Einmal kritisch fragen und dann noch einmal. Sich nicht mit dem ersten kritischen Fragezeichen zufrieden geben. Das ist das eigentliche Prinzip der Nachdenkseiten-Arbeit
… und dies ist dann hoffentlich zum Nutzen und nicht zum Ärger der NachDenkSeiten-Leserinnen und –Leser. Wenn man das beharrliche Noch-einmal-hinterfragen sein lässt, dann bleibt man gelegentlich auf einer vordergründigen Ebene hängen. Das muss aber nicht sein, wenn man sich des Problems bewusst ist. Man kann das Doppelt-hinterfragen lernen. Zur Demonstration einige aktuelle Beispiele. Albrecht Müller
Erstes Beispiel: Volkswagen
Den Hinweis auf dieses Beispiel verdanke ich einem Journalisten: Die öffentliche Debatte der letzten Tage kreiste um die Frage, ob VW-Chef Martin Winterkorn weichen muss, ob Piëch einen Machtverlust hat einstecken müssen; der niedersächsische Ministerpräsident gratulierte ihm zum Geburtstag, der frühere Vorsitzende der IG Metall Huber stützt Piëch, „Ferdinand Piëch: Was den Volkswagen-Patriarchen antreibt.- fragt „Die Welt“. Wie verhält sich die Familie Porsche?
Noch-einmal-hinterfragen würde einem darüber nachdenken lassen, wie es dazu kommt, dass ein früheres Unternehmen im öffentlichen Eigentum zum Verschiebebahnhof der Interessen der Familien Porsche, Piëch usw. geworden ist und warum die öffentliche Hand und das öffentliche Interesse eine so geringe Rolle spielt. Die jetzige Debatte hätte von den jetzigen Machthabern bei VW und Porsche inszeniert sein können. Sie hat weiter zementiert, dass dort private Familien das Sagen haben und dass im übrigen die Gremien sich nicht in Wolfsburg sondern in Salzburg zu versammeln haben. Es wäre interessant nachzuzeichnen, wie im Zeitablauf dem Staat und dem Volk Macht und Einfluss auf Volkswagen entglitten ist.
Zweites Beispiel: TTIP, die Vorteile für den Welthandel und für uns
Auch kritische Geister lassen sich auf eine Diskussion darüber ein, ob TTIP den Welthandel anzuregen vermag und das Wachstum zu fördern vermag. Oder eben nicht, wie andere behaupten. Und wir kritisieren die Stärkung privater Interessen bei juristischen Auseinandersetzungen und die Dominanz der Kapitalinteressen vor den öffentlichen Interessen.
Diese kritischen Fragezeichen sind relevant und wichtig. Aber sie verdrängen das schon früher einmal zu Recht begonnene Nachdenken darüber,
- ob die internationale Arbeitsteilung nicht besser dezentralisiert würde, also mit stärkerer regionaler Arbeitsteilung,
- dass heute Verkehrsvermeidung und nicht die weitere Forcierung des See-, des Luftfracht-, des Straßen- und anderen Verkehrs angesagt wäre. Die ökologischen Probleme zum Beispiel, die mit enorm wachsendem Lkw- und Luftfrachtverkehr verbunden sind, geraten aus dem Blick, wenn man sich darüber streitet, ob TTIP den Welthandel wirklich zu steigern vermag und damit auch die angeblich daraus quellenden ökonomischen Vorteile.
Drittes Beispiel: Der neue Ost-West-Konflikt
Die öffentliche Debatte zu diesem wichtigen Thema hat sich weit vom Kern des Problems und auch des sinnvollen Ziels weg entwickelt. Wir streiten darüber, wer verantwortlich war für die tödlichen Schüsse auf dem Maidan und darüber, wer den Konflikt begonnen hat, der Westen und die NATO oder Russland mit seiner Annexion der Krim. Wir vereinbaren den ersten und zweiten Waffenstillstand von Minsk und beobachten die Verletzungen; wir verhängen Sanktionen und veranstalten G7 statt G8-Gipfel; die Russen rüsten und wir rüsten und lassen gepanzerte Militärfahrzeuge durch Osteuropa rollen. Und wir beklagen die Propaganda der anderen und diese beklagen unsere Propaganda.
Aber darüber, was zu tun wäre, um Europa einschließlich Russlands zusammen zu halten und den Graben wieder zuzuschütten, darüber, was zu tun wäre, um die vereinbarte gemeinsame Sicherheit in Europa wieder anzustreben und zu erreichen, wird fast nicht nachgedacht. Um diese Fragen zu stellen, muss man sich bewusst einen Ruck geben, eben zweimal nachfragen.
Übrigens muss man auch den Eindruck gewinnen, dass darüber, was ein Krieg wirklich bedeutet auch nur oberflächlich nachgedacht wird.
Viertes Beispiel: Können wir den Balten und anderen osteuropäischen Völkern vorschreiben, wie sie sich zur NATO entscheiden? Dass sie beigetreten sind, ist ihre Entscheidung.
Dieses Thema hängt eng mit dem dritten Beispiel zusammen. Gelegentlich wird gegenüber Kritikern der NATO Osterweiterung heftig angemerkt, dass man unseren Nachbarn im Osten nicht vorschreiben könne und dürfe, wie sie sich zur NATO-Osterweiterung stellen. Das ist die vordergründige Debatte. Und die gezogenen Schlüsse scheinen ausgesprochen einleuchtend zu sein.
Wenn man ein zweites Mal nachdenkt, dann sieht die Welt etwas anders aus: ich zumindest habe bei meiner Kritik in einem früheren Beitrag zum Thema die NATO-Osterweiterung insgesamt gemeint und nicht jene Völker kritisiert, die der NATO beigetreten sind. Das war in der Tat ihre eigene Entscheidung. Aber ob wir hier in Deutschland die NATO Osterweiterung für richtig halten, ob wir es für richtig halten, die NATO und auch die weitere Aufrüstung am Laufen zu halten und die Konfrontation mit Russland zu verschärfen, das darf doch wohl unsere eigene Sache sein! Ich bin persönlich ohnehin dafür gewesen, dass das westliche Bündnis ähnlich wie der Warschauer Pakt in den Jahren nach 1989 abgewickelt wird und unsere Sicherheit auf die Grundlage gemeinsamer Sicherheit mit Russland und auf den notwendigen Strukturen abgestützt wird. In einem solchen Konzept hätte man selbstverständlich dafür sorgen müssen und können, dass auch die Völker Osteuropas keine Angst vor ihrem östlichen Nachbarn haben müssen.
Und wenn sie stattdessen doch einer NATO hätten beitreten wollen, dann wäre das eben eine geschrumpfte Rest-NATO gewesen. Und sie hätten ihre Rüstungskosten selbst bezahlen müssen.
Fünftes Beispiel: Sterbende Flüchtlinge und die notwendige Stabilisierung Libyens
Als jetzt wieder Hunderte von Menschen im Mittelmeer ertranken, hat der deutsche Außenminister als Hilfe aus der Not angeregt, Libyen zu stabilisieren. Das ist in der Tat ein vernünftiger Gedanke. Das frühere „stabilisierte“ Libyen war wirtschaftlich ein einigermaßen intaktes Land und bot offensichtlich eine Menge Arbeitsplätze. Deshalb ist der erste Gedanke, Libyen zu stabilisieren, durchaus verständlich. Aber das zweite Nachdenken wäre auch hier angebracht: Warum ist Libyen destabilisiert? Wer hat es mit Krieg überzogen? Beim dritten Nachdenken kommt man dann noch zu der Frage, ob die westliche Strategie, um der Herstellung der Menschenrechte willen solche Länder wie Libyen zu destabilisieren, wirklich sinnvoll ist. Möglicherweise ist es im Interesse des Lebens, des Überlebens und auch der Menschenrechte sinnvoll, selbst einen Alleinherrscher wie Gaddafi nicht zu destabilisieren, wenn man den Weg zur wirklichen Besserung nicht einigermaßen zu planen und zu schützen vermag.
Ihnen werden täglich andere Beispiele begegnen. Verlassen Sie sich nicht auf das erste Nachdenken.