassen. Der Branchenknoten schürzte sich.
…
Reichlich fünf Stunden später sprach Bundeswahlleiter Patrick Schmidt das Urteil in letzter Instanz: Die Christparteien lagen mit 47,6 Prozent weit vor den Sozialdemokraten mit 39,3 Prozent.
Elisabeth Noelle, deren Bonner Draht über das Bundespresseamt und die CDU spielt; hatte gesiegt. Die Allensbacher hatten buchstäblich im letzten Versuch noch den Wählertrend getroffen; Freiherr von Stackelberg hingegen – auch er steht dem Kanzler und der CDU nahe – hatte eine Fahrkarte demoskopiert.
FDP-Chef Erich Mende, der sich und seine Partei als Opfer falscher Meinungsbildner sieht, empörte sich: “Einer hat heute Ohrfeigen gekriegt: die Institute. Am schlimmsten benahm sich Allensbach. Das hat noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen prophezeit, als es schon lange das Gegenteil wußte. Die tendenziöse Meinungsmache hat uns schwer geschadet.” Die Pari-Parolen hätten der CDU zusätzlich Wähler an die Urnen getrieben. Der Verdacht wurde bestärkt: Im Fernsehen brüstete sich der CDUGeschäftsführer Josef Hermann Dufhues, die Kopf-an-Kopf-Propaganda sei eine Wahllist gewesen, um die Bürger an die Urne zu bringen.