Das griechische Drama spitzt sich zu

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Die griechische Bevölkerung weiß nicht mehr aus noch ein. Positive Signale und Katastrophenmeldungen lösen ein Wechselbad der Gefühle aus. Die große Mehrheit will Kompromisse „mit der Brüsseler Gruppe“ aber keine Demütigung. Die Angst vor einem „Grexit“ ist groß und weit verbreitet. Tsipras und Syriza verlieren an Vertrauen.
In der Öffentlichkeit und in der Regierungspartei gibt es Spekulationen um Finanzminister Varoufakis. Im Regierungslager herrscht Vielstimmigkeit über die Reformvorschläge und das weitere Vorgehen. Die Sozialkassen werden zu kurzfristigen Liquiditätshilfen herangezogen. Die nervöse Regierung erlässt verfassungsrechtlich bedenkliche Notstandsgesetze, die sie dann doch durch das Parlament absegnen lassen muss. Ohne die Gelder aus dem Restprogramm der „Troika“ sind die in den nächsten Monaten anstehenden Verpflichtungen nicht zu erfüllen. Eine traurige Bilanz fünf Jahre nach der Flucht unter den Rettungsschirm von IWF, EU und EZB. Ein aktueller Sachstandsbericht von Niels Kadritzke mit der Übersetzung eines Lageberichts von Yiannis Palaiologos, in der Kathimerini vom 19. April 2015.

Positive Signale und Katastrophenmeldungen lösen ein Wechselbad der Gefühle aus

Die griechische Bevölkerung weiß nicht mehr aus noch ein. Und die Nachrichten der Verhandlungsfront mit der Ex-Troika[*] aus EU-Kommission, EZB und IWF vertiefen die Ratlosigkeit von einem Tag zum anderen. Die Kakophonie der Signale aus Brüssel, Washington, Berlin und zuletzt Riga verstärken bei vielen Griechen – ob Syriza-Wähler oder nicht – die Zweifel an der Bereitschaft der Verhandlungspartner, einen „ehrenvollen“ Kompromiss mit Athen zu erreichen.

Die Ratlosigkeit äußert sich in jedem Gespräch, ob mit Journalistenkollegen, dem „Mann von der Straße“ oder der Krankenhausärztin (die ihre Plastikhandschuhe inzwischen selber finanzieren muss). Ehe man sich nach ihrer Einschätzung der Lage erkundigen kann, kommt die Gegenfrage: „Wie wird es weiter gehen? Was werden die in Brüssel und Berlin entscheiden? Was wollen die übrigen Europäer von uns?“ Wird man als Deutscher identifiziert, wird die Frage besonders nachdrücklich (und keineswegs aggressiv) gestellt. Als müsste dieser Mensch aus Berlin genau wissen, was im Kopf von Herrn Schäuble und im Herzen von Frau Merkel vor sich geht. Ob Schäuble und Merkel bewusst den bad cop und den good cop geben, ist eine der häufigsten Fragen, besonders nach dem Wechselbad der Informationen der letzten Woche aus Brüssel: produktives Gespräch Tsipras-Merkel am Mittwoch; kollektives Abwatschen von Varoufakis durch die Euro-Finanzminister am Donnerstag in Riga, dann wieder ein Telefongespräch Tsipras-Merkel am Sonntag, das nach Angaben aus Athen konstruktiv verlief und im Sinne einer „sofortigen Lösung zu Nutzen beider Seiten“.

Die Griechen wollen Kompromisse aber keine Demütigung

Mein Eindruck aus allen Gesprächen lässt sich in dem Satz zusammenfassen: Die Griechen wissen nicht, was mit ihnen geschieht, sie wissen jedoch ziemlich genau, was sie wollen: eine rasche Vereinbarung mit der „Brüsseler Gruppe“, die zum einen das Land in der Eurozone hält, zum anderen aber nicht „erniedrigend“ wird. Das Wort „ehrenvoller“ Kompromiss ist in aller Munde und die meisten Griechen gehen davon aus, dass er durchaus „schmerzhaft“ ausfallen kann. Nicht aber „erniedrigend“. In diesem Punkt trifft Finanzminister Varoufakis die „Stimmung des Volkes“ genau, wenn er von „großer Kompromissbereitschaft“ der Griechen spricht, aber zugleich betont: „We are willing to compromise, but not to be compromised“, zu deutsch: Wir wollen Kompromisse machen, aber nicht gedemütigt werden.

Persönliche Eindrücke sind immer selektiv, lassen sich in diesem Fall aber durch die neuesten Umfrageergebnisse sinnvoll ergänzen: Nach der kürzlich veröffentlichten Studie des Instituts Kapa Research (publiziert in der Sonntagszeitung To Vima vom 26. April) sehen 71,9 Prozent der Befragten als „beste Lösung“ für Griechenland eine Vereinbarung mit den „europäischen Partnern und Gläubigern“ . Dagegen sprechen sich 23,2 Prozent für einen „Bruch“ mit der Ex-Troika aus. Dem entspricht in etwa, dass 72,9 Prozent der Befragten in der Eurozone bleiben und 20,3 Prozent zur Drachme zurückkehren wollen. Noch ausgeprägter ist der Wunsch, ein EU-Land zu bleiben, was 79,4 Prozent wollen (für die Nato-Mitgliedschaft sprechen sich 73,7 Prozent aus).

Die Angst vor einem „Grexit“ ist groß und weit verbreitet

Was die Leute wollen ist klar, aber sie befürchten das Gegenteil: 68,8 Prozent der Befragten sehen die Gefahr eines Grexit aus dem Euro, während nur 24 Prozent glauben, dass diese Gefahr überwunden ist. Deshalb ist es besonders interessant, wie die Verhandlungsführung der Regierung beurteilt wird. Genau die Hälfte der Befragten beantworten die Frage, ob sie sich durch die Regierung Tsipras bei den Verhandlungen mit den europäischen Partnern repräsentiert fühlen, mit Ja oder eher Ja, während 29 Prozent negativ antworten. Zugleich sind aber 42 Prozent der Meinung, dass die Regierung im weiteren Verlauf nachgeben wird, 22,6 Prozent hingegen, dass die Partner nachgeben werden. Nur 13 Prozent der Befragten sehen einen „Bruch“ voraus. Bemerkenswert ist bei dieser Frage der hohe Anteil (22,4 Prozent) der Unsicheren, die mit „weiß ich nicht/ sage ich nicht“ antworten.

Wie schlägt sich dieses Meinungsbild in der Haltung zu den Parteien nieder? Bei der Frage, welches Gefühl sie bei der Regierung Tsipras haben, nennen nur noch 43,3 Prozent die Aussage „Hoffnung“, gegenüber 62,5 Prozent bei der Februar-Umfrage desselben Instituts. Dagegen hat sich das Gefühl der „Unruhe“ verstärkt: Die wird heute von 53 Prozent als Gefühlslage angegeben, im Februar waren es nur 34 Prozent. Ähnlich ist die Tendenz beim Gefühl der „Angst“, die heute 36,7 Prozent empfinden, während es im Februar nur 14,6 Prozent waren. Extrem zugenommen haben Gefühle wie „Verärgerung“ und „Empörung“ über die Strategie der Regierung, die von jeweils 2,7 Prozent auf 39 bzw. 32,6 Prozent gestiegen sind. Hier zeigt sich eine Polarisierung der Haltung zu einer Regierung, die noch im Februar ungeheuer hohe Zustimmungs- und Zufriedenheitsraten von über 80 Prozent erzielen konnte.

Dass die Syriza nicht mehr solche sensationellen Zustimmungsquoten erreicht, wirkt sich auch auf die „Sonntagsfrage“ aus. Mit 36,9 Prozent würde die Tsipras-Partei heute fast exakt dasselbe Ergebnis erreichen wie am 25. Januar. Damit hat sie zugleich, da die ND nur noch 21, 7 Prozent der Wähler erreichen würde, ihren bei den Wahlen erreichten 7-Punkte-Abstand zu den Konservativen verdoppelt. Nebenbei bemerkt: Die anderen Parteien liegen fast exakt bei den Prozentzahlen, die sie bei den Wahlen vor drei Monaten erzielt haben, mit einer Ausnahme, die Zentrumspartei Potami hat deutlich zugelegt und liegt mit 7,3 Prozent Wählerzuspruch klar an dritter Stelle, deutlich vor Chrysi Avgi, KKE und der Anel, dem Koalitionspartner von Syriza).

Allerdings: Trotz ihres klaren Vorsprungs hat sich der Rückhalt für die Syriza, gemessen an den Umfragen des letzten Monats – die der Linkspartei knapp 50 Prozent Wählerstimmen bescheinigten -, in beunruhigendem Maße abgeschwächt. Dagegen erzielt Alexis Tsipras als Person nach wie vor eindrucksvolle Zustimmungswerte: 61,3 Prozent haben über den Regierungschef eine positive oder eher positive Meinung, der entsprechende Wert für den Oppositionsführer Samaras liegt bei 28,5 Prozent.

Spekulationen um Finanzminister Varoufakis

Es zeigt sich also, dass der gewaltige Vertrauensvorschuss, den die Regierung in den ersten Wochen genossen hat, allmählich abschmilzt. Das hat auch Tsipras selbst begriffen, wenn man einem Bericht in To Vima glauben darf. Die Zeitung beruft sich auf Stimmen aus der Regierung, die eine bevorstehende Regierungsumbildung ankündigen, der vor allem Finanzminister Varoufakis zum Opfer fallen soll. Was an solchen Gerüchten stimmt, ist schwer zu beurteilen (Vima nennt bereits einen möglichen Nachfolger, nämlich den Professorenkollegen Evkleidis Tsakalotos). Zwar hat Tsipras bereits mehrfach die Neigung von Varoufakis zu dessen viel zu häufigen Interviews kritisiert, aber man kann sich nur schwer vorstellen, dass er seinen ökonomischen Mentor und Chefstrategen ohne Not opfern würde (der nebenbei das bleibende Verdienst hat, Tsipras vom unbedingten Verbleib Griechenlands in der Eurozone überzeugt zu haben). Doch wenn sich die Lage zuspitzen würde, hätte ein solcher Schritt eine gewisse Logik. Obwohl Varoufakis alles andere als ein „Bauernopfer“ wäre – innerhalb der Regierung fungiert er als die zweitwichtigste Figur, das heißt eher als „Dame“. Aber das Opfer würde nicht nur die Finanzminister der Eurogruppe freuen, die Varoufakis spätestens seit Riga offenbar aus ihrem Kreis herausmobben wollen.

Am Montag hat Tsipras das V-Problem auf elegante Weise zunächst entschärft. Der Finanzminister bekam offiziell bestätigt, dass er das Vertrauen des Regierungschefs genießt und einem neu gemischten Verhandlungsteam vorsteht. Aber innerhalb dieses Teams wurde Tsakalotos aufgewertet, der in der Presse als möglicher Nachfolger von Varoufakis genannt wurde. Wer in den entscheidenden Phasen der Verhandlungen mit der Brüsseler Gruppe die griechische Delegation leiten wird, bleibt abzuwarten. Aber die Berufung von Tsakalotos macht eigentlich nur Sinn, wenn er – dem mehr diplomatische Fähigkeiten zugesprochen werden – als Puffer zwischen dem Finanzminister und dessen Eurozonen-Kollegen vorgesehen ist. Allerdings kann von einer „Entmachtung“ des Finanzministers, wie er triumphierend von BILD und anderen Gazetten gemeldet wird, derzeit keine Rede sein.

Auch innerhalb der Syriza ist Varoufakis inzwischen durchaus umstritten. Dem brillanten Intellektuellen fehlt nicht nur der Stallgeruch der Partei, sein öffentliches Auftreten und seine ausgeprägte Neigung zur Selbstdarstellung wird auch von Regierungskollegen als anmaßend empfunden. Varoufakis lässt zu viele Leute spüren, dass er sich in der Gesellschaft brillanter Köpfe wohler fühlt. Zudem ist nicht zu übersehen, dass das Athener Finanzministerium, das er führen und zu konkreten Vorschlägen inspirieren soll, keineswegs effektiver arbeitet als unter weniger intelligenten Vorgänger. (Was natürlich auch daran liegt, dass der „Apparat“ sich nicht so schnell auf eine neue Leitung umgestellt hat.)

Darüberhinaus ist Varoufakis innerhalb der Syriza nicht nur wegen seines selbstgefälligen und zuweilen arroganten Auftretens umstritten. Vom linken Flügel der Partei wird er misstrauisch beäugt, weil er zugleich der große „Realist“ ist, der in Fragen wie der Privatisierungen oder der von Athen geforderten Reform des Rentenwesens flexibler und pragmatischer argumentiert als es im Parteiprogramm vorgesehen ist.

Vielstimmigkeit über Reformvorschläge und brisante Gedankenspiele im Regierungslager

Damit sind wir bei einem Problem, das für die Zukunft der Regierung Tsipras weit wichtiger ist als die Personalie Varoufakis. Dass Tsipras die „Kakophonie“ beklagt, die er mit Athener Ohren aus Brüssel und Berlin wahrnimmt, kann man gut verstehen. Aber es wäre seine Aufgabe, als Regierungschef die Kakophonie im eigenen Lager zu verhindern oder zumindest einzudämmen, die nicht nur „das Ausland“, sondern zunehmend auch die griechische Öffentlichkeit heftig irritiert. Das Thema wird nicht nur von den regierungskritischen Medien gespielt. Auch die linke und sehr Syriza-freundliche Efimerida ton Syntakton mahnt immer wieder, zuletzt in ihrem Leitartikel vom 25. April, in dem es heißt: „Was wir brauchen, ist ein kühler Realismus mit sorgfältiger Vorbereitung auf griechischer Seite….vor allem aber eine stabile innere Front, ohne die bekannten und völlig unproduktiven Disharmonien , die die griechischen Bürger desorientieren und enttäuschen. Diejenigen denen der Ernst der Stunde noch nicht aufgegangen ist, sollen sich zurückhalten. Und wenn sie es nicht von alleine tun, sollten die Verantwortlichen in der Regierung und in der Partei sie zur Vernunft bringen.“ Ganz in diesem Sinne wird Tsipras vom Syriza-Europaabgeordnete Dimitris Stamoulis aufgefordert, die Verhandlungen selbst zu übernehmen.

Die widersprüchlichen und teilweise unvereinbaren Verlautbarungen aus der Regierung betreffen zentrale Themen wie die Frage der Privatisierungen, der Reformen des öffentlichen Dienstes und der Sanierung der Sozialkassen, oder rein hypothetische, aber brisante Gedankenspiele über mögliche Neuwahlen oder ein Referendum für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen mit der Brüsseler Gruppe. Wobei es wiederum völlig verschiedene Ansichten darüber gibt, welche Frage einem solchen Referendum zugrunde liegen sollte.

Katastrophenmeldungen und lauwarme Dementis

An dieser Stelle will ich nur eine ganz besondere Art von „Kakophonie“ beschreiben, die das Land in den letzten Tagen in Aufregung versetzt und zu einer der wildesten Parlamentsdebatten der letzten Jahrzehnte geführt hat, in der es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.

Am 22.April hat ein- und derselbe Syriza-Vertreter innerhalb weniger Stunden zwei gegensätzliche Positionen bezogen: Vize-Finanzminister Dimitris Mardass, der einzige Mensch im Kabinett, der über den tagesaktuellen Stand der griechischen Finanzen exakt informiert ist. Mardas erklärte im Frühprogramm des TV-Sender Mega, bei den Staatseinnahmen sei eine Loch von 400 Millionen Euro entstanden, das man bis zum 27. April auffüllen müsse, damit die Staatskasse die bis Ende des Monats fälligen 1,9 Milliarden Euro auszahlen kann: für die April-Gehälter und
-pensionen und für die Zuschüsse an die Rentenkassen.

Noch am selben Morgen gab Mardas im TV-Sender Star eine Art Entwarnung: Das Geld habe sich gefunden, die Gehälter und Pensionen für April seien gesichert. Einige Sozialkassen seien bereit, ihre Barbestände der griechischen Zentralbank zur Verfügung zu stellen, so dass die Regierung zur Not auf diese Reserven zugreifen könnte.

Liquiditätshilfen durch die Sozialkassen

Hintergrund für diese wundersame Rettung war eine äußerst kontroverse Entscheidung, die Mardas tags zuvor verkündet hatte. Die Regierung hat eine Art „Notverordnung“ erlassen, die sie ermächtigt, die Kommunen und Gebietskörperschaften sowie alle öffentlichen Institutionen (inklusive Versorgungsunternehmen, Universitäten und Krankenhäuser) anzuweisen, ihre Kassenbestände bei der Zentralbank zu deponieren. Die Entscheidung löste einen Proteststurm der Bürgermeister und Provinzpräfekten aus, die sich bei dieser Entscheidung übergangen fühlten. Die offizielle Vertretung der Bürgermeister und Provinzpräfekten erklärte, man werde einer entsprechenden Anordnung auf keinen Fall nachkommen.

Damit drohte der Regierung ein Riesenkrach mit den Kommunalpolitikern des Landes. Und nicht nur das. Die offizielle Bekundung eines akuten Finanzierungslochs von 400 Millionen Euro ließ die griechischen Bürger und auch „die Märkte“ wissen, dass der viel diskutierte Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit des griechischen Staates nur noch wenige Tage entfernt liegt.

Die kurzfristige Rettung durch die Sozialkassen hat die Regierung vor zwei Kalamitäten bewahrt: vor einem gefährlichen Konflikt mit den Bürgermeistern und vor einem noch gefährlicheren Crash auf den Finanzmärkten. Letztere versuchte Mardas mit der Mitteilung zu beruhigen, man wolle dem Fiskus nur ein „Polster“ verschaffen, das die Zahlungsfähigkeit des Staates bis Ende Mai sicherstellt. „Denn wir wissen nicht, was im Mai passiert“, erklärte Mardas, was auf die Auskunft hinausläuft, dass sich die Verhandlungen mit der „Brüsseler Gruppe“ aus Sicht von Athen noch mehrere Wochen hinziehen können.

Die interessanteste Frage bei diesem peinlichen Liquidiäts-Alarm lautet, mit welchen Argumenten oder Druckmitteln es binnen zwei Stunden gelingen konnte, die Sozialkassen zu einem beträchtlichen „Liquiditätsopfer“ zu bringen. Denn zuvor hatten sich die Vorstände der Kassen wochenlang dem Drängen der Regierung widersetzt, ihre Kassenbestände „freiwillig“ bei der Zentralbank zu deponieren (siehe dazu den ersten Teil dieses Berichtes vom 17. April). In einem ironischen Kommentar hieß es in der linken Efimerida ton Syntakton (Zeitung der Redakteure), da müsse wohl der Heilige Georg seine Hand im Spiel gehabt haben, den die orthodoxen Griechen am 23. April feiern. Tatsächlich hat, nach Information dieser Zeitung, der für das Sozialversicherungswesen zuständige Vize-Sozialminister Stratoulis mit den Vorständen einiger Kassen telefoniert. Dabei hat er ganz sicher darauf hingewiesen, dass alle Kassen prinzipiell auf Subventionen aus dem Staatshaushalt angewiesen sind, und womöglich auch, dass eine freiwillige Liquiditätshilfe doch angenehmer ist als die Disziplinierung durch ein weiteres Notgesetz nach Artikel 44 der Verfassung.

Ohne die Gelder aus dem Restprogramm der „Troika“ sind die in den nächsten Monaten anstehenden Verpflichtungen nicht zu erfüllen

Für die Situation – und das „Image“ – der Regierung, sind zwei andere Punkte wichtiger. Erstens der Kassenstand als solcher, und zwar im Hinblick auf die Verpflichtungen, die im Laufe des Mai auf die Regierung zukommen. Und zweitens die Methode, mit der die Regierung ihr Liquiditätsproblem zu lösen versucht.

Im Monat Mai hat die Regierung Verpflichtungen in Höhe von 1,3 Mrd. Euro zu erfüllen. Davon entfallen 880 Millionen auf Rückzahlungen an den IWF, die bis 12. Mai erfolgen müssen. Für diese Raten wollte Finanzminister Varoufakis mit IWF-Chefin Lagarde vorletzte Woche einen Aufschub aushandeln wollte, der aber verweigert wurde. Der Rest entfällt auf den laufenden Schuldendienst. Dazu kommen die Ausgaben für Gehälter und Renten in Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Insgesamt rechnet das Finanzministerium (laut Kathimerini vom 23. April) mit einer Deckungslücke von etwa 2, 5 Mrd. Euro, die man Hilfe der Notverordnung aus den Barmitteln der Gemeinden, öffentlichen Institutionen und staatlichen Unternehmen (inkl. Verkehrsbetrieben) abdecken will.

Aber selbst dieses Konzept reicht nur bis zum Zeithorizont von Ende Mai. Im Juni, Juli und August kommen auf Griechenland finanzielle Verpflichtungen in Höhe von 18,7 Milliarden Euro zu (davon allein 8,1 Mrd. Euro Rückzahlungen an den IWF und 6,7 Mrd. Euro an die EZB). Diese Summen sind auf keinen Fall ohne die Gelder aufzubringen, die Athen aus dem Restprogramm der „Troika“ beziehen will. Ohne diese Gelder ist die Zahlungsunfähigkeit unvermeidlich. Die aber gilt es nach Aussage von Wirtschaftsminister Stathakis unbedingt zu vermeiden, weil die Folgen für das Land „extrem negativ“ wären und eine „kolossale Instabilität der griechischen Wirtschaft“ zur Folge hätte (22. April gegenüber RTE News/Irland).

Verfassungsrechtlich bedenkliche präsidiale Notstandserlasse ohne Not

Der zweite problematische Aspekt ist das von der Regierung gewählte Verfahren einer außerordentlichen Gesetzgebung nach Artikel 44/1 der griechischen Verfassung. Ein solcher „ Akt gesetzgeberischen Inhalts“ darf nur „in Ausnahmefällen eines außerordentlich dringenden und unvorhergesehenen Notstands“ erlassen werden, und zwar vom Staatspräsidenten auf Vorschlag der Regierung.

Zunächst einmal ist das Verfahren verfassungsrechtlich bedenklich. Der eingetretene Notfall ist gewiss „außerordentlich dringend“, aber ist er auch „unvorhergesehen“? Schließlich sprechen Minister der Regierung (wie Vize-Ministerpräsident Dragasakis und Mardas selbst) seit Wochen vor einem drohenden Zahlungsausfall. Aber eine rechtliche Überprüfung, die theoretisch innerhalb von 60 Tagen möglich ist, dürfte kaum erfolgen, da die präsidielle Notgesetzgebung nur drei Monaten in Kraft bleibt, es sei denn sie wird innerhalb dieser Frist vom Parlament genehmigt.

Das Verfahren ist aber vor allem politisch problematisch, weil es das Parlament desavouiert. Hätte eine frühere Regierung es gewagt, einen so schwerwiegenden Eingriff in die Autonomie der Sozialkassen unter Umgehung des Parlaments durchzusetzen, hätte die Oppositionspartei Syriza empört protestiert und zu Massendemonstrationen aufgerufen. Der peinliche Widerspruch zu ihrer früheren Haltung wurde der Syriza-Führung allerdings rasch klar gemacht. In Anbetracht der heftigen Kritik von allen Seiten – und auch der linken Presse – ruderte die Regierung zurück und legte dem Parlament das Notgesetz bereits nach vier Tagen zur Genehmigung vor. Die erfolgte mit der ausreichenden Mehrheit von 156 Stimmen. Die hätte allerdings auch für ein ganz normales Gesetz gereicht, womit der Protest der Bürgermeister und Kommunalpolitiker gegen die zeitlich begrenzte Konfiskation ihrer Barmittel vermieden oder zumindest gemildert worden wäre.

Denn die Einsicht in die Notlage des Zentralstaats ist durchaus vorhanden. Und zwar nicht nur bei der Verwaltung der größten Provinz Attika, die in Hand der Syriza ist und bereits vorher „freiwillig“ ausgeholfen hatte. Auch der weithin respektierte Bürgermeister von Thessaloniki, der parteilose Yiannis Boutaris, äußerte Verständnis für das Ansinnen der Regierung, nicht aber für das Verfahren. Klar ist auch, dass die Opposition vieler Bürgermeister parteipolitisch motiviert ist, weil die ND auf kommunaler Ebene immer noch über eine gewisse Macht verfügt. Aber gerade angesichts dessen hätte die Regierung durch ein transparentes Gesetzgebungsverfahren vermeiden können, dass am Freitag in vielen Gemeinden die lokalen Ämter als Zeichen des Protests vorzeitig geschlossen wurden.

Fünf Jahre nach der Flucht unter den Rettungsschirm

Dass sich die Lage der griechischen Staatsfinanzen derart zugespitzt hat, wurde ausgerechnet an dem Tag offenbar, an dem alle griechischen Medien den fünften Jahrestag ihrer Misere „würdigten“. Am 23. April 2010 hatte der damalige Ministerpräsident Giorgos Papandreou (an seinem Namenstag) von der winzigen Insel Kastellorizo aus verkündet, Griechenland müsse sich unter den „Rettungsschirm“ von EU, EZB und IWF flüchten, um dem unmittelbaren Staatsbankrott zu entgehen.

Dass sich Papandreou zu dieser „Beichte“ vor der Nation auf die entfernteste griechische Inseln begeben hatte (die 130 Kilometer östlich von Rhodos und nur drei Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegt), wurde auch jetzt wieder sarkastisch kommentiert. In den Medien finden sich aber vor allem sehr präzise, schonungslose Analysen. Eine der aufschlussreichsten sei den NDS-Lesern im Anhang (ganz leicht gekürzt) zugänglich gemacht. Sie stammt von Yiannis Palaiologos, der am 19. April in der Kathimerini zusammengefasst hat, was die Griechen vor fünf Jahren erwartet haben und was ihnen seitdem widerfahren ist. Zumdem hat Palailogos fünf internationale Ökonomen die Frage vorgelegt, was im Fall Griechenland schief gelaufen ist. Die Antworten sind besonders interessant, da sie nicht von linken Analytikern, sondern von Mainstream-Ökonomen stammen.

Zusätzlich zu den von Palaiologos angeführten Daten sind noch einige ganz aktuelle Informationen nachzutragen:

  • Der Finanzinformationsdienst Markit, der auf Anleihen und Derivate spezialisiert ist, bewertet derzeit die Wahrscheinlichkeit eines griechischen Zahlungsausfalls auf fast 90 Prozent. Dagegen wird die Wahrscheinlichkeit für Spanien mit 8,8, für Italien mit 11,5 und für Portugal mit 13,5 Prozent bewertet. Die gewaltige Differenz zwischen Griechenland und den anderen Ländern stützt die These, dass ein Graccident keine Kettenreaktion in der südlichen Eurozone auslösen würde. Von dieser Hypothese geht auch ein „non-paper“ des IWF aus, das die Folgen eines Graccident durchspielt. Der Unterschied zur Grexit-Debatte von 2012 ist offensichtlich: Damals wurde die Gefahr eines Zahlungsausfalls der verschuldeten Südländer auf 40 bis 60 Prozent geschätzt (Kathimerini vom 22. April).
  • Das Athener Wirtschaftsforschungsinstitut IOBE (das dem Industriellenverband nahesteht) hat seine Prognose für das Wirtschaftswachstum des laufenden Jahres von 3 auf 1 Prozent gesenkt. IOBE-Chef Nikos erklärte bei der Präsentation des jüngsten Vierteljahres-Gutachtens, die angenommenen 3 Prozent seien unmöglich zu erreichen.

Vor dem Hintergrund dieser Realitäten werde ich in einem dritten Teil darstellen, was die Knackpunkte in den Verhandlungen bis zum 11. Mai sind und welche Möglichkeiten eines „ehrenhaften“ Kompromisses noch bestehen (den ich immer noch als wahrscheinlicher ansehe als ein Scheitern).

Anhang: Fünf Jahre nach Kastellorizo [PDF – 70KB]
Von Yiannis Palaiologos, in der Kathimerini vom 19. April 2015.
Übersetzt und leicht gekürzt von Niels Kadritzke


[«*] (An dieser Stelle muss ich eine Berichtigung einfügen: Das Unwort „Troika“ wurde inzwischen durch den Begriff „die Institutionen“ oder die „Brüsseler Gruppe“ ersetzt, und nicht durch „die Brüsseler Institutionen“, wie ich im letzten Bericht geschrieben habe. Dieser Ausdruck ist schon deshalb falsch, weil von den drei Institutionen EU-Kommission, EZB und IWF nur die erste in Brüssel sitzt, die anderen dagegen in Frankfurt und Washington.)

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