Denkfehler 4: »Wir leben in einer Wissensgesellschaft! Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft! Das erfordert neue Strukturen.«
Von Albrecht Müller, Auszug aus „Die Reformlüge“.
Variationen zum Thema:
- »Technologische Revolution hin zur Informations- und Wissensgesellschaft.« Angela Merkel
- »Digitaler Kapitalismus.« Peter Glotz
Menschen versuchen, die Epoche, in der sie leben, in Begriffe zu fassen. Das war immer so: Mittelalter, Neuzeit, Zeitalter der Aufklärung, Feudalismus, Agrargesellschaft, Industriegesellschaft. Und jetzt eben die Dienstleistungsgesellschaft oder das Informationszeitalter. So verständlich dieser Kategorisierungsversuch ist, er verdeckt auch viel, er verwischt und lenkt in falsche Richtungen und führt zu falschen Entscheidungen.
Im konkreten Fall soll mit diesen Begriffen auch die Notwendigkeit für gravierende Veränderungen begründet werden. Wenn zum Beispiel die sogenannte Zukunftskommission der Bayerischen und Sächsischen Staatsregierungen1 von einer »unternehmerischen Wissensgesellschaft« spricht, dann will sie etwas damit erreichen. Unter anderem will sie erreichen, dass »ein wachsender Anteil der Bevölkerung größere Verantwortung für seine Erwerbstätigkeit und Daseinsvorsorge unternehmen wird« und die sozialen Sicherungssysteme dem angepasst werden. Das heißt: das angeblich Neue wird mit einem Zweck verbunden.
Wir erleben in Deutschland derzeit einen epochalen Umbruch von der materiellen Produktion zur Wissensgesellschaft.”
Stefan Röver, Vorzeige-Start-up-Unternehmer für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, im Oktober 2000 (sein 1994 gegründetes Unternehmen Brokat Technologies ist inzwischen vom Markt verschwunden)
Eigentlich sollten jene, die immer neue Zustände unserer Gesellschaft und neue Kategorien ausrufen, durch ein noch nicht lange zurückliegendes Ereignis gewarnt worden sein: Im Zeichen des Aktienbooms und des Booms der neuen Märkte hatte man das Zeitalter der New Economy ausgerufen. Dann platzte die Blase, und New Economy und E-Commerce schrumpften auf das, was sie tatsächlich waren: eine gewisse Neuerung, ein gewisser Fortschritt, aber nie im Leben geeignet, um unserer Gesellschaft einen neuen Namen zu geben.
Ganz ähnlich ist das mit der »Dienstleistungsgesellschaft«. Wenn man hört, welches Tamtam darum gemacht wird, könnte man meinen, in Deutschland würden bald keine Maschinen mehr gebraucht und anstatt Auto zu fahren, würden wir alle mit Taxis chauffiert; wir würden nicht mehr essen, was auf den Feldern angebaut wird, und zu kleiden bräuchten wir uns auch nicht – man tut geradezu so, als würde man von Dienstleistungen leben. »Etwas zu produzieren war ja schon fast nicht mehr akzeptabel«, erinnert sich der Vorstands-Vize der BASF Eggert Voscherau,1 und BASF-Chef Jürgen Hambrecht warnt vor den »Träumereien« von einer Dienstleistungsgesellschaft. Sie haben recht. Wenn man sich die tatsächliche Entwicklung anschaut, dann hat die Industrie für unseren eigenen Konsum wie für den Export nach wie vor herausragende Bedeutung in Deutschland. Und Vorstand und Mitarbeiter/innen eines Unternehmens wie BASF, dessen Börsenwert zeitweise vom Börsenwert kleinerer Dienstleister überflügelt worden war, freuen sich mit Recht über die Wiederentdeckung der »Old Economy«. Wir haben einen modischen Zirkus hinter uns, der ganz schön teuer war, weil er Kräfte für Kapitalmarkt-Aktivitäten absorbierte – zum Beispiel für die Abwehr von Übernahmegerüchten – und damit Ressourcen band, die produktiver hätten eingesetzt werden können.
Abbildung 2: Anteil der einzelnen Wirtschaftssektoren an der gesamten Bruttowertschöpfung (in Preisen von 1995) in Prozent
Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren. Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 541. Eigene Berechnungen
Statistisch betrachtet ging der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in gut zehn Jahren von 35 auf 27,8 Prozent zurück, während sich der Anteil des Dienstleistungssektors im selben Zeitraum von 63,7 auf 70,9 Prozent erhöhte (siehe Abbildung 2). Dabei muss man jedoch beachten, dass in dem hohen Dienstleistungsanteil der gesamte Öffentliche Dienst enthalten ist – von den Lehrern über das Einwohnermeldeamt und die Polizei bis zu den Müllmännern. Außerdem stecken hinter manchen der statistisch erfassten Verschiebungen zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor neue Moden oder auch sachlich begründete Tendenzen wie die Auslagerung von Unternehmensteilen. Als beispielsweise Daimler-Chrysler einen Teil der hauseigenen, bisher in der Firma erbrachten Dienstleistungen wie Buchhaltung, Telekommunikation und anderes auslagerte und sie in einer neuen Firma, der Debis, zusammenfasste, wuchs in der Statistik der Anteil des Dienstleistungssektors.
Ähnliche Entwicklungen haben dazu geführt, dass in den USA oder auch in Großbritannien der Sektor der Dienstleistungen größer ist als hierzulande. Das gilt als fortschrittlich. Aber eigentlich ist es ziemlich gleichgültig, in welchem Sektor Menschen einen Arbeitsplatz haben und womit sie ihr Einkommen verdienen.
Dienstleistungen sind bei Meinungsführern auch deshalb angesehen, weil viele von ihnen selbst im Dienstleistungsbereich arbeiten, etwa im Beratungswesen oder in der Public Relations. In diesen Bereichen können horrende Honorare verdient werden. Dass diejenigen, die dort tätig sind, das besonders gut finden, kann man verstehen. Aber zu meinen, eine gesamte Gesellschaft könne von Dienstleistungen leben, ist einer der typischen Denkfehler. Wir hätten dann nichts mehr zu essen, nichts anzuziehen und nichts zum Autofahren. Womit würden wir dann die teuren Berater bezahlen?
In der Zukunftskommission der Staatsregierungen aus Dresden und München treibt die Bewunderung für Dienstleistungen besondere Blüten. In ihrem Bericht beschäftigt sich die Kommission mit der Frage, wie es kommt, dass die Deutschen einen soviel geringeren Dienstleistungsanteil haben als die USA. Die Zukunftskommission sieht ein Beschäftigungspotential von bis zu 4 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen. »Modellhaft«, so wird behauptet, »gäbe es dann in Deutschland keine Arbeitslosigkeit mehr.« Wer die Diskussion um die Dienstleistungsgesellschaft verfolgt hat, weiß, dass diese Schwänke der Bayern und Sachsen für den Verlauf der Debatte nicht unbedeutend waren. Große Teile jener, die einen Niedriglohnsektor fordern, gehen von diesen bayerisch-sächsischen »Erkenntnissen« aus und erhoffen sich den Durchbruch zur Vollbeschäftigung, wenn, ja wenn die Deutschen nur endlich ihre »mentalen Barrieren« gegen das Dienen überwinden: »Die Deutschen zögern nicht nur, solche Dienste anzubieten, sondern auch, sie anzunehmen. Viele wollen nicht dienen, viele wollen aber auch nicht bedient werden.«
Mit solchen abwegigen Erwägungen beschäftigen sich hochbezahlte Kommissionen und unsere Spitzenpolitiker. Haben diese Leute vergessen, dass wir in einer Marktwirtschaft leben? In einer Marktwirtschaft ist es Anbietern und Nachfragern überlassen, welche Mentalität sie haben.
Ist die »Wissensgesellschaft« eine aufgeklärte Gesellschaft?
Nicht minder erstaunlich ist die Debatte um die »Wissens-« oder »Informationsgesellschaft« beziehungsweise den »digitalen Kapitalismus« (Peter Glotz). Auch hier wird so getan, als gäbe es fundamentale Brüche. Kleine Brüche und große Veränderungen hat es schon immer gegeben. Denken wir an die Erfindung des Telefons oder die Entdeckung der Elektrizität. Das waren keine geringeren Brüche als das, was sich im Zuge der Computerisierung in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren an sogenannter Wissensgesellschaft entwickelt hat.
Deutschland ist mir zu langsam auf seinem Weg in die Wissensgesellschaft.”
Horst Köhler nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten, 23.5.2004
Heute wird alles gleich Zäsur genannt, und man spricht von einem neuen Zeitalter. »Nach der digitalen Revolution ist nicht vor der digitalen Revolution«, sagt Angela Merkel. Und viele reden mit ihr von der Wissensgesellschaft oder von der – noch eindrucksvoller – »wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft« und suggerieren damit, wir seien eine informiertere Gesellschaft als noch vor wenigen Jahren.
Die Fülle an Wissen ist unfassbar groß geworden und wächst ständig. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass der Zugriff auf Daten leichter geworden ist. Zur Erarbeitung dieses Buches hätte ich vor zwanzig Jahren noch sehr viel in Bibliotheken stöbern müssen. Heute recherchiere ich im Internet und besorge mir CD-Roms mit Datensammlungen, Tabellen und Diagrammen. Das sind gravierende Veränderungen.
Eine ganz andere Frage, die leider selten gestellt wird, ist, ob die Menschen im großen und ganzen heute wirklich mehr wissen als früher, ob sie mehr wissen wollen und ob ihr Wissen präsent ist, wenn andere versuchen, ihre Meinung durch dargebotenes »Wissen« zu beeinflussen. Würde man versuchen, sich eine Gesamtübersicht zu verschaffen über die Bereitschaft und Fähigkeit der Mehrheit der Menschen, Wissen einzusetzen und dargebotenes »Wissen« kritisch zu hinterfragen, dann würde man sicher feststellen, dass wir von der Wissensgesellschaft eher abrücken als zu ihr hinzurücken. Ein paar Indizien sollen diese These belegen:
In der Werbe- und Public-Relations-Wirtschaft registriert man, dass der Bildungsstand in den letzten Jahren massiv gesunken ist. Rund 20 Prozent der Bevölkerung seien nicht mehr fähig, einen normalen Artikel einer etwas anspruchsvolleren Tageszeitung zu lesen. Etwa 15 Prozent der Deutschen bewegen sich nach Meinung der »Stiftung Lesen« an der Grenze zum funktionalen Analphabetismus. Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens nahm die sogenannte Boulevardisierung zu. Von der »Verblödung des Publikums« spricht der fernseherprobte Medienmann Erich Böhme. Wenn Jugendliche rund sechs Stunden am Tag elektronische Medien nutzen, also Computer, Fernseher, Minidisc, Handy, dann ist der Effekt für Bildung und Wissen ausgesprochen fragwürdig.
Wir spüren diese Entwicklung in der politischen Welt: Die Beteiligung nimmt ab, das Wissen über Politik und gesellschaftliche Vorgänge nimmt ab, die Vergesslichkeit nimmt zu, man kann es sich als Politiker heute leisten, nach kurzer Zeit das Gegenteil von dem zu behaupten, was man zuvor gesagt hat. Damit will ich nicht dem Kulturpessimismus das Wort reden. Es geht mir nur um den Versuch, dem Schlagwort von der Wissensgesellschaft ein paar Fakten entgegenzusetzen. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass sich hier nichts Neues auftut und schon gar nichts, was strukturelle Änderungen bei den Regeln unseres Zusammenlebens erfordern würde.
Die Reformlüge und die Tatsache, dass sie sich so unwidersprochen verbreiten konnte, ist übrigens einer der besten Belege dafür, dass es um die Wissensgesellschaft in Deutschland nicht allzu gut bestellt ist.