Die Antisemitismus-Kampagne gegen links

Ein Artikel von Jens Wernicke
Wolfgang Gehrcke

Auf Erhebungen und Widerstand reagieren die Medien stets mit Spaltungs- und Diskreditierungsversuchen wider die politische Opposition. Da ist, so wird behauptet, die Friedensbewegung dann mal eben „Querfront“, besteht der Blockupy-Protest aus einem Haufen gefährlicher „Radikaler“ und „Extremisten“ und wird ein zu Gentrifizierung forschender Wissenschaftler zum „Terroristen“. Und da ist eine Anti-NATO-Position eben „antiamerikanisch“ und friedenspolitisches Engagement durch „Antisemitismus“ bestimmt. Und überhaupt sind viele linke Kritiken an den bestehenden Verhältnissen eigentlich antisemitisch konnotiert. Jens Wernicke sprach hierzu mit dem Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke, der in einem aktuellen Buch eine Rufmordkampagne vermittels des Antisemitismus-Vorwurfes konstatiert.

Herr Gehrcke, in ihrem neuen Buch „Rufmord: Die Antisemitismus-Kampagne gegen links“ thematisieren sie eine Rufmord-Kampagne gegen links-humanistische Positionen. Um was für eine Kampagne und was für einen Rufmord geht es denn da?

Es geht um Rufmord gegen linkes Denken insgesamt in seinen unterschiedlichen Ausprägungen mittels des Antisemitismus-Vorwurfs. Der politischen Linken soll Kritik an den USA, Solidarität mit Befreiungsbewegungen, hier besonders mit der PLO, sowie Kritik am Bankensystem offenbar ein für alle Mal ausgetrieben werden.

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie leichtfertig und willfährig der Antisemitismus-Vorwurf erhoben wird, bietet die Haltung zur neuen griechischen Regierung. Sie war noch keine Woche im Amt als ihr die deutschen Leitmedien schon Antisemitismus vorwarfen – und der Partei DIE LINKE gleich mit.

Bezogen auf den Koalitionspartner von Syriza hält der Spiegel 6/2015 der LINKEn nun vor, sie messe mit zweierlei Maß, weil sie „nicht nur in ihrer Wählerschaft, sondern auch in ihren Positionen Überschneidungen mit dem rechten Rand“ hätte. Und weiter: „Das beginnt beim offensichtlich unausrottbaren Antisemitismus…“ Diese infame Behauptung ist durch ständige Wiederholung inzwischen zum Stehsatz und zur vermeintlichen Wahrheit avanciert, die keines Beleges mehr bedarf. Der Bundestag hatte diesem Rufmord sogar einmal eine ganze aktuelle Stunde gewidmet.

Und dieser Vorwurf zieht inzwischen immer weitere Kreise. So war im Jahr 2010 sogar der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismus-Forschung, der renommierte Prof. Wolfgang Benz, in die Nähe von Antisemitismus gerückt worden. Und in der „Kritik“ am Friedenswinter war der angebliche Antisemitismus einiger Akteure dann eines der Schlüsselargumente. Mit ihm wird inzwischen auch in innerparteilichen Kontroversen schon einmal kräftig ausgeteilt und zugelangt.

Am meisten besorgt mich jedoch, dass der Begriff des Antisemitismus in dieser Verkehrung seines Inhalts beraubt und zugleich das historisch einmalige Menschheitsverbrechen der industriellen Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden relativiert wird. Und die reale Gefahr von rechts und inhumanes Denken und Handeln werden ebenso verharmlost. Die Mitte der Gesellschaft driftet in Deutschland gerade tendenziell nach rechts, das ist das eigentliche Problem.

Warum reagiert die Linke denn so empfindlich auf diesen Antisemitismusvorwurf? Wäre es nicht besser, diese ganzen Kampagnen ins Leere laufen zu lassen?

Nein, denn das würde bedeuten, zur Rechtsentwicklung in unserm Land und in Europa zu schweigen, sich aus dem Konflikt Israel-Palästina rauszuhalten und so Raum für Rassismus und Antisemitismus zu schaffen. Und genau das, uns und unsere Positionen zum Verstummen zu bringen, ist ja das offensichtliche Ziel der ganzen Aktion. Wer glaubt, da ginge es den Herrschenden darum, „den Linken“ ihr „Rechtssein“ auszutreiben, der hat noch nicht begriffen, was wirklich geschieht…

Außerdem: Mich trifft und empört dieser Vorwurf auch deshalb so sehr, weil er die Grundsubstanz linken Denkens infrage stellt. Und das ist und bleibt praktizierter Internationalismus, Humanismus sowie Antifaschismus als Überzeugung und Tat. Antisemitismus nun zum politischen Kampfbegriff gegen Antifaschisten und Linke umzuformen, ist schlicht eine ungeheuerliche Verdrehung der Tatsachen und der politischen Geschichte. Vor und während der Nazizeit galten Linke, Demokraten, Sozialisten und Kommunisten allemal, es galten Intellektuelle, bildende Künstler, Schriftsteller, Musiker, Theaterleute nämlich selbst als „verjudet“ – und das nicht nur in der Rechtsaußenpropaganda, sondern auch und vor allem im Alltagsbewusstsein.

Dass dieses Stigma in den letzten Jahrzehnten nun genau in sein Gegenteil verkehrt worden ist, dass namentlich Linke jetzt nicht mehr als verjudet, sondern als antisemitisch gelten, muss einem ernsthaft zu denken geben. Geschieht das zufällig oder spontan oder sind dahinter nicht vielmehr auch planende Köpfe und Netzwerke erkennbar, die hierdurch konkreten Interessen Vorschub leisten?

Aber ermuntert nicht gerade die linke Verletzlichkeit bei diesem den politischen Mainstream geradezu, immer wieder mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu hantieren und anzugreifen?

Ja, aber das ist nicht zu ändern, zumindest kann ich es nicht ändern. Antisemitismus und Antikommunismus sind Geschwister antidemokratischen Denkens. Es ist ja auch kein Zufall, dass in rechtsextremen Bewegungen beides sehr stark verbreitet ist. Und eben deswegen trifft es Linke natürlich besonders, wenn ihnen da eine anti-demokratische, inhumane Art und Weise unterstellt wird, und dann wollen sie sich umgehend rechtfertigen, entschuldigen, distanzieren. Dabei übersehen viele Linke jedoch, dass der Antisemitismus-Vorwurf gegen sie eine ganz eigene politische Stoßrichtung hat.

Meinen Sie, der Antisemitismus-Vorwurf würde instrumentalisiert?

Gegen links: Ganz klar ja. In meinem Buch zeichne ich verschiedene Antisemitismus-Kampagnen nach, anhand derer das auch belegbar ist: Gegen Attac, Günter Grass, Jakob Augstein, gegen kritische Wissenschaftler und gegen die Partei DIE LINKE.

Interessant ist dabei vor allem, dass bereits in der ersten Antisemitismus-Kampagne gegen Attac im Jahr 2003 alle Argumente angelegt gewesen sind, die in den folgenden Jahren noch entfaltet und ausgebaut wurden. Zur Erinnerung: Am 15. Januar 2003 hatte eine halbe Million Menschen in Berlin gegen den drohenden Irak-Krieg demonstriert. Presse, Funk und Fernsehen warnten vor dem Antiamerikanismus der Protestierenden und dem fließenden Übergang von Antiamerikanismus zu Antisemitismus.

Schon damals lief die Argumentation so: Attacs Kritik am Kapitalmarkt „sei anschlussfähig“ – übrigens ein weidlich genutzter Gemeinplatz – an die Unterscheidung zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“, was eine Formel der Nazis war; Attac hinge einer Sündenbocktheorie an, wonach die Banker bzw. deren Gier am Crash schuld seien usw. usf. Das seien aber Verschwörungstheorien über das global agierende Kapital, die mühelos den antisemitischen Anschluss an entsprechende Vorstellungen des international agierenden Judentums nahelegten. Das mobilisiere Ressentiments und sei zudem verkürzte – und deshalb ebenfalls antisemitische – Kapitalismuskritik.

Gibt es Ihrer Meinung nach denn gar keinen Antisemitismus von links?

Es gibt keinen linken Antisemitismus, also keine linke Begründung oder gar Theorie zum Hass, zur Ausgrenzung oder Verachtung von Jüdinnen und Juden, weil sie Juden sind. Links ist prinzipiell nicht völkisch und links wird keiner Menschengruppe bestimmte Verhaltensweisen oder Eigenschaften andichten.

Gleichwohl ist es unbestreitbar, dass auch unter Linken antisemitisches Gedankengut anzutreffen ist. Dass auch Linke für antisemitische Sündenbocktheorien anfällig sein können, haben dabei besonders drastisch die antijüdischen Kampagnen etwa im Stalinismus gezeigt, als viele Revolutionäre aus ihren Parteien ausgeschlossen, verhaftet und gefoltert wurden, weil man ihnen als Jüdinnen und Juden generell nicht getraut hat. In den Stalinschen Schauprozessen der 30er und dann wieder der frühen fünfziger Jahre wurde nicht zuletzt der Vorwurf des „Zionismus“ erhoben und gegen jüdische Parteimitglieder gewendet.

Man könnte es sich jetzt leicht machen und sagen: Stalin war nicht links, was er meines Erachtens auch nicht war. Aber die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gehört elementar zur linken und kommunistischen Bewegung. All das spielt aber in den aktuellen Antisemitismus-Vorwürfen gegen links kaum eine Rolle – da wird ganz anders argumentiert und agiert…

Wo kommen solche Kampagnen, wie Sie sie nennen, denn her? Wer agiert hier im Vorder- und wer im Hintergrund?

Nun, es gibt ein Kartell von Meinungsträgern und Meinungsbildenden, die sich gegenseitig in den Grundlinien der deutschen Politik – vor allem der Außenpolitik – bestärken und sich die Bälle zuwerfen.

Und was den Antisemitismus-Vorwurf gegen links betrifft, so skizziere ich dieses Kartell in meinem Buch genauer. Konkret besteht es aus einem überschaubaren Kreis. Dazu gehören Journalistinnen und Journalisten in den Leitmedien wie etwa Süddeutsche, Spiegel, Zeit, FAZ, ARD, ZDF, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau; zusätzlich gewinnen auch Onlinedienste und -portale an Bedeutung. Diese Gruppe arbeitet mit rund zehn großen Stiftungen zusammen, darunter etwa Bertelsmann und Körber, die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik etc. Und alle zusammen sind verschränkt mit formellen und informellen Netzwerken wie der Münchner Sicherheitskonferenz, der Atlantikbrücke, dem Centrum für angewandte Politikforschung, dem American Jewish Committee und anderen. Gemeinsam bestimmen sie eine Handvoll Wissenschaftler und 10 bis 15 Abgeordnete zu Experten, die dann zitiert werden und deren Position somit mehr und mehr an Gewicht gewinnt.

Besonders gefragt sind dabei Stichwortgeber aus der Linken, die sich abfällig bis abschätzig über die Politik ihrer eigenen Leute oder Strukturen auslassen. Das wirkt auf alle Fälle authentischer als Kritik von außen das könnte. Zudem ist berechenbar: Das wird einen erbitterten Meinungsstreit auslösen, der bisweilen skurrile Züge annimmt. Und das wiederum schreckt Menschen ab und macht es schwer, gegen derlei so als „offensichtlich richtig“ markierte Positionen anzugehen.

Sie fragten aber, wo solche Kampagnen herkommen… Nun, sie resultieren aus konkreten Interessenlagen. Sie haben ihre Ursachen in unterschiedlichen bis gegensätzlichen Interessen. Mehrheitsmeinungen sind zwar für die Regierungspolitik außerhalb von Wahlkämpfen zu vernachlässigende Größen – man denke nur an die erstaunlich stabile Mehrheit gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Bevölkerung -, auf Dauer und stabil aber ist die Einsicht in die Notwendigkeit oder gar die aktive Zustimmung der Bevölkerung nötig – oder deren Einschläferung -, um Interessen der herrschenden Klasse ohne größere Verwerfungen auch durchsetzen zu können.

Die angesprochenen Kampagnen sind dabei vor allem ein Ausdruck des „Kampfes um die Köpfe“. Dieser ist in den europäischen Ländern von zentraler Bedeutung. Viele Bürgerinnen und Bürger stehen hier nämlich vor der Entscheidung, ob sie den Ausweg aus der sozialen, politischen Misere auf der rechten Seite des politischen Spektrums suchen, der dann aber gar keiner wäre, oder ob nicht vielleicht doch ein Befreiungsschlag nach links denkbar ist. Die einen haben das Interesse, bereits das Denken in Alternativen zu tabuisieren und diskreditieren, wenn dasselbe schon nicht zu verbieten ist, während das vorderste Interesse der anderen, unser Interesse ist, Alternativen wach zu halten, zu qualifizieren und endlich durchsetzen. So ermutigend dabei beispielsweise die angesprochene Bevölkerungsmehrheit gegen Auslandseinsätze ist, so schwierig gestaltet es sich doch, dass die Meinungsmehrheit ein politischer Druckfaktor wird. Und auf eben dieses Kettenglied zielen diese Kampagnen.

Und wenn dem aktuell so ist, wie Sie beschreiben: Was täte in der aktuellen Lage dann am ehesten Not? Was würden Sie der gesellschaftlichen Linken im Land sozusagen raten, würden Sie von dieser um Rat gefragt?

Zuallererst, allen auch nur in Anklängen rassistischen Erklärungsmustern eine klare Absage zu erteilen. So wenig wie es „den Deutschen“ gibt, gibt es “den Russen“ oder „den Juden“. Und keiner von allen hat eine geringere Wertigkeit als die anderen.

Dann: Sich weniger auf Staaten zu fixieren, als sich auf Bewegungen und Menschen zu beziehen. Ich denke dabei an das Degenhardt-Lied, dass die Linke keinen Staat machen, meint: ihn eher infrage stellen soll. Wir vertreten Lebens- und Klasseninteressen der Menschen, übrigens nicht nur in unserem Land; wir sind Internationalisten.

Endlich: Nicht auf alles reinzufallen, was im Moment kampagnenartig vertreten wird, sonst wird die Linke steuer- und aussteuerbar. Ihre Stärke ist, zu enthüllen, zu erklären, was ist.

Und was den Israel-Palästina-Konflikt anbelangt, so erscheint mir die Zweistaatlichkeit immer noch die beste Lösung. Auf dieser Grundlage könnten sich durchaus Kooperation und Zusammenarbeit entwickeln. Die Linke ist in der Lage, in diese Richtung einen Beitrag zu leisten, denn sie hat Freunde und Partner in Israel und in Palästina.


Wolfgang Gehrcke ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik (Außen-, Abrüstungs-, Menschenrechts- und Europapolitik). Er ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN. Buchveröffentlichungen unter anderem zur Strategiedebatte der LINKEN, Afghanistan-Politik der Bundesregierung und Syrien.


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