Griechenland: Die Angst vor der Panik fördert die Panik
Mitte April 2015 erinnert die Diskussion um das „griechische Drama“ an die Atmosphäre in den Wochen vor dem Schuldenschnitt vom März 2012, als der „Grexit“ nach Darstellung der meisten mainstream-Medien unmittelbar bevorstand. Heute hat das ultimative Szenario einen anderen Namen: „Graccident“ bezeichnet die Gefahr, dass ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone aufgrund eines „Unfalls“ eintritt, den keine Seite gewollt oder langfristig geplant hat. Auf dramatische Art wird diese Unfallgefahr durch das Bild vom „chicken game“ beschworen, bei dem zwei Kontrahenten wie halbstarke Jugendliche aufeinander zurasen und beide von dem Kalkül ausgehen, dass der andere im letzten Moment auf die Bremse steigt.
Ein Bericht zur aktuellen Lage Griechenlands und zum Stand der Verhandlungen zwischen der neuen Athener Regierung und den „Institutionen“ EU, EZB und IWF von Niels Kadritzke
Jetzt wird es Ernst, jedenfalls wenn man der Financial Times glauben will. Die Regierung Tsipras bereite sich auf den „dramatischen Schritt“ vor, Griechenland für zahlungsunfähig zu erklären, falls „bis Ende April keine Vereinbarung mit seinen internationalen Gläubigern erreicht werden kann“. So stand es am Montag in der FT unter Berufung auf Quellen, die mit der „Gedankenwelt der linksradikalen Regierung vertraut“ seien. „Wenn die Europäer uns kein Bailout-Geld bewilligen, gibt es keine Alternative“, soll ein Mitglied der Regierung Tsipras gesagt haben. Für diesen Fall habe man bereits beschlossen, die Summe von 2,5 Milliarden Euro, die im Mai und Juni als Rückzahlung an den IWF fällig werden, nicht nach Washington zu überweisen.
Was ein solcher Schuldnerverzug (engl.: default) für Griechenland bedeuten würde, malt die Financial Times in düsteren Farben aus: „Kurzfristig würde ein default fast sicher zur Einstellung der Notfall-Liquiditätshilfe (ELA) der Europäischen Zentralbank für den griechischen Finanzsektor führen, und in der Folge zur Schließung der griechischen Banken, zu Kapitalverkehrskontrollen und zu vertiefter wirtschaftlicher Instabilität.“
Mitte April 2015 erinnert die Diskussion um das „griechische Drama“ an die Atmosphäre in den Wochen vor dem Schuldenschnitt vom März 2012, als der „Grexit“ nach Darstellung der meisten mainstream-Medien unmittelbar bevorstand. Heute hat das ultimative Szenario einen anderen Namen: „Graccident“ bezeichnet die Gefahr, dass ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone aufgrund eines „Unfalls“ eintritt, den keine Seite gewollt oder langfristig geplant hat. Auf dramatische Art wird diese Unfallgefahr durch das Bild vom „chicken game“ beschworen, bei dem zwei Kontrahenten wie halbstarke Jugendliche aufeinander zurasen und beide von dem Kalkül ausgehen, dass der andere im letzten Moment auf die Bremse steigt.
Chicken Game oder Verhandlungen unter Erwachsenen
Das Gegenmodell zum pubertären „chicken game“ ist eine Konfliktlösung unter Erwachsenen, die sich in Anerkennung ihrer unterschiedlichen Interessen auf einen „ehrenvollen Kompromiss“ einigen. Im Fall eines Konflikts zwischen den Mitgliedern einer komplexen und von widersprüchlichen Interessen geprägten Organisation wie der Europäischen Union und der Eurozone sollte alle Beteiligten darauf hinarbeiten, dass nicht nur die Kontrahenten ihr Gesicht wahren können, sondern dass der Kompromiss vor allem darauf angelegt ist, die Interessen, und natürlich den Erhalt des übergeordneten Ganzen zu wahren – solange dieser Erhalt gewollt ist.
Die Athener Regierung hat sich seit Beginn ihrer Amtszeit im Januar immer wieder – durch die berufenen Stimmen von Ministerpräsident Tsipras und Finanzminister Varoufakis – zum Prinzip eines „ehrenvollen Kompromisses“ bekannt, der aus ihrer Sicht allerdings drei Kriterien erfüllen muss:
- Die Belastung durch die langjährige Austeritätspolitik für die griechische Bevölkerung muss reduziert und damit erträglicher werden;
- es muss endlich ein wirtschaftspolitischer Ausweg aus der Krise eröffnet werden;
- das Land muss unbedingt in der Eurozone bleiben, weil die Rückkehr zur Drachme den Absturz in eine noch größere soziale Katastrophe bedeuten würde (und zwar nicht nur kurzfristig).
Auch die griechische Bevölkerung wird einen „ehrenvollen“ oder zumindest erträglichen Kompromiss danach beurteilen, ob und in welchem Maße er diesen drei Kriterien gerecht wird. Dabei hegen die Griechen keine übertriebenen Erwartungen, weil sie sich bewusst sind, dass ein Schuldnerland, das unter akutem Geldmangel leidet, gegenüber einer Phalanx von Gläubigern eine ziemlich schwache Verhandlungsposition hat. Zumal wenn das Schuldnerland unbedingt in der Eurozone bleiben will. Aber genau dieses Ziel hat für die Bevölkerung die allerhöchste Priorität, wie alle Meinungsumfragen seit dem Wahlsieg der Syriza zeigen: Bei den Umfragen, die seit dem Wahlsieg der Syriza durchgeführt wurden, sprachen sich 65 bis 75 Prozent dafür aus, dass Griechenland „um jeden Preis“ in der Eurozone bleiben müsse; und noch in der jüngsten Umfrage (Metron Analysis vom 21. März) votierten bei der Frage nach der bevorzugten Währung 84 Prozent für den Euro; nur 13 Prozent würden lieber zur Drachme zurückkehren.
Der Realismus der griechischen Öffentlichkeit
Wie an dieser Stelle bereits dargelegt wurde (Nachdenkseiten vom 20. März), hat die Regierung Tsipras auch deshalb so großen Rückhalt in der griechischen Öffentlichkeit, weil diese keine Wunder erwartet, sondern mit einem „ehrenvollen“ Kompromiss, der den Verbleib in der Eurozone sichert, hoch zufrieden wäre. Dieser Realismus zeigt sich auch darin, dass eine große Mehrheit der Griechen – und 62 Prozent der Syriza-Wähler – die Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar befürwortet, obwohl dieser Text im Wesentlichen schmerzhafte Zumutungen und nur wenige – und zudem schwer erkennbare – griechische „Erfolge“ protokolliert.
Dieser Grundstimmung entspricht auch, dass noch Ende März acht von zehn Befragten bei den laufenden Verhandlungen mit den „Brüsseler Institutionen“ (wie die Troika jetzt offiziell genannt wird) einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss erwarteten. Wie dankbar die Bevölkerung für jedes Hoffnungszeichen ist, ergibt sich aus einer Umfrage aus den ersten Apriltagen (Public Issue für Radio Kokkino), bei der 60 Prozent aller Befragten das Berliner Treffen zwischen Alexis Tsipras und Angela Merkel als positiv bewertet haben.
Diesen verhaltenen Optimismus versucht auch die Regierung zu bedienen, indem sie ständig betont, dass man bei den Verhandlungen trotz zeitweiliger Irritationen auf einem „guten Weg“ sei. Tsipras selbst erklärte noch gestern (16. April) gegenüber Reuters, er sei „standhaft optimistisch“, dass man „trotz der Kakophonie und widersprüchlicher Verlautbarungen“ der Verhandlungspartner bis Ende dieses Monats eine Vereinbarung erzielen werde. Betont zuversichtlich äußert sich auch Finanzminister Yianis Varoufakis, der das Papier vom 20. Februar ausgehandelt und seitdem mehrfach bekräftigt hat, die Athener Regierung werde die in Brüssel gemachten Zusagen vollständig umsetzen.
Der Graccident ist nicht nur ein Gedankenspiel
Wie erklären sich angesichts dessen die Spekulationen über ein Scheitern der laufenden Brüsseler Verhandlungen? Die düsteren Voraussagen eines nahen Graccident in der Finanzpresse sind nicht etwa frei erfunden. Sie reflektieren vielmehr Denkansätze und Überlegungen aus dem politischen Raum, die das angeblich „Undenkbare“ durchspielen und gezielt an die Öffentlichkeit lanciert werden. Die Liste dieser Hinweise wird täglich länger:
- Nach einer Reuters-Meldung vom 27. März hat man im finnischen Finanzministerium ein geheimes Memorandum erstellt, das „sehr schwierige politische Entscheidungen“ im Hinblick auf die Euro-Zugehörigkeit Griechenlands durchspielt;
- Berichte über entsprechende Notfall-Szenarien, die in der EZB und im Berliner Finanzministerium liegen sollen, wurden nicht dementiert;
- Oliver Blanchard, der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, gibt öffentlich zu erkennen, dass man auch beim IWF auf einen Graccident vorbereitet sei: Einerseits wolle man zwar unbedingt ein Abkommen mit Athen erreichen, da ein Scheitern für Griechenland „extrem kostspielig“ sein würde, andererseits sei die Eurozone heute dank des Aufbaus von „Schutzmauern“ besser vor den Auswirkungen eines Grexit geschützt (Bericht in Kathimerini vom 14. April).
Solche Verlautbarungen und Informationen sind der Stoff, mit dem die Rating-Agenturen, aber auch meinungsbildende Spekulanten wie Warren Buffett und die globale Wettindustrie „handeln“, indem sie die Wahrscheinlichkeit eines Graccident heute deutlich höher bewerten als noch vor zwei Monaten. Und diese Bewertungen tragen wiederum zur Verdichtung der düsteren Atmosphäre bei.
Der publizistisch und politisch genährte Griechenland-Fatalismus hat inzwischen eine Eigendynamik gewonnen, der alle Bemühungen um einen „ehrenvollen Kompromisses“ zu torpedieren droht. Eine negative Folge steht jetzt schon fest: Die angestrebte Einigung zwischen Athen und den „Brüsseler Institutionen“ wird auf keinen Fall, wie eigentlich geplant, schon am 24. April beim Treffen der Eurogruppe in Riga erreicht sein. “Niemand in der Eurogruppe geht davon aus, dass das bis zum 24. April abgeschlossen werden könnte“, erklärte das Berliner Finanzministerium (laut ZEIT vom 15. April). Ebenso äußerten sich Poul Thomsen (der Europa-Abteilungsleiter des IWF, der bis 2014 als Mitglied der Troika mit Athen verhandelt hat), und der slowakische Finanzminister Peter Kazimir (Reuters-Meldung vom 15. April). Und die Süddeutschen Zeitung vom 14. April zitiert einen „hochrangiger Vertreter der Euro-Zone“ mit der Äußerung, ein Übereinkommen vor dem Eucofin-Treffen in Riga sei „ausgeschlossen“.
Die Zeit läuft davon
Dagegen hofft man in Athen offiziell noch unverdrossen, dass die europäischen Gläubiger bereits in Riga zumindest einen Teil der ausstehenden Gelder aus dem laufenden Rettungsprogramm freigeben. Und Griechenland braucht diese Gelder (die nächste Tranche von 7, 2 Mrd. Euro, insgesamt aber noch 15 Mrd. Euro) wie die Luft zum Atmen. Am Mittwoch musste allerdings Alekos Flabouraris, Minister im Amt des Ministerpräsidenten und einer der engsten Mitarbeiter von Alexis Tsipras, in einem Interview mit dem TV-Sender Antenna einräumen, dass die Bewilligung womöglich doch erst am 11. Mai, also beim nächsten Treffen der Euro-Finanzminister erfolgen kann.
Wie ernsthaft man diese Möglichkeit einkalkuliert, zeigt eine weitere Aussage von Flabouraris, die kein Regierungsmitglied ohne Not machen würde: Falls die ausstehenden Gelder aus dem ESM-Programm länger als erwartet ausbleiben, könne sich das Finanzministerium gezwungen sehen, eine „Liquiditätsabgabe“ auf Einkommen von mehr als einer halben Million Euro zu erheben (wobei der Ausdruck „Pauschale“, griechisch efapax, die der Tsipras-Vertraute benutzte, sowohl eine Steuervorauszahlung als auch eine einmalige Sonderabgabe auf höhere Vermögen bedeuten kann).
Einen weiteren Hinweis auf solche Notfallplanungen gab Vize-Finanzministers Mardas (der zugleich Verwalter der Staatskasse ist). Mardas sprach von der Möglichkeit, alle öffentlichen Organisationen – also vor allem die Rentenkassen und die öffentlichen Betriebe, aber auch die Kommunen – per Gesetz zu zwingen, ihre liquiden Geldmittel bei der griechischen Zentralbank anzulegen. Diese Gelder könnten für die Finanzierung der laufenden Staatsausgaben herangezogen wären, falls der Regierung das Geld für die Gehälter des öffentlichen Dienstes ausgehen sollte. Damit reagierte Mardas auf die Tatsache, dass die Vorstände der Rentenkassen bislang nicht bereit waren, ihre liquiden Mittel freiwillig an die Staatskasse abzutreten (im Gegensatz etwa zur Athener Metro-Gesellschaft, die dem Fiskus insgesamt Barmittel in Höhe von 550 Millionen Euro erschlossen hat).
Solche Notfallpläne zeigen, dass die Regierung bereits dabei ist, den Bodensatz der Staatstöpfe auszukratzen. Das fördert natürlich Spekulationen, die schon seit Wochen in Athen kursieren: Die Regierung Tsipras plane, um den Staat zahlungsfähig zu halten, entweder Kapitalverkehrskontrollen, oder die zeitlich befristete Konfiskation hoher Bankeinlagen zum Kauf von T-Bills, oder eine Begrenzung des Zugriff auf die Bankkonten der Bürger (wie 2013 in Zypern praktiziert).
Die Angst vor der Panik fördert die Panik
Die Angst, dass man demnächst an den Cash-Automaten nicht mehr beliebig viel Geld abheben kann, zeigt bereits Wirkungen. Die auffälligste – und fatalste – ist der ständige Abfluss von Geldern aus den Girokonten, der mittels immer neuer ELA-Notfallkredite der griechischen Zentralbank ausgeglichen werden muss (die von der EZB bewilligt werden müssen, was zuletzt am 14. April geschehen ist). Seit November 2014 hat sich die Summe der abgezogenen Gelder auf knapp 30 Milliarden Euro erhöht. Dabei wurden in den letzten Wochen 90 Prozent der Gesamtsumme in bar abgehoben, was zeigt, dass die Leute im Fall des Falles möglichst viel Geldreserven zu Hause haben wollen. Die Banken wiederum geben sich größte Mühe, ihre Geldautomaten ständig nachzufüllen, weil sie befürchten, dass schon ein einziger leerer Automat eine Kundenpanik auslösten könnte.
Dieses Beispiel zeigt zwei Dinge: Erstens haben die Gerüchte und Ängste um einen griechischen „default“ eine sehr reale Basis. Und zweitens gibt es sehr viele Griechen, die auf ein „ehrenhaftes“ Verhandlungsergebnis ihrer Regierung hoffen, zugleich aber für den Fall des Scheiterns vorsorgen wollen. Die also zwischen Hoffen und Bangen schwanken – und mit ihrem Bangen zur Verschärfung der Krise beitragen.
Wer sollte ihnen das verübeln? Wie bedrohlich der aktuelle Stand der griechischen Finanzen ist, wird ihnen durch die nackten Zahlen demonstriert, die vor zwei Tagen die griechische Statistikbehörde ELSTAT vorgelegt hat. Die Endbilanz für das Haushaltsjahr 2014 weist aus, dass die Staatsverschuldung auf 177,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (von 175 Prozent für 2013) angewachsen ist. Dieser Wert liegt auch deshalb höher als erwartet, weil das reale Wirtschaftswachstum mit 0,8 Prozent deutlich hinter den Erwartungen zurück geblieben ist (nominal verzeichnet das BIP 2014 gegenüber dem Vorjahr sogar ein Minus, das allerdings durch die negative Inflationsrate ausgeglichen wird). Das bedeutet zugleich, dass die Prognose für das Wirtschaftswachstum dieses Jahres von 2,5 Prozent deutlich nach unten korrigieren werden muss (was der IWF gestern bereits angekündigt hat).
Der Spielraum für soziale Programme schrumpft
Die schlimmste Nachricht für Varoufakis und die Regierung ist allerdings eine andere Zahl: 2014 wurde das Ziel, einen Überschuss des „Primärhaushalts“ (Staatseinnahmen minus –ausgaben ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes) in Höhe von 1,5 Prozent des BIP zu erzielen, klar verfehlt. Dass dieser Primärüberschuss nur 0,4 Prozent betrug, lässt erwarten, dass er auch für 2015 weitaus geringer als erhofft ausfallen wird. Das verringert den Spielraum der Regierung für Entlastungen und soziale Programme, die sie aus diesem Überschuss finanzieren will. Wir erinnern uns: Dieser Spielraum wird Athen durch die Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar eingeräumt, die das alte Troika-Ziel von 2,5 Prozent Primärüberschuss durch die flexible Forderung eines „angemessenen“ Primärüberschusses ersetzt hat. Ohne erhebliche Einnahmenüberschüsse werden die Programme zur Entlastung der ärmsten Krisenopfer, die mangels flüssiger Staatsgelder bereits stark zusammengestrichen wurden, aus eigener Kraft nicht finanzierbar sein.
Vor diesem Hintergrund laufen die zähen Verhandlungen zwischen der Tsipras-Regierung und der Ex-Troika, deren Ausgang derzeit völlig offen ist. Die noch bestehenden Differenzen (Sozialkassen, Mehrwertsteuer, Privatisierungen) werde ich in einem zweiten Teil dieses Berichts erörtern. Aber unabhängig von diesen Inhalten ist inzwischen der Faktor Zeit zu einem eigenständigen Problem geworden, und das aus zwei Gründen: Erstens geht jeder Tag der Ungewissheit über die Zukunft des Landes zu Lasten der Realwirtschaft. Die griechische Volkswirtschaft ist derzeit wie gelähmt. Inländische Unternehmen warten ab, und selbst wenn sie investieren wollen, erhalten sie keine Kredite von den klammen Banken, die täglich an Liquidität verlieren. Potentielle ausländische Investoren investieren nicht. Die griechischen Konsumenten konsumieren nur das Nötigste, weil sie ihr Geld für den Notfall „Grexit“ zurückhalten: Die Umsätze des Einzelhandels in der Osterwoche – ein wichtiger Indikator für das Konsumklima – sind gegenüber 2014 um etwa 20 Prozent geschrumpft. In den ersten Monaten des neuen Jahres gibt es bereits Anzeichen einer neuerlichen Rezession. Finanzminister Varoufakis hat also allen Grund, daran zu erinnern, dass jeder Tag, um den sich eine Einigung mit den „Brüsseler Institutionen“ verzögert, ein schlechter Tag für die Realwirtschaft ist.
Der zweite Grund, warum der Faktor Zeit so wichtig ist: Was derzeit zwischen Athen und Brüssel verhandelt wird, ist ja nur eine brückenartige Vereinbarung über die „Abwicklung“ des alten Sparprogramms, die für die alte Troika die Voraussetzung für die Auszahlung der letzten bailout-Mittel darstellt. Erst wenn diese erfolgt ist, soll eine zweite, substantielle Verhandlungsrunde beginnen, in der es um die mittelfristige Perspektive und um die Aktivierung der griechischen Wirtschaft gehen soll. Also um das, was die griechische Seite als einen Neustart des gesamten Rettungsprogramms sieht und erhofft. Diese Verhandlungen sind wichtiger und substantieller als die erste Runde, aber sie werden auch schwieriger und deshalb zeitraubender sein. Aber die kostbare Zeit für diese zweite Runde, die Ende Juni abgeschlossen sein sollen, wird durch die Verzögerung der ersten Runde ständig aufgezehrt.
Woran klemmt es in den Verhandlungen?
Warum geht es schon in der ersten Verhandlungsrunde nicht voran? Seit der grundsätzlichen Übereinkunft vom 20. Februar sind fast zwei Monate verstrichen (bis zum 11. Mai werden es 15 Wochen sein). In Brüssel hat die griechische Seite – nach einem harten Ultimatum – ein Papier unterschrieben, das sie verpflichtet, einen umfassenden Katalog von Maßnahmen und Reformen zu präsentieren. Damit soll die neue Athener Regierung gegenüber EU, EZB und IWF ihre Bereitschaft nachweisen, die zentralen Sparvorgaben des alten „Memorandums“ mehr oder weniger zu erfüllen, ehe man in der zweiten Runde über ein neues Programm verhandelt, das die alten – gescheiterten – Austeritätskonzepte ablösen soll. Ein solcher „New Deal“ soll nach griechischen Vorstellungen, die auch innerhalb der EU und des IWF einiges Verständnis oder gar Sympathie genießen, vor allem eine substantielle „Erleichterung“ der Sparauflagen (in welcher Form auch immer) und ein Programm für Wirtschaftswachstum und eine ganze Reihe notwendiger bis überfälliger „produktive Reformen“ umfassen.
Ein systematisches Problem besteht darin, dass die Verhandlungspartner Griechenland darauf festgenagelt haben, bestimmte Reformen schon vor der zweiten substantiellen Verhandlungsrunde zuzusagen und festzuklopfen. Die Brüsseler Vereinbarung erwähnt insbesondere „lange überfällige Reformen, um die Korruption und Steuervermeidung zu bekämpfen und die Effizienz des öffentlichen Sektors zu erhöhen.“ Das ist im Ansatz auch sinnvoll, denn die genannten Maßnahmen können unmittelbar zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen beitragen. Dagegen will die griechische Seite Themenkomplexe wie „Arbeitsmarkt“ oder „Tarifverhandlungen“ eher in der zweiten Runde behandeln, wo sie systematisch auch hingehören. Aber diese Themen stehen nun mal in der Vereinbarung vom 20. Februar, und zwar in Form des Satzes: “Die griechischen Stellen verpflichten sich, keine Maßnahmen zurückzunehmen und keine einseitigen Veränderungen an ihrer Politik und an strukturellen Reformen vorzunehmen, die negative Auswirkungen auf den Staatshaushalt, die wirtschaftliche Erholung oder die finanzielle Stabilität haben würden“ . Diese Formulierung, verstärkt durch den Zusatz „as assessed by the institutions“ machte praktisch alle möglichen Schritte der griechische Seite von der Bewilligung durch EU-Kommission, EZB und IWF abhängig.
Die Verhandlungen stocken also, weil Athen die Partner zu überreden versucht, die schwierigere „Reform“-Materie in die zweite Verhandlungsrunde zu verschieben – bislang ohne Erfolg.
Es gibt aber auch einen zweiten Grund, den die griechische Seite zu verantworten hat: Das schwerfällige Funktionieren, ja eine partielle Handlungsunfähigkeit der Tsipras-Regierung, die den „Brüsseler Institutionen“ ein Rätsel aufgibt, weil nicht zu erkennen ist, ob dieses Defizit von der mangelnden praktisch-politischen Erfahrung, von Blockaden im Staatsapparat oder von der politischen Zerklüftung der Syriza-Anel-Regierung herrührt.
Kakophonie auch in Athen
Das augenfälligste Beispiel für diesen Befund ist die Liste von Reformen und Maßnahmen, zu deren Vorlage sich Tsipras und Varoufakis am 20. Februar verpflichtet haben. Seitdem hat Athen vier Dokumente nach Brüssel geschickt, die ständig neue Ideen und Präzisierungen enthielten, die sich zum Teil widersprechen. Und die vor allem wenig belastbare Angaben über die erwarteten fiskalischen Effekte enthalten. Zugleich verkünden einzelne Minister immer wieder Maßnahmen und Gesetzesvorhaben, die mit der nach Brüssel geschickten Liste nicht abgestimmt sind oder sogar den programmatischen Äußerungen und Zusagen von Finanzminister Varoufakis widersprechen.
Ich werde in einezm zweiten Teil dieses Berichtes einige Beispiele für diese Athener „Kakophonie“ anführen, die gerade wohlwollende Beobachter und ausgesprochene Sympathisanten der neuen Regierung zur Verzweiflung bringt. Die haben zwar mit Anlaufproblemen der zumeist administrativ völlig unerfahrenen Ministerriege gerechnet, aber auf den Dilettantismus und die politische Leichtfertigkeit in wichtigen Regierungsämtern waren sie nicht vorbereitet. Dennoch klammern sich viele an die Hoffnung, dass es erstens kaum schlimmer werden kann, und dass zweitens Tsipras gezwungen sein wird, das Durcheinander zu ordnen und ein „Machtwort“ zu sprechen.
An dieser Stelle will ich nur einen Punkt hervorheben, der zugleich das Hauptproblem des Syriza-Projekts veranschaulicht. Die Regierung und ihre einzelnen Mitglieder haben bislang viel zu viel Zeit und Kraft in eine „Symbolpolitik“ gesteckt, statt in die politische „Kärrnerarbeit“ an den auch von der neuen Mannschaft für notwendig erachteten Reformen, die für das Überleben des ganzen Projekts entscheidend sind – und zwar nicht, um die Gläubiger zu besänftigen, sondern um das Land vor dem Absturz zu retten. Ein Beispiel für solche „Symbolpolitik“: In den Verhandlungen mit der „Troika“ wurde heftig darum gerungen, die Gläubiger in „Brüsseler Institutionen“ umzutaufen. Dieser Erfolg wurde dann quasi autosuggestiv mit großem Aufwand als substantielle Errungenschaft propagiert. Eine solche PR-Aktion hätte die Syriza früher bei der Samaras-Regierung als aufgeplusterte „success story“ kritisiert. Dass sich auch die Tsipras-Regierung in PR-Aktionen übt, wäre freilich nicht weiter schlimm und ist in gewisser Weise auch nötig, um die Syriza-Wähler und vor allem die eigene Parteibasis zu beschwichtigen. Aber zugleich hat die Regierung nur wenig getan, um unverzüglich eines der großen „Reformprojekte“, auf denen das „neue Griechenland“ gründen soll, detailliert durchzubuchstabieren und der Bevölkerung nahezubringen – einschließlich der schmerzlichen Folgen für gewisse Wählergruppen.
Die Regierung Tsipras und die Kräfteverhältnisse in der Syriza
Mit dieser Kritik ist zugleich gesagt, dass die Regierung Tsipras an der prekären Lage, in der sie sich heute unter dem Druck der früheren Troika, der Medien und „der Märkte“ befindet, keineswegs gänzlich unschuldig ist. Die Frage ist, ob und wie sie die Angriffsfläche, die sie heute in unerwartet großem Ausmaß bietet, in den nächsten entscheidenden Wochen deutlich reduzieren kann. Die Antwort wird sehr stark davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der Regierung Tsipras und der Partei Syriza entwickelt. Deren innere Widersprüche und Gegensätze wurden durch den Wahlsieg vom Januar keineswegs gemildert (wie viele Syriza-Wähler erwartet hatten), sondern könnten sich sogar noch zuspitzen.
Der Verlauf der Krise in den Verhandlungen zwischen Athen und Brüssel/Berlin könnte dazu beitragen, dass eine innerparteiliche Kraftprobe zwischen der „Euro“-Mehrheit und der (linken) und der Drachmen-Fraktion unvermeidlich wird. Da dies aus der Distanz schwer zu beurteilen ist, werde ich versuchen, mir ein klareres Bild vor Ort in Athen zu verschaffen.