Nochmals zum Mythos: Die Sozialausgaben sind zu hoch
Karl Mai hat in seinem Beitrag vom 17.08.07 die Aussage von Professor Fuest in der FTD, der Anteil der „Sozialausgaben“ läge in Deutschland höher als in allen anderen OECD Ländern mit den gängigen Statistiken konfrontiert und sie als fragwürdig und neben der Faktenlage liegend kritisiert. Von einem unserer Leser darauf hingewiesen, erwidert Fuest, dass er sich nicht auf „Sozialschutzausgaben“ sondern auf die „Sozialtransferquote“ [PDF – 28 KB] beziehe.
Karl Mai repliziert nun seinerseits und weist darauf hin, dass diese statistische Abgrenzung unüblich sei und Fuest in seinem FTD-Artikel diese Besonderheit nicht erwähnt habe, sondern allgemein die hohen „Sozialausgaben“ in Deutschland kritisierte.
Es gehe dabei allerdings nicht um einen Streit über Statistik, sondern darum, dass in der neoliberalen ökonomischen Lehre der Abbau von Sozialleistungen zum Credo gehöre.
Eine weitere Senkung der deutschen Sozialleistungen ist aus neoliberaler Sicht nach wie vor aktuell, weil Haushaltsausgaben mit höherer politischer Priorität rasch wachsen – sei es für die jahrelang grob vernachlässigten Investitionen im öffentlichen Infrastrukturbereich oder aber aktuell für die materielle Um- und Ausrüstung der global agierenden Bundeswehr sowie für die Finanzierung der Anti-Terror-Bekämpfung des BKA. Engpässe bei den Sozialtransfers entstehen aber auch durch die hohen Mindereinnahmen nicht zuletzt infolge der Unternehmenssteuerreform 2008. Die Forderung nach Senkung der Sozialleistungen wird sich bei Abschwächungen der aktuellen Wirtschaftsbelebung sogar noch verstärken.
Es entspricht der vorherrschenden Wirtschaftslehre, dass zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der „überhöhte deutsche Sozialstandard“ abgebaut werden müsse und die Lohn(neben)kosten gesenkt werden müsste. Diese Forderungen gehören zur alten Litanei, deren Unwirksamkeit auf dem Arbeitsmarkt längst empirisch erwiesen ist. Aber gerade weil die Erfolge dieser Rezeptur ausblieben, wird nun ständig nach einer Erhöhung der Reform-Dosis gerufen.
Am 4. Juli trat Prof. Clemens Fuest mit einem Debattenbeitrag in der „FTD“ hervor, der in den „Nachdenkseiten“ am 17. August mit einigen kritischen Bemerkungen von mir kommentiert wurde. Dort steht zu lesen:
Clemens Fuest operiert hier leider ziemlich fragwürdig, wenn er in dem vorstehenden Artikel formuliert: ‚Der Anteil der Sozialausgaben lag in Deutschland hingegen höher als in allen anderen OECD-Ländern.’
Als Beleg für meine Kritik verwies ich auf offizielle Statistiken, die zeigen sollten, dass diese Aussage von Professor Fuest nicht der Faktenlage entspricht: Deutschland liegt hiernach bei den Sozialausgaben nicht „höher als alle anderen OECD-Länder“.
Es sind international für die EU vergleichbare Sozialausgaben, die begrifflich exakt EU-typische „Sozialschutzleistungen“ umfassen. Zusätzliche staatliche Ausgleichs- und Anreizleistungen im Sozialbudget sind hierbei ausgeklammert, weil sie in der EU nicht vergleichbar abgegrenzt werden können – ihr Anteil im deutschen Sozialbudget liegt bei etwa 1,5 %-Punkten.
Bezüglich der „Spitzenposition vor allen anderen OECD-Ländern“ bei den staatlichen Sozialausgaben für Deutschland bleibe ich bei meiner Kritik in meinem Beitrag für die NachDenkSeiten vom 17.08.07 unter Verweis auf die dort zitierten OECD-Daten. (Quelle hierfür: OECD-Statistikbereich, Tabelle 38138100, Spalte EQ5 „Total Publik sozial spending“ [Excel-Tabelle – 512 KB])
Danach steht bei den „Gesamten öffentlichen Sozialausgaben“ im Jahre 2003 Deutschland nach Schweden und Frankreich mit Dänemark an dritter bzw. vierter Stelle. (Siehe auch: Eurostat [PDF – 120 KB])
Professor Fuest macht nun geltend, dass er eine besondere Tabelle mit gesonderter Rangfolge der OECD-Länder gemäß ihren „Sozialtransferquoten“ genutzt habe. Diese ist gegenüber den EU-einheitlichen „Sozialschutzleistungen“ noch weiter eingeschränkt, so dass Deutschland dann tatsächlich die „Spitzenposition“ mit 26,5 % des BIP im OECD-Vergleich erreicht (Siehe auch: Eurostat [PDF – 120 KB]). Leider gibt er für seine Tabelle weder Namen oder Kennzahl noch die Jahreszahl oder die Quelle im OECD-Statistikbereich an.
Die exakte Abgrenzung für diese Art „Sozialtransfers“ wird in dem bekannten Standardlehrbuch zur Sozialpolitik als spezieller Begriff gar nicht geführt. [1]
In seinem FTD-Artikel vom 4.7. hatte Fuest diese Besonderheit seiner Beweisführung nicht erwähnt, so dass jeder Leser zu abweichenden Deutungen kommen konnte.
Aber im Kern handelt es sich jedoch gar nicht um einen Streit um Zahlen. Selbst dann, wenn die deutsche Position bei den Sozialausgaben nicht als Spitzenposition gelten kann, müssten die politisch gesetzten Prioritäten bei anderen Haushaltsausgaben bewirken, die Sozialausgaben vorrangig zu senken – denn dies liegt ganz einfach in der neoliberalen Logik: Sozialausgaben haben hiernach immer die geringste Priorität.
Solange man der deutschen Position den Spitzenplatz gegenüber „allen anderen OECD-Ländern“ zuweisen kann, wird natürlich „Bürger Duldsam“ eher bereit sein, etwas von seiner Spitzenposition „abzugeben“. Geht man jedoch von allen Leistungen im Sozialbereich zurück zu den staatlichen „Sozialschutzleistungen“, um deren Senkung es im Kern der Sache geht, ist diese „Spitzenposition“ gar nicht vorhanden.
Die absolute Höhe der von mir zitierten Sozialschutzausgaben pro Kopf in der Währungseinheit EU-KKS lässt gar keinen Zweifel mehr aufkommen – Deutschland liegt hierbei sogar unter dem EU-15-Stand von 2004.
Die praktisch relevante Kennzahl ist jedenfalls mit der eindeutigen Angabe der „Sozialschutzleistungen je Einwohner in EU-KKS“ gegeben, die für Deutschland nur einen unterdurchschnittlichen Platz in der EU aufzeigt.
Eine solche Faktenlage widerspricht natürlich den Motiven und gängigen Argumenten zur weiteren Absenkung der deutschen Sozialleistungen. Da liegt es nahe, die statistischen EU-Daten selbst in ihren Abgrenzungen in Zweifel zu ziehen, um aus den Daten eine veränderte Rangfolge der Länder und eine eindeutige Spitzenposition der deutschen Sozialleistungen als BIP-Quote zu postulieren. Darüber vermag man in der Wissenschaft streiten.
Die praktisch relevante Kennzahl ist jedenfalls mit der eindeutigen Angabe der „Sozialschutzleistungen je Einwohner in EU-KKS“ gegeben, die für Deutschland nur einen unterdurchschnittlichen Platz in der EU aufzeigt.
In diesem Punkte kann es keine Rechthaberei geben.
[«1] Bäcker, Bispinck, Hofemann, Naegele, „Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland“, Bd. 1, 3. Auflage 2000