Die Welt im Umbruch
Das Völkerrecht erodiert und das Recht des Stärkeren wagt seine Rückkehr auf die Bühne der Welt. Die sozialen Proteste nehmen zu und die Armut in Deutschland wächst ungebremst an, sodass inzwischen 12,5 Millionen Bundesbürger als arm anzusehen sind. Der europäische Wohlfahrtsstaat soll abgewickelt werden und ein neuer „großer Krieg“ gegen Russland wird nicht nur diskutiert, sondern bereits geprobt. Oder, wie die ZEIT es beschreibt: „Krieg, Terror, Vertreibung. Die alte Ordnung kollabiert. Wir leben in einer Zeitenwende.“ Über diese sprach Jens Wernicke mit dem ehemaligen Berufsoffizier Jochen Scholz, der viele Jahre in NATO-Gremien tätig war.
Herr Scholz, Sie arbeiten gerade an einem neuen Buch zur sich abzeichnenden „neuen Weltordnung“. Was meinen Sie damit? Und worum wird es gehen?
So ganz stimmt das nicht, nicht nur, weil ich Esoterikern kein neues Futter geben möchte. Der Arbeitstitel des Buches lautet: „Das amerikanische Jahrhundert – 1944 bis ?“. Wobei, wenn Sie mir dieses Bild gestatten, das Jahr der Konferenz von Bretton Woods gewissermaßen den Mittelpfeiler einer Brücke bildet, deren Uferverankerung auf die Jahre 1893-1898 zurückgeht, und deren Endpunkt sich durch den sich allmählich lichtenden Nebel bereits als Baustelle abzeichnet.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Expansion, „Go West“ genannt, auf dem nordamerikanischen Kontinent abgeschlossen, „the end of frontier“, wie es der US-Historiker Frederick Jackson Turner einmal ausdrückte, also erreicht. Die amerikanische Wirtschaft war daher auf der Suche nach neuen Akkumulationsmöglichkeiten und Akademiker wie Turner lieferten für diese geographische Expansion die ideologischen Begründungen, indem sie diese mit dem Anspruch der USA als Ausnahmeerscheinung unter den Nationen verbanden.
Lässt man diese Überhöhung jedoch beiseite, kommt das bekannte historische Muster von Staaten zum Vorschein, die nach ihrer territorialen Konsolidierung expandieren, also nichts Neues unter dem Himmel.
Mit dem Sturz der hawaiischen Königin Anfang 1893 kann man dann den Beginn des bis heute anhaltenden Ausgreifens über den eigenen Kontinent hinaus markieren, auch wenn Präsident Harrisons Nachfolger Cleveland den Anschluss Hawaiis an die USA noch ablehnte. Und nach dem „lovely little war“ gegen Spanien 1898, das den USA die Herrschaft über Kuba und die Philippinen einbrachte, gab es nie wieder ein Zurück nach 1893 oder davor, allenfalls noch Expansionspausen wie etwa jene nach dem Friedensvertrag von Versailles.
In meinem Buch möchte ich diese Expansion mit globalem Anspruch nachzeichnen und nachweisen, dass dieser seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch ein geopolitischer Vektor zugrunde liegt, der auf den eurasischen Kontinent zielt und unabhängig von der jeweiligen Präsidentschaft von den Primäreliten – der Begriff stammt von Hans-Jürgen Krysmanski – verfolgt wird. Der aktuelle Konflikt um die Ukraine ist hierfür geradezu paradigmatisch. Die Träume der Neokonservativen um Paul Wolfowitz und Richard Perle in den 1990er Jahren, das amerikanische 20. Jahrhundert weit in das 21. hinein verlängern zu können, sind mit dem Aufstieg von China, Indien, Brasilien und der Konsolidierung Russlands unter Putin zerstoben.
Dazu hat die US-Politik allerdings auch einen wesentlichen Eigenbeitrag geleistet, besonders mit der Geldpolitik. Anstatt etwa Prozesse wie jene um eine Neue Seidenstraße, eine Neue Entwicklungsbank, das Contingent Reserve Arrangement der BRICS-Staaten oder jenen der Shanghai Cooperation Organisation konstruktiv mitzugestalten, propagiert die US-Politik nach wie vor ihren globalen Führungsanspruch. Wenn ich mich nicht sehr täusche, erleben wir in Deutschland und dem “alten Europa” seit Anfang Februar dieses Jahres diesbezüglich nun aber den Beginn eines außenpolitischen Strategiewechsels, wie er zuletzt mit Egon Bahrs Rede am 15. Juli 1963 an der Evangelischen Akademie Tutzing – Stichwort “Wandel durch Annäherung” – eingeleitet worden war. Ich meine den Minsk2-Prozess. Wird dieser Ansatz durchgehalten, steigen die Chancen, ein globales Chaos zu verhindern.
Was genau ist dieser Minsk2-Prozess denn und inwiefern steht dieser für die genannte Veränderung?
Die wesentlichen Elemente: Er fand ohne Beteiligung der USA statt, er diente der Deeskalation, Russland wird künftig in die Verhandlungen zwischen der EU und der Ukraine eingebunden und die Vision des gemeinsamen Wirtschaftsraumes zwischen Lissabon und Wladiwostok wurde in die Abschlusserklärung aufgenommen.
Wieso liegen Ihnen ein „Wandel durch Annäherung“ und eine gerechtere Weltordnung denn so am Herzen, wenn ich fragen darf?
Nun, ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen und war Berufsoffizier in der, wie ich sie gerne nenne, Baudissin-Armee. Der Generalleutnant und Friedensforscher Wolf Graf von Baudissin hat maßgeblich das Konzept des Staatsbürgers in Uniform beim Aufbau der Bundeswehr geprägt und hinsichtlich des beruflichen Selbstverständnisses des Soldaten in der Demokratie die Maxime vertreten, dass es seine vornehmste Aufgabe sei, Kriege zu verhindern.
Dies hat dann seinen Ausdruck im Soldatengesetz gefunden, dessen Paragraph 7 die Grundpflicht definiert, nämlich “das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen”. Diese eindeutige und ausschließliche Bindung des soldatischen Auftrags an das Grundgesetz mit seinem Friedensgebot wurde in einem schleichenden Prozess nach dem Ende des Ost-West-Konflikts jedoch ad acta gelegt.
Inwiefern denn das?
Denken Sie nur an die so genannten Verteidigungspolitischen Richtlinien und deren Gehalt, an den Umbau der Streitkräfte zur Interventionsarmee, die Beteiligung der Luftwaffe am Völkerrechtsbruch 1999 in Jugoslawien und den Einsatz der deutschen Streitkräfte in Afghanistan im Rahmen der “Operation Enduring Freedom” im Jahr 2001.
Die UN-Sicherheitsrats-Resolutionen 1368 und 1373 vom September 2001 wurden hierzu passend uminterpretiert, um der Öffentlichkeit den militärischen Einsatz als Antwort auf den 11. September als grundgesetzkonform zu präsentieren. Und der Deutsche Bundestag hatte mehrheitlich nichts gegen die Winkeladvokaten der damaligen Bundesregierung einzuwenden.
Nicht nur mir, auch zahlreichen meiner ehemaligen Kameraden, deren Berufsethos sich auf Baudissin gründete, geht diese Entwicklung gewaltig gegen den Strich. Wir lehnen die “Enttabuisierung des Militärischen”, wie Altkanzler Schröder es nannte, entschieden ab, weil sie einen Rückfall in Zeiten bedeutet, die wir längst überwunden zu haben glaubten, also einen zivilisatorischen Rückschritt. Ich empfehle zu dieser Thematik die Rede [PDF] des CSU-Abgeordneten Dr. Gauweiler vor Offizieren der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg vom Sommer 2014, die an Klarheit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
Hinzu kommt, dass die EU ihr Ansehen in der Welt als Friedensprojekt außerhalb des Westens aufs Spiel setzt, wenn ihr Militär zum ordinären Instrument der Durchsetzung von US-Interessen degeneriert. Denn um nichts anderes ging es 1999, 2001 und geht es heute bei den Planungen der NATO für den Einsatz einer Schnellen Eingreiftruppe in den baltischen Staaten erneut. Wir Europäer in der EU müssen endlich begreifen, dass die einstige, weitgehende Interessenidentität zwischen den USA und Westeuropa mit dem Ende der Systemauseinandersetzung definitiv zu Ende ist. Schaffen wir das nicht, behält Brzezinski recht, denn dann sind wir nicht mehr als Vasallen einer Weltmacht, die ihre Interessen gegen das Völkerrecht und die Mehrheit der Weltbevölkerung absolut setzt.
Und welche Alternative ist denkbar für Sie? Wie könnte diese neue Weltordnung denn aussehen, wenn statt Kriegen mehr Dialog angezettelt wird?
Hierfür notwendig wäre die Formung einer Welt, in der nicht mehr nur eine global aufgestellte Macht den Rest in jeder Hinsicht zu dominieren versucht. Diese ist allerdings an einige grundlegende Voraussetzungen gebunden…
Die USA müssten erstens ihren erst jüngst in Obamas Rede zur Lage der Nation bekräftigten weltweiten Führungsanspruch aufgeben und auch die überhebliche Überzeugung, eine “außergewöhnliche” und “unverzichtbare” Nation zu sein, die daraus Vorrechte ableiten dürfe.
Sie müssten sich zweitens eingestehen, dass sie ohne die bislang bestehende, mehr oder minder freiwillige Bereitschaft der übrigen Welt, ihnen ihre Machtprojektion zu finanzieren, ihren Anspruch nicht aufrecherhalten können, der übrigens massiv zulasten der abhängig Beschäftigten in den USA und der dortigen Mittelklasse geht. Der Präsident des Council on Foreign Relations, Richard Haass, schrieb in einem Memorandum an den künftigen Präsidenten im November 2008: “We must encourage others to continue to recycle their dollars here—in part by buying and investing in American companies. We require $2 billion a day just to stay afloat.”
Drittens müssten Europa und die aufstrebenden Staaten in der Welt die verheerenden Folgen der US-Politik stets vor Augen haben und einen anderen Weg beschreiten, nämlich den der internationalen Kooperation auf gleicher Augenhöhe und der strikten Beachtung des Völkerrechts, besonders eines absoluten Gewaltverzichts in den internationalen Beziehungen. Dazu muss die Welt nicht neu erfunden werden, denn die Instrumente sind mit den Vereinten Nationen, ihrer Charta, ihren Unterorganisationen und den Regionalen Abmachungen, wie der OSZE sowie der SCO schon lange vorhanden, sie müssen lediglich weiterentwickelt werden.
Viertens bedarf es einer völligen Neuordnung des internationalen Finanzsystems, was unter anderem mit der Ablösung einer nationalen Währung als Weltleitwährung einhergehen muss und des Aufbaus einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, von der alle Staaten gleichermaßen profitieren und in welcher die soziale Frage eine maßgebliche Rolle spielt. Vorschläge hierfür gibt es zuhauf, beispielsweise bei Stephen Zarlengas American Monetary Institute sowie zahlreichen Forschungseinrichtungen weltweit.
Ich kann hier nur die unverzichtbaren Fundamente ansprechen, auf denen die Welt am Ende der Dominanz des Westens neu gestaltet werden muss, wenn dies nicht chaotisch ablaufen soll. Dazu muss der Westen insgesamt begreifen, dass die Phase abgelaufen ist, in der er seine Standards generell allen anderen überstülpen kann. Er sollte sich damit begnügen, dass das von ihm entwickelte Völkerrecht und die durch ihn gesetzten und kodifizierten individuellen Rechte weltweit Verbreitung gefunden haben. Vor allem jedoch sollte er sich selbst an seine Grundsätze halten. Die jahrhundertelange Phase der Ausbeutung der übrigen Welt ist definitiv vorbei. Tiefe Einsichten hierzu bietet Andre Gunder Franks Buch “ReOrient- Gloabal Economy in the Asian Age”, das leider bisher nicht auf Deutsch erschienen ist.
Und was bedeutet all das das für uns Deutsche und die Politik hierzulande?
Deutschland und die EU sind wegen ihrer Verbindungen zu den USA hier besonders gefordert, auf ihren Hauptverbündeten – übrigens in dessen wohlverstandenem eigenen Interesse – einzuwirken, seine Anmaßung durch eine realistische Einschätzung der verbleibenden eigenen Möglichkeiten zu ersetzen. Wie die Götter Hybris bestrafen, kennen wir ja aus der griechischen Mythologie. Willy Wimmer hat es vor einigen Jahren so ausgedrückt: “Die Japaner waren auch schon einmal fünf Meter groß.”
Die Welt mit der oben beschriebenen Zielsetzung neu zu ordnen, erfordert eine Initiative der großen Staaten und besonders der EU. Denn sie hat nach 1945 auf überzeugende Weise nachgewiesen, dass einstige Todfeinde ihre unterschiedlichen Interessen in einem rechtlichen Rahmen mit friedlichen Mitteln zum Ausgleich bringen können. Insofern ist sie auch auf besondere Weise in der Pflicht, wenn es gilt, für ein künftiges friedliches Zusammenleben aller Staaten auf diesem Planeten die Initiative zu ergreifen. Zweifellos eine gigantische Aufgabe, denn die bisherigen Versuche einer Neuordnung bezogen sich immer nur auf eine Region der Welt und waren nach Kriegen notwendig geworden.
Auch für diese Aufgabe gibt es jedoch ein Vorbild, nämlich die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die fast zwei Jahre von 1973 bis 1975 tagte und ein ansehnliches Ergebnis erzielte, von dem wir heute noch zehren. Die Schaffung “eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der OSZE”, wie kürzlich in Minsk vereinbart, könnte sich katalytisch auf die Etablierung eines Gremiums auswirken, das sich ein solches Ziel für die gesamte Staatenwelt setzt. Selbstverständlich müssen daran alle Staaten gleichberechtigt teilnehmen.
Und wenn man sich nun für eine solche neue und gerechtere Welt einsetzen mag: Was kann denn ein jeder und eine jede von uns konkret tun? Was rieten Sie?
Den Jüngeren unter uns rate ich dazu, ein wenig Zeit von den Aktivitäten in den sozialen Netzwerken abzuknapsen und sie für ein Engagement in der Friedensbewegung zu investieren. Zum Beispiel für die Veranstaltungen des „Friedenswinters“. Denn die alte Friedensbewegung ist ein wenig in die Jahre gekommen. Das soll keine Kritik an der jüngeren Generation sein. Ich weiß sehr wohl, dass diese Art der Kommunikation sehr wichtig geworden ist. Man kann sich darin jedoch auch verlieren.
Wir befinden uns in einer ziemlich kritischen Lage, seit der Konflikt um die Ukraine angeheizt worden ist. Deswegen muss aus der Mitte der Bevölkerung das Signal an die Politik ausgehen, dass diese eine Eskalationsstrategie nicht akzeptiert.
Dazu empfehle ich, sich angesichts des jammervollen Zustandes der deutschen Leitmedien aus alternativen Quellen zu informieren, wie in Deutschland etwa den NachSenkSeiten oder im englischsprachigen Raum etwa bei Counterpunch, Information Clearinghouse oder Consortium News, um nur einige zu nennen.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Jochen Scholz war bis 2000 Berufsoffizier in der Luftwaffe. In dieser Zeit war er unter anderem 12 Jahre in NATO-Gremien, 6 Jahre in multinationalen NATO-Stäben sowie 6 Jahre im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) tätig. Von 1999 bis 2011 war er Mitglied der “Kommission Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr” des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg. Wegen des Jugoslawienkrieges trat er aus der SPD aus.
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Video: Daniele Ganser: Medial vermittelte Feindbilder und die Anschläge vom 11. September 2001
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