Der Jazz trieb uns den Marschtritt aus dem Leib – Krieg und Nachkrieg im Werk von Dieter Wellershoff
Anlässlich des 70. Jahrestages des Zweiten Weltkriegsendes, der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft am 8. Mai 2015 werden wir wieder viele Beispiele einer salbungsvollen, abgehobenen Erinnerungsrhetorik erleben, wie sie bereits anlässlich des Gedenkens an das Entfachen des Ersten Weltkrieges und des Kriegsbeginns am 1. September 1939 zu vernehmen waren; gerade von denen, die heute geschichtsvergessen von einer neuen Verantwortung Deutschlands in der Welt fabulieren und dabei auch militärische Optionen nicht ausschließen. Es mutet seltsam an, mit welcher Selbstverständlichkeit in der Öffentlichkeit schon wieder Kriegsszenarien durchgespielt und damit die Errungenschaften der Entspannungspolitik mit dem Osten desavouiert werden.
In dieser Situation kann es hilfreich sein, die deutsche Nachkriegsliteratur noch einmal in Erinnerung zu rufen, spiegelt sie doch wie kein anderes Medium das nationale Debakel und die desaströse geistig-moralische Befindlichkeit der Bevölkerung in der „Stunde Null“ wider. Trümmer- und Kahlschlagsliteratur hat sie sich selbst genannt, womit sie zugleich auf die zerstörten deutschen Städte reflektierte wie auf das Erfordernis, mit literarischen Traditionen zu brechen und aus dem Nichts etwas Neues zu schaffen. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff (Jahrgang 1925) hat als junger Mann diesen Krieg erlebt und überlebt, und es brauchte eine längere Zeit, bis er seine Erlebnisse verarbeiten konnte. Er war nicht einer der ersten, der darüber schrieb – dafür war er 1945 auch zu jung; aber kaum ein anderer unter den deutschen Literaten hat dann so viel für die Aufarbeitung dieser Erfahrungen und für die Aufklärung über das nationalsozialistische Regime geleistet wie er. Von Petra Frerichs
Dieter Wellershoff zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg; gleichwohl reiht er sich selbst nicht in die „Nachkriegsliteratur“ ein, wofür er folgende Erklärung abgibt:
Als ich … zu schreiben begann, war die Kriegsliteratur von älteren Autoren – Böll, Bender, Richter, Andersch und Plivier – … bereits geschrieben, und es war nicht mehr möglich, noch ein eigenes Kriegsbuch nachzureichen, obwohl die Erfahrungen meiner Altersgenossen, also der Jahrgänge, die im Nazireich aufgewachsen waren und mit 17 bis 19 Jahren in dessen militärischen Zusammenbruch gerieten, ganz eigene Aspekte haben. Doch im Fahrplan der Nachkriegsliteraturgeschichte war der Zug abgefahren, als meine Generation auf den Bahnsteig kam. So blieb uns nichts anderes übrig, als die Erfahrungen in sich aufzuheben und vielleicht sogar zu vergessen. („Der Flug der Taube“, Werkausgabe [WA] 3, 655)
Sein „Kriegsbuch“ wird Wellershoff erst fünfzig Jahre nach Kriegsende schreiben: „Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges“ erscheint 1985. Doch bereits seit Ende der 1970er Jahre meldete er sich immer wieder zu Wort, wenn es um diesen Krieg ging und die bitteren Lehren, die er aus ihm gezogen hatte. In den Autobiographischen Schriften (WA 3) ist der große, mehrteilige Essay mit dem Titel „Die Arbeit des Lebens“ enthalten, der allein zwei Abhandlungen über seine Kriegs- und Nachkriegserfahrungen aufbewahrt: „Deutschland – ein Schwebezustand“ (1978/79) liest sich wie ein politisches und zeitgeschichtliches Vermächtnis, das er den nachfolgenden Generationen hinterlässt; bezeichnenderweise hat er diese Schrift seinen drei Kindern gewidmet. Und in „Wohnungen, Umgebungen“ setzt sich Wellershoff auch mit der deutschen Nachkriegsliteratur, insbesondere Wolfgang Borchert, auseinander: wie er sie 1947 wahrnahm und schon bald sich davon distanzierte. Im Rahmen von Vorträgen, Gesprächen und Essays aus aktuellem Anlass (wie etwa zu den runden Jahrestagen des Kriegsendes oder auch zu der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, für die dem Kurator Hannes Heer vom Hamburger Institut für Sozialforschung die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen wurde und Wellershoff die Laudatio hielt) zeigt sich Wellershoff immer wieder als ein profunder Zeitzeuge und Chronist, dessen Erfahrungen, Einschätzungen und Urteilskraft nachgefragt werden. [1] Damit hat Wellershoff eine Sonderstellung unter den deutschen Schriftstellern der Nachkriegsepoche inne: Kaum ein anderer hat sich diesem Thema so lange und durchgängig gewidmet wie er. Und kaum ein anderer hat das Miterlebt-Haben des Krieges zum Ausgangspunkt der politisch-historischen Analyse und Reflexion gemacht.
Wellershoff hatte nichts zu verschweigen oder zu verdrängen – wie etwa der vor wenigen Tagen verstorbene Günter Grass, der erst nach Jahrzehnten seine Mitgliedschaft in der Waffen SS eingeräumt hatte; auch dazu hat Wellershoff Stellung genommen. Seine Kritik an Grass kulminiert in der Aussage, dessen Hauptproblem sei weniger „das Verschwiegene“ als „das dauernde Verschweigen selbst“, und insofern sei der „Fall Grass“ durchaus ein Exempel für die „Energie der Verdrängung und ihre verborgene Motivation“ (WA 3, 515f.; s.a. „Bildbereinigung“, WA 8, 909ff.).
Wellershoffs relativ spätes Schreiben über seine Kriegserfahrungen hatte mit seinem jungen Lebensalter in den ersten Nachkriegsjahren, also seiner Generationszugehörigkeit, wie auch damit zu tun, dass es in einem „zweiten Anlauf“ des Schreibens über den Krieg eines öffentlichen Interesses bedurfte, um wahrgenommen zu werden.
Aus dem Gespräch mit Stephen Lebert und Norbert Thomma (2003) erfährt man noch einen anderen interessanten Aspekt über das späte Schreiben, der eher ästhetische Fragen berührt:
Sie haben Ihre Erinnerungen an den Krieg erst nach 50 Jahren aufgeschrieben. Wollten Sie nicht früher, konnten Sie nicht?
„Beides. Ich bin aber froh, daß ich gleich nach dem Krieg nicht in der Lage war, ein Buch über den Krieg zu schreiben.“
Warum?
„Weil damals ein starker Konformitätsdruck herrschte. Man mußte moralisierend schreiben. Mit gestellten, moralisierungsfähigen, exemplarischen Situationen. Als ich 50 Jahre nach dem Krieg mein Buch ‚Der Ernstfall‘ schrieb, konnte ich ein phänomenologisches Buch schreiben, ohne inszenierte Situationen, ohne Retuschen.“ (855)
Es mussten bei Dieter Wellershoff also mehrere Faktoren zusammenkommen, um über seine Kriegserfahrungen und -erinnerungen zu schreiben: Die Existenzweise als freier Schriftsteller, die er erst relativ spät realisieren konnte; der persönliche Schreibimpuls [2] und die Gelegenheit, d.h. das Schreiben „mit Aussicht auf Veröffentlichung“ vor dem Hintergrund öffentlichen Interesses. Aus der Distanz zu schreiben brachte dann aber auch den Vorteil mit sich, die Form, in der er seine Erinnerungen festhalten wollte, frei wählen zu können. [3]
Wellershoffs kritisches Verhältnis zur Nachkriegsliteratur lässt sich in der Werkausgabe am Beispiel von Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ hinreichend nachvollziehen. So berichtet er von einem „Erweckungserlebnis“, als er zusammen mit Kommilitonen des Bautrupps (die zerstörte Universität in Bonn musste erst wieder aufgebaut werden) am 13. Februar 1947 – für ihn das „Initiationsdatum der deutschen Nachkriegsliteratur“ – im Rundfunk dieses Stück hörte.
Das Stück … sprach auf eine bisher ungehörte, leidenschaftliche Weise von den Verheerungen des Krieges, von der Verlorenheit der Überlebenden und von heimatloser Heimkehr. Es stellte den Alptraum eines Heimkehrers dar, der seinen Erinnerungen nicht entkommt und überall vor verschlossenen Türen steht, und der zum Schluß, als er erwacht, die ins Leere verhallende Frage schreit, wozu er denn leben soll?
…
Ich weiß noch, was ich empfunden habe: Es war eine Mischung aus erstauntem, befreitem Aufhorchen und leiser Beschämung. Dies war der erste Vertreter der Kriegsgeneration, der unüberhörbar von seiner Erfahrung sprach, und das machte mir auf einmal deutlich, daß, verglichen mit dieser Stimme, alle anderen, auch ich, sprachlos dahinlebten. Jahrelang hatten wir auf den Ausdruck unserer Erfahrung verzichtet. Aus dieser Gewohnheit war schon eine Lähmung geworden. Man konnte die Stummheit vielleicht als praktische Lebensbewältigung zu rechtfertigen versuchen, aber sie war auch blind und angepaßt. Borchert rüttelte mich daraus auf. Nicht so sehr durch das, was er sagte. Das glaubte ich nur oberflächlich. In Wahrheit entsprach die todessüchtige Verzweiflung der Heimkehrerfigur … nicht meinem eigenen Lebensgefühl. Doch der Impuls, mit dem Borchert sprach, elektrisierte mich. Ich wollte auch wieder schreiben.“ („Die Arbeit des Lebens“, WA 3, 195f.)
Borcherts Stück und die Lektüre seiner Kurzgeschichten motivierten den jungen Wellershoff zunächst zum Nacheifern. Doch nach eigenen Schreibversuchen hatte er erkannt, dass es das Falsche war. Mein Vorbild erschien mir auf einmal als sentimentale Erbauungsliteratur am Rand des Kitsches. („Der Flug der Taube“, WA 3, 647) Und in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstages spricht Wellershoff von Pathetisierung im Hinblick auf Borchert und generell das moralisierende Schreiben in der Nachkriegsliteratur, von der er sich kritisch absetzte. Nicht aber, ohne für die „durchgehende Schwäche“ der Nachkriegsliteratur eine objektivierende Erklärung zu haben; so heißt es im Essay „Erinnerungsarbeit“, wo Wellershoff sich u.a. mit Maxim Billers Aufsatz „Unschuld mit Grünspan“ auseinandersetzt:
Alle diese Romane, Erzählungen und Stücke wurden geschrieben innerhalb eines von der historischen Situation vorgegebenen Distanzierungsprogramms, das unter dem Eindruck der Kriegsverbrechen und der Verheerungen des Krieges entstanden war und als ein kollektiver Konsens die Themen und Perspektiven der nun entstehenden Nachkriegsliteratur bestimmte. (WA 8, 766)
Diesem Distanzierungsprozess war es Wellershoff zufolge geschuldet, dass übertriebenes Pathos und angestrengtes, didaktisch wirkendes Bemühen der Autoren, ihre Erfahrungen ins Exemplarische und Symbolhafte zu überhöhen (ebd., 767), in die Texte einfloss, die Biller als verfälschende Literarisierungen des Krieges, sentimentale Verlogenheit und Verzerrung der Wahrheit kritisiert.
Was Wellershoff in den frühen Bonner Studienjahren hingegen interessierte und anzog, war etwas völlig anderes, und das brachte ihn auch gleich in einen Gegensatz zu weiten Teilen der Nachkriegsliteraten: Heidegger und Sartre, die mit ihren philosophischen Kerngedanken die existentielle Lage vieler Kriegsheimkehrer beschrieben hatten, indem sie das eigene Seinkönnen vor dem Hintergrund des Nichts, der Zufälligkeit und des Todes thematisieren; Freuds Psychoanalyse, die ihm eine neue Sicht des Lebens und des Menschen erschließt; Sartres Roman „Der Ekel“ lenkt den Blick auf krisenhafte Prozesse oder Momente chaotischer Orientierungsverluste als Gegenstand literarischer Verarbeitung; Hamsun, Faulkner, Claude Simon oder der Nouveau Roman aus Frankreich bilden die Grundlage für eigene ästhetische Entwürfe.
Erfahrungserweiterungen und Innovationen waren für mich immer Ereignisse von Krisen, in denen die Denkgewohnheiten erschüttert oder zerstört wurden, und die Darstellung solcher Vorgänge waren in meinen Augen die Höhepunkte der Literatur.
Vorlieben wie diese bescherten Wellershoff immer wieder kontroverse Diskussionen mit Vertretern der literarischen und literaturwissenschaftlichen Profession (u.a. mit Max Bense), die ihn dazu veranlassten, seine Positionen auszuarbeiten und zu schärfen. Die daraus entstandenen Essays über Literatur und das Schreiben bezeichnet er als seinen persönlichen Anteil an einem allgemeinen Dilemma der deutschen Nachkriegsliteratur, die … nicht mehr auf unbefragten Traditionen und Selbstverständlichkeiten ruhte, sondern ständig unter Legitimationszwängen litt. (WA 3, 647ff.)
Wiederholt bezeichnet Wellershoff die Bonner Jahre als seine „Stunde Null“, sehr wohl wissend, dass es sie historisch nicht gegeben hatte. Doch hinsichtlich der Bildungsvoraussetzungen, mit denen ich im Frühjahr 1947 zu studieren begann, muß ich diesen Begriff für mich in Anspruch nehmen. (ebd.) Während gemeinhin die „Stunde Null“ als Synonym für den Neubeginn steht, aber untrennbar auch für den Schlußstrich, das Vergessenwollen, das Verdrängen und die Leugnung von (Mit-) Schuld, also eine Formel für tabula rasa, so keinesfalls bei Wellershoff. Wenn er von der „Stunde Null“ spricht, dann bezeichnet er eine motivierende, befreiende Ausgangssituation, in der man nichts Wesentliches mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen hatte (WA 8, 501). Erlebt und aus der Distanz reflektiert hat er die frühen Jahre als Befreiung von Ohnmacht und Fremdbestimmung, und er sieht es als
bleibendes existentielles Privileg an, den totalen Zusammenbruch eines Machtstaates und eines kollektiven Wahns hautnah … erlebt zu haben. Eine Befreiung, die die Erinnerung an eine einzigartige Menschenvernichtungsindustrie mit ihrer vielfältig verästelten Volksgemeinschaft aufbewahrt, abgestuft in die Planer und Befehlsgeber, die ausführenden Täter und Mittäter, die Nutznießer, die schweigenden Mitwisser und die unzähligen Verdränger, die das eine oder andere gehört und gesehen hatten und sich gehütet haben, Fragen zu stellen (ebd. 491).
Die massenpsychologische Situation dieser Zeit beschreibt Wellershoff als eine diffuse, in der sich Ressentiment und Unbelehrbarkeit mischten mit dem Gefühl von Lähmung; dumpfer Fatalismus gesellte sich zum Wunsch, alles hinter sich zu lassen und sich schnell zu arrangieren. Der Wiederaufbau ging einher mit Verdrängung, und die traditionellen Pathosbegriffe wie Heimat, Gemeinschaft oder Vaterland wurden tabuisiert. Das sogenannte Wirtschaftswunder wurde erlebt als Belohnung für Fleiß und demokratisches Wohlverhalten, wie ein erworbenes Recht auf Wohlstand – sinnfällig im neuen Massenritual der jährlichen Auslandsreise. (ebd. 510f.)
Wenn Wellershoff über die Stunde Null als seine zweite Geburt im studentisch-intellektuellen Milieu seiner Bonner Jahre reflektiert, bringt er immer wieder die Existenzphilosophie als das passende Gedankengebäude für diese historische Situation ins Spiel. Denn sie nimmt das Nichts zum Ausgangspunkt, und dieses Nichts war erfahrbar in den ersten Nachkriegsjahren. Auch ihr Freiheitsbegriff entsprach dieser Situation, wenn es emphatisch hieß, daß der Mensch dank seiner Freiheit sich seine eigene Notwendigkeit erschaffen müsse. Nach der Fremdbestimmung durch den totalitären Staat und das Militär wurden kritisches Denken und ein selbstbestimmtes Leben die für mich maßgebenden Werte. (WA 8, 1035f.)
Man war nicht geborgen in einer vernünftigen, wohlgeordneten Welt, nicht bei den allgemeinen Ideen, nicht im behaglichen bürgerlichen Besitz, sondern in der Freiheit, die aus der Berührung mit dem Tod entsprang. Das war die passende Philosophie für die Stunde Null, wie das Kriegsende von vielen genannt wurde. Obwohl es eine Stunde Null in der Geschichte niemals geben kann. Aber das wußte man nicht. Man wollte einen Anfang haben, ganz blank und noch unbeschrieben von neuen Täuschungen. Der Existentialismus war eine heroisierende, individualistische Variante eines Nullpunkt-Denkens und ein intellektuelles Nachgruseln nach dem kollektiven Totentanz.
Und Wellershoff fährt mit der Beschreibung des neuen Lebensgefühls fort, das aus der Fülle des kulturellen Angebots zu schöpfen begann:
Keineswegs war die Stimmung depressiv, sondern trotz Hunger und Armut getragen von aufgestauter, nun endlich befreiter Lebenslust. Man konnte schlafen gehen ohne Angst und konnte sagen, was man dachte, und so konnte man auch zu denken beginnen. Es war eine Zeit täglicher Entdeckungen. Wir hatten in einem geistigen Vacuum, einer kulturellen Sperrzone gelebt, deren streng bewachte Grenzen endlich gefallen waren. Nun kam auf einmal alles auf uns zu: die moderne Literatur, die Kunst, die Philosophie, der internationale Film, das Theater und vor allem, als eine vitale Stimulierung, die uns eine neue Art äußerer und innerer Bewegung lehrte, der Jazz. Es war eine neue Zivilisation mit neuen Umgangsformen und Lebensreizen.
Die Bedeutung des Jazz, der begeistert aufgenommen wurde, weil er am besten unsere Freude ausdrückte, daß der Krieg vorbei war und wir lebten, hatte auch eine motorische wie mentale Dimension: diese Musik trieb uns den Marschtritt aus dem Leib.
Wellershoff zählt sich zur skeptischen Generation, deren geistige Ausrichtung er wie folgt beschreibt:
‚Ohne mich‘ lautete die Formel der Überlebenden, die damals in Deutschland die Uniform auszogen, um nie wieder eine anzuziehen, auch keine innere Uniform mehr, keine kollektiv verordnete Weltanschauung, keine Ideologie. Man hat sie später die ‚skeptische Generation‘ genannt. Dennoch haben viele dieser Skeptiker noch einen letzten nationalen Traum gehegt: die Hoffnung auf ein neutralisiertes Deutschland, das – offen für die Welt – sich auf seine besten kulturellen Traditionen besinnen würde; auf seine Musik, seine Philosophie, seine Dichtung, auf all das, was für sie das wahre Deutschland bedeutete, das in den Jahren der Barbarei sein Gesicht verloren hatte und nun im Windschatten der Geschichte durch freiwilligen Machtverzicht wiedererstehen sollte als ein Land der Humanität, des Friedens, der sublimen Innerlichkeit, in dem das alte bürgerliche Kulturideal der ‚Schönen Seele‘ nun endlich kollektiv erblühen konnte.
Stattdessen brach der Kalte Krieg zwischen den Siegermächten aus. Restdeutschland wurde geteilt und je nach Einflußbereich politisch, militärisch, wirtschaftlich und ideologisch in die gegnerischen Machtblöcke integriert, und zwar hier wie dort mit besonderen Beweis- und Gehorsamspflichten, sozusagen als künftige Musterprovinzen der feindlichen Großreiche. (alle letzten Zitate aus: „Die Arbeit des Lebens“, WA 3, 102ff.)
Aber auch aus dieser Ernüchterung heraus bewahrt Wellershoff die Erinnerung an das politische Bewusstsein der kritischen Intellektuellen aus jenen Jahren auf, nämlich Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, von denen eine auf ein neutrales Deutschland abzielte. Wie gezeigt, hatte sich dieser Gedanke durch die Blockbildung faktisch zerschlagen. Welche Erfahrungen allerdings für immer prägend sein werden, hat der Autor bei verschiedenen Gelegenheiten hervorgehoben: Die Erfahrung des Krieges ist ein determinierender Hintergrund seines Lebens geblieben; sein (Über-) Leben begreift er als Zufall und Geschenk; die Auseinandersetzung mit Informationen, Dokumenten, mit der Wahrheit des Grauens der NS-Herrschaft sieht er als persönliche Verpflichtung an; den Krieg der Alliierten als hoch gerechtfertigt; die Verbrechen in den Vernichtungslagern als historisch singulär; die Niederlage selbst hat Erkenntnischancen geboten, auch die für die falsche Sache gekämpft, die eigene Täuschbarkeit erfahren zu haben und einem Irrtum erlegen zu sein, was ihn immunisiert hat gegen jegliche Ideologie und alles Kollektive; die Ablehnung von Anpassung zugunsten des ausgehaltenen Widerspruchs und der entwickelten Differenz als Wertorientierung im Rahmen einer demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft, zu der auch der Mut zur Wahrheit, zu abweichender Meinung, Kritik, Entschlossenheit, Entscheidungsfähigkeit, Selbstbestimmung gehören; und schließlich darf Wellershoff zufolge die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht zur Erinnerungsrhetorik verkommen.
Wie man dieser entgeht, zeigt abschließend ein längeres Zitat, in welchem Wellershoff auf eindrückliche wie eindeutige Weise zur Frage der Schuld Stellung nimmt:
Zum Massentrauma der völligen Niederlage kam bald danach das Entsetzen und die Beschämung über die Leichengruben der Vernichtungslager. Nun gab es keinen Einspruch mehr gegen die Annullierung der Nation, kein Recht mehr, auf das man sich noch berufen konnte. Alle, fast alle Deutschen hatten auf Seite der Mörder gekämpft, und so hatte sich die ganze Nation mit unerträglicher Schuld beladen. Nur wenn sie sich auflöste in 70 Millionen Individuen, konnten die meisten wohl nachweisen, daß sie nicht unmittelbar an den Verbrechen beteiligt waren. Alle Deutschen waren schuldig. Aber was hieß das schon, Deutscher zu sein? Man war Herr Müller oder Schulze, ein kleiner Mitläufer vielleicht, ein einfacher Soldat, möglicherweise verwundet, Invalide, vertrieben oder ausgebombt, also auch ein Opfer.
Das war ein billiger Ausweg aus der Verstrickung in die Gesamtschuld. … Konnte man … die Verantwortung all dieser vielen ohnmächtigen Einzelnen hinaufaddieren bis zum großen schuldigen Kollektivsubjekt Nation? Die Nation war eine unanschauliche, unerlebbare Abstraktion geworden. Man sah sie nicht mehr, sie trat nicht mehr in Erscheinung, weder durch Symbole noch durch Repräsentanten, weder bei festlichen Gelegenheiten noch bei der Sinngebungsarbeit von Artikelschreibern und Rednern. Die starren Gestalten auf der Anklagebank des Nürnberger Prozesses, die als graues Gruppenbild durch die Zeitungen gingen, waren schon ferngerückt, entmachtete, puppenhaft abgelebte Akteure eines Films, der glücklicherweise nicht mehr gespielt wurde und an den man sich mit Schrecken erinnerte, um sich sogleich entschieden der Gegenwart zuzuwenden. Die Gegenwart, die für alle Deutschen mit der Not begann, irgendwo ein paar Kartoffeln und ein paar Briketts zu erwischen und das undichte Dach zu flicken, doch eben auch mit dem Glück dieses begrenzten, bloß praktischen Lebens, an dem man zukünftig, unverführbar durch Ideen und Parolen, festzuhalten gedachte. Mit diesem Rückzug ins Private begann die gegenwärtige Geschichte. („Deutschland – ein Schwebezustand“ 1978/79, in: WA 3, 96f.)
Neben der inhaltlichen Klarheit und Gedankenschärfe des kritischen Intellektuellen aus der skeptischen Generation, stellt dieser Text auch eine rhetorisch-stilistische Meisterleistung dar. Von Dieter Wellershoff kann man auch 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft lernen, dass und wie man sich an diese Tragödie deutscher Geschichte erinnern sollte.
[«1]Titel wie „Die Besiegten. Kriegsende und Nachkriegszeit in Deutschland. Zum 50 Jahrestag der deutschen Kapitulation“ (1995); „Das Kainsmal des Krieges. Laudation für Hannes Heer“ (1997); „Erinnerungsarbeit. Im Vorfeld der Geschichtsschreibung“ (1998); „Die Kriegserfahrung. Gespräch mit Stephen Lebert und Norbert Thomma“ (2003); „Was war, was ist. Erinnerungen an den 2. Weltkrieg. Vortrag bei der Jahresversammlung der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ (2005); „DieNachkriegszeit – Anpassung oder Lernprozeß“ (2006); „Die Stunde Null als Zweite Geburt. Eine mentalitätsgeschichtliche Anmerkung zu Hans-Ulrich Wehlers >Deutsche Gesellschaftsgeschichte< (2008); „Der Zweite Weltkrieg als persönliche Erfahrung. Rückblicke und Antworten auf Fragen von Natalija Wasiljewa“ (2011); und schließlich „Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges“ (1995), Wellershoffs umfassende Studie, angelegt als persönlicher Erlebnisbericht und zugleich als kriegsgeschichtliches wie militärstrategisches Sachbuch (alle Titel sind in WA 8 enthalten) sowie die 3 CDs umfassende Audio-Kassette „Schau dir das an, das ist der Krieg. Dieter Wellershoff erzählt sein Leben als Soldat“ (2010), bezeugen dieses kontinuierliche Engagement des Autors in Sachen Kriegserfahrung bis ins hohe Alter (so wurde er auch anlässlich der Ausstrahlung des Dokumentarfilms „Unsere Mütter, unsere Väter“ als Zeitzeuge im Rahmen eines Interviews 2013 für die FAZ.net befragt).
[«2]Diesen Impuls verspürte er nach einem Kuraufenthalt 1994 in Bad Reichenhall, genau dem Ort, wo er 50 Jahre zuvor als Soldat eine schwere Verwundung auskuriert hatte.
[«3]Bezeichnenderweise hat Wellershoff seine Kriegserfahrungen nicht literarisiert, sondern dies in Form von Essays, autobiographischen Schriften, Vorträgen, Erlebnisberichten und Sachbuch-Abhandlungen getan. Seine frühen Hörspiele aus den 1950er Jahren – für das Hörspiel „Minotaurus“ hatte er den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ erhalten – haben andere Sujets als die üblichen Nachkriegsthemen wie Heimkehrer, Hunger und Wohnungsnot. Sein Interesse an Hörspielen ist eher formaler Natur; er sieht in ihnen ein literarisches Probier- und Experimentierfeld.