Norman Birnbaum über „Deutschland und die USA: Der Nutzen der Geschichte“
Unser Kolumnist aus Washington, Prof. Norman Birnbaum, ist ein großer Kenner der jüngeren deutschen Geschichte und der Beziehungen und Querverbindungen zu den USA. In seiner neuen Kolumne geht er im Einzelnen auf relevante Querverbindungen ein und fragt nach den Konsequenzen für heute. Manches wirft ein besonderes Licht auf den auf den den NachDenkSeiten immer wieder skizzierten – und beklagten -Einfluss auf deutsche Meinungsführer. – Wie immer herzlichen Dank an Carsten Weikamp für die schnelle und hervorragende Übersetzung. Albrecht Müller.
Es folgt der Text und zuvor hier [PDF – 65,8 KB]:
Deutschland und die USA: Der Nutzen der Geschichte
von Norman Birnbaum, 26.03.2015
Es folgen einige Gedanken über die historischen Quellen des Status der aktuellen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland sowie einige Notizen über die aktuelle US-Politik in Europa und tatsächliche wie gewähnte Aktivitäten von Einheiten, die verdeckt operieren, und von amerikanischen Nachrichtendiensten.
Beginnen wir mit den Jahren der Besatzung bis zur Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 (Die Alliierten reklamierten bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 ultimative Rechte auf die Souveränität für sich: Einige Vorteile und Gewohnheiten waren nur schwer loszulassen). Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen die USA deutlich wohlhabender da als zu Beginn, und Öffentlichkeit wie Eliten hatten einen starken Sinn für die Pflicht und das Recht, den Rest der Welt zu kommandieren. Stalin und Mao erwiesen unserer Elite einen unschätzbaren Dienst, indem sie eine Opposition aufbauten, die nach Orwellscher Manier aufgestellt war. Frankreich und Großbritannien brauchten selbst wirtschaftliche Unterstützung der USA und wurden sehr schnell ausgesprochen verlässliche Partner der USA in Europa und im Rest der Welt. Im besetzten Deutschland hatten dessen europäische Nachbarn wenig Kraft für eigenständige Aktivitäten.
Die amerikanische Besatzungszone ging ziemlich schnell von einer Betonung der „Umerziehung“ zu einer des wirtschaftlichen Wiederaufbaus über. Bei der Stuttgarter Rede des damaligen Außenministers James Byrne im Jahr 1946 musste man nicht groß zwischen den Zeilen lesen. Er versprach beides: Erholung und Rehabilitierung. US-Militärplaner hatten in vielen Fällen auf ziemlich direkte Art und Weise Bekanntschaft mit der Wehrmacht gemacht und sprachen in Washington laut über die Vorteile deutscher Unterstützung im Hinblick auf die Konfrontation mit der Sowjetunion. Der Widerwille der Europäer, speziell der Franzosen, dagegen war groß. Die deutsche Bevölkerung war zwar kaum kriegslustig, hatte aber in den westlichen Besatzungszonen Angst vor einer Eingliederung in ein sowjetisches Europa. Es gab keinen Anlass, zu glauben, dass Stalin ernsthaft darüber nachgedacht hätte, sich westwärts zu bewegen, und er löste die Blockade Westberlins ohne großes Zögern. Der wahre Zustand der Sowjetunion war einer der wirtschaftlichen und sozialen Schwäche – aber der politische Diskurs im Westen stellte das Bild des praktizierten sowjetischen Autoritarismus in den Vordergrund, um sie so bedrohlich wie möglich darstellen zu können.
Unter diesen Umständen musste die Wiederbewaffnung Deutschlands nur noch bezahlt werden. Rudolf Augstein hat einmal gesagt, dass man normalerweise Armeen aufbaut, um Staaten zu schützen, dass aber die Bundesrepublik aufgebaut wurde, um eine Armee zu schützen. Die Entnazifizierungsprozesse wurden minimiert, verschleppt oder ganz eingestellt. Westdeutschland stieg mit außergewöhnlich schneller Geschwindigkeit wieder auf. Die Bevölkerung hatte die Möglichkeit, die Wiederbewaffnung anzuhalten oder zu beschränken, indem sie Sozialdemokraten wählte, tat es aber nicht in ausreichendem Maße, um der Partei einen Platz in der Regierung zu geben. Gustav Heinemann und seine Gesamtdeutsche Volkspartei, die für ein einiges und neutralisiertes Deutschland und Gespräche mit der UdSSR auf Basis der Stalin-Note eintraten, erzielten bei der Wahl 1953 einen lächerlichen Stimmenanteil von weniger als zwei Prozent. Erhard Eppler, Jürgen Habermas und Johannes Rau begannen ihre politischen Karrieren mit Heinemann, den man sich zu der Zeit noch nicht als einen zukünftigen Präsidenten vorstellen konnte. Er, Niemöller, andere in der evangelischen Kirche, eine preußische Gruppe, die sowohl um das Vermächtnis der Verschwörer von 1944 als auch um Kollaborateure des Nazi-Regimes organisiert war, und einige Katholiken, die nicht einer Meinung waren mit dem rigiden Antikommunismus von Papst Pius XII., bildeten eine geistliche Opposition gegen die totale Atlantifizierung, welche zwar ein gewisses Renommee hatte, politisch aber ignoriert wurde. Ich habe sie eine geistliche Opposition genannt, und es ist bemerkenswert, dass die katholischen und evangelischen Akademien und die Kirchentage die Themen aufnahmen, die im Bundestag ignoriert, von den Redakteuren in die Feuilletons verbannt und einer neuen Generation überlassen wurden, die sie später zum Thema der Politik machte.
Die USA und seine Diplomaten konzentrierten sich für ihren Teil auf die Weltpolitik, ohne großen historischen Hintergrund oder politischen Tiefgang. Es gab genug, auf das man sich konzentrieren konnte: Auf Stalins Tod folgte die Revolte in der DDR, Turbulenzen überall im Ostblock. Die neue deutsche Armee war in die NATO eingebunden worden – und gab der deutschen Regierung ein gewisses Maß an Einfluss; unter Adenauer war man aber vorsichtig genug, davon keinen Gebrauch zu machen. Die Entscheidung Eisenhowers und Dulles’, die Frontlinie des Kalten Krieges zu akzeptieren und 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn nicht zu intervenieren, schuf einen Präzedenzfall für John F. Kennedy, der sich weigerte, den Bau der Berliner Mauer als Anlass zum Krieg zu nehmen – er interpretierte es im Gegenteil als Beweis dafür, dass Chruschtschow seine lauten Forderungen nach einem Ende des Sonderstatus von Westberlin fallengelassen habe. Die Kuba-Krise 1962, die Spiegel-Affäre und die damit zusammenhängenden Proteste hatte in Deutschland Konsequenzen, die die amerikanische Diplomatie in überzeugender Weise ignorierte. Genauso ignoriert wurde die Denkschrift der Evangelischen Kirche über die Beziehungen zum Ostblock – ebenso die frühere, die Deutschland aufrief, keine Atomraketen anzuschaffen, eine Position, die die erfolglosen Architekten der Nazi-Atombombe, Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker entwickelt hatten.
Die US-Regierung ermöglichte der nachkommenden Generation in Westdeutschland Besuche in den USA und rief die amerikanische Zivilgesellschaft (Kirchen, Universitäten, Bürgervereinigungen aller Art) dazu auf, solche zu organisieren. Für weite Teile des politischen Spektrums in Deutschland gilt, dass der Nachwuchs der Generation, die das Dritte Reich geführt hatte, die USA aus erster Hand kennenlernte. Viele studierten in den USA (und nicht nur an den bekannten Universitäten im Nordosten), einige arbeiteten in Fabriken und Büros, es gab Lehr- und Forschungsbesuche von älteren Personen. Die Gruppe 47 reiste für ihr Jahrestreffen 1966 nach Princeton. In den Sechzigern und frühen Siebzigern hatten deutsche Besucher viele Gelegenheiten, die amerikanische Studentenrevolte, die Bewegung gegen den Vietnamkrieg, den Kampf um die Bürgerrechte für afro-amerikanische Bürger und ihre Verbündeten, die Mühen des amerikanischen Feminismus und die Kampagnen der Naturwissenschaftler und Physiker für eine Begrenzung der Atomwaffen mitzuerleben.
Einige der amerikanischen Programme wurden verdeckt von der CIA finanziert – durch den Kongress für kulturelle Freiheit und das Universitätszentrum für rationale Alternativen. Der Kongress für kulturelle Freiheit sponserte unter anderem Zeitschriften: Encounter in London, Preuves in Paris, Tempi Persenti in Rom und Der Monat in Berlin. Niemand hatte die geringsten Zweifel daran, wofür diese Zeitschriften eintraten (zuverlässige Linientreue mit den USA im Kalten Krieg) und wenige waren so naiv, keinen Verdacht zu hegen über die Quelle von deren erquicklicher Finanzierung. Das Universitätszentrum für rationale Alternativen gab in London das internationale Magazin Minerva heraus – ein völlig erfolgloser Versuch, die Bewegungen der Sechziger an europäischen Universitäten zurückzudrängen.
Es gibt eine Anzahl interessanter Fußnoten zu diesen Anstrengungen. Der kulturelle Kalte Krieg wurde von kosmopolitischen Amerikanern, zum Großteil Anhängern des New Deal betrieben. Als Kissinger 1969 als Nationaler Sicherheitsberater zu Nixon ins Weiße Haus kam, warnte ihn der Präsident, vorsichtig mit den „Liberalen“ in der CIA umzugehen. Kissinger hatte zuvor in Harvard ein internationales Seminar für Ausländer organisiert, die am Anfang einer Karriere im öffentlichen Dienst standen. Aus Deutschland kamen im Sommer 1962 Erhard Eppler und Günter Gaus, deren spätere Karrieren keine große Ehrerbietung für die USA zum Ausdruck brachten. Das war strikt gegen die Satzung der CIA, aber im kulturellen Leben der USA sehr präsent. Zu einem Zeitpunkt waren eine gewisse Anzahl von Journalisten und Herausgebern wesentlicher Publikationen CIA-Kollaborateure, wenn nicht Vollzeit-Agenten. Eine Zeitlang förderte ein von der CIA finanziertes Amerikanisches Komitee für kulturelle Freiheit den kulturell und politisch einflussreichen Partisan Review. Dieser veröffentlichte in dieser Zeit jedoch Artikel von mir und anderen, die nach einer kritische Neubewertung des Kalten Krieges verlangten. Dies wurde von einer Gruppe in Kennedys Weißem Haus begrüßt, wo der Harvard-Historiker Arthur Schlesinger Jr. der führende Intellektuelle war und in engem Kontakt mit Kollegen von außerhalb der Regierung stand. Der Präsident selbst, wird man sich erinnern, hatte Kummer genug mit der CIA. Lange vor der Demütigung, die sie ihm in der Schweinebucht bescherte, als auf die Außenpolitik spezialisierter Senator, hatte er ihre Arbeit zum Teil nachlässig gefunden.
Was nachlässig war und weiterhin ist, ist das Versagen signifikanter Teile des Apparats der US-Außenpolitik, die historischen Beschränkungen bei der Konzeption der deutschen Außenpolitik und dementsprechend auch die Entscheidungen der deutschen Regierungen zu verstehen. Vor sechzig Jahren ließ Adenauer der Wiederbewaffnung Deutschlands eine eigene Reise nach Moskau folgen und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR. Es wird Zeit, dass unsere politischen Macher und ihre zugehörigen Experten verstehen, dass es in der Beziehung Deutschlands zu Russland eine Spezifik gibt, die man nicht einfach mit atlantizistischer Polemik auslöschen kann. Die Tatsache, dass die Ostpolitik von einer Allianz aus Sozialdemokraten und preußischen Konservativen (die nicht immer Gegenspieler waren in der neueren deutschen Geschichte) entwickelt wurde, anfangs abgelehnt und dann später unter Kohl von den deutschen Katholiken akzeptiert, hat seine Wurzeln im deutschen Verständnis seiner eigenen Geschichte. Einige Amerikaner haben das eine Zeitlang erkannt. Im komplizierten Verlauf der Debatten über die Euromissiles haben Bundy, Kennan und McNamara offen die deutsche Friedensbewegung und ihren politisch effektivsten Verbündeten, Genscher, unterstützt.
Der aktuelle Streit in Deutschland über die Politik gegenüber Russland in der Ukraine-Frage ist eine traurige Erinnerung an die Fieberhaftigkeit früherer Auseinandersetzungen im Kalten Krieg. Die These, dass deutsche Kommentatoren, die nach Konfrontation rufen, von der CIA manipuliert seien, ist fragwürdig. Die US-Regierung und die Vielzahl seiner außenpolitischen Agenten, ganz zu schweigen vom Kongress und unseren eigenen Medien, sind ziemlich offensichtlich geteilter Meinung, wie die amerikanische Politik aussehen soll. Die CIA müsste also eine sehr große Gruppe Deutscher mit unterschiedlichsten Sichtweisen subventionieren, um die zerklüftete Landschaft amerikanischer Meinungen nachzubilden. Der Präsident, der Außenminister und der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, General Dempsey, weisen, wenn sie über die Ukraine sprechen, beinahe ausnahmslos darauf hin, im Vorgehen die Einheit mit „unseren Verbündeten“ zu wahren. In erster und zweiter Instanz meinen sie damit die aktuelle deutsche Regierung.
Es ist sehr gut möglich, dass die verschiedenen deutschen Kommentatoren darum bestrebt sind, potentielle Gastgeber in den USA nicht zu verletzen, indem sie allzu kritisch über die Rolle der USA in der Welt schreiben. Darin stimmen sie überein mit vielen amerikanischen Akademikern und Journalisten, die sich Zugang verschaffen wollen zu dem, was sie für die Führungsetagen der Macht halten. Man braucht nicht auf die CIA zu schauen, um an gewöhnliche menschliche Schwäche erinnert zu werden.