Das griechische Echo auf den Tsipras-Besuch in Berlin
Nach dem „Antrittsbesuch“ von Alexis Tsipras in Berlin brachte die linke Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntaktion (Zeitung der Redakteure) gestern (24. März 2015) folgenden Leitartikel, der die Bedeutung der Gespräche mit der deutschen Bundeskanzlerin jenseits der unmittelbaren Resultate bewertet.
Die Übersetzung ist eher wortgetreu als flüssig; die Ergänzungen in Klammern stammen von mir. Am Ende will ich den Text in wenigen Sätzen erklären und bewerten. Niels Kadritzke.
Gleichwertige und aufrichtige Beziehungen
„Der griechische Ministerpräsident wurde endlich in Berlin willkommen geheißen. Mehr noch, Alexis Tsipras hat gestern diejenigen widerlegt, die geglaubt hatten, dass er auf eine unerbittliche und harte Bundeskanzlerin treffen würde. Widerlegt wurden aber auch die Erwartung, dass der griechische Regierungschef gegenüber Angela Merkel dasselbe Verhalten zeigen würde wie sein Vorgänger Antonis Samaras (bei seinem Berlin-Besuch im September 2014).
Tsipras trat ihr auf Augenhöhe gegenüber, formulierte seine eigene politische Position, beschrieb die griechischen Verhältnisse ohne zu dramatisieren, und verwies auf den Weg der Lösungen, ohne große Sprüche und Übertreibungen und unbeirrbar entschlossen, an der europäischen Perspektive unseres Landes festzuhalten.
In der Darlegung seiner Positionen war er klar und direkt, ohne die Repräsentantin eines starken Landes zu fürchten, zugleich aber auch ausgesucht höflich gegenüber der Kanzlerin als seiner Gastgeberin. Es bedarf eines hohen Niveaus politischer Reflexion und besonnenen Verhaltens, einige Wahrheiten auszusprechen, ohne die Gastgeberin zu beleidigen: über die Erfolglosigkeit der (in Griechenland) angewandten Sparprogramme, über den Fall Siemens (also die Bestechungsgelder des deutschen Konzerns), über die Frage der Kriegsreparationen. Dabei bestritt Tsipras aber auch nicht die Notwendigkeit, den öffentlichen Sektor Griechenlands zu modernisieren und die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Und es erfordert durchaus Mut, in aller Offenheit zu sagen, dass an den griechischen Zuständen nicht nur die anderen schuld sind.
Auf der anderen Seite hat die deutsche Bundeskanzlerin diejenigen widerlegt, die erwartet haben, sie werde Tsipras wie einen Schulanfänger behandeln, dem man erst mal das ABC beibringen muss. Beide Politiker haben ihre Fähigkeit bewiesen, eine gemeinsame Basis der Verständigung zu finden, wenn die Realität es erfordert. Sie haben es geschafft, Differenzen zugunsten einer Konvergenz zu überwinden, und die Botschaft auszusenden, dass Europa nur Fortschritte machen kann, wenn man sich am Ende einigt.
Zu Freudenfeiern gibt es keinen Anlass. Aber dass die Dreierformel, die der Ministerpräsident betonte – wonach die Begriffe „Europa, Verpflichtungen, Perspektiven“ zusammen gehören – die Zustimmung der Kanzlerin fand, ist ein Beleg dafür, dass die beiden Seiten die „Hakenkreuze“ und das gegenseitige Misstrauen hinter sich gelassen haben. Der Erfolg, den der griechische Ministerpräsident und das ganze Land damit erzielen, liegt darin, dass Griechenland und Deutschland die Zukunft nicht mehr durch verzerrende Brillen betrachten, sondern sich am Richtmaß der Realitäten orientieren – so hart diese Realitäten auch sein mögen.“
Anmerkung Niels Kadritzke:
Der Leitartikel einer Zeitung, die der Tsipras-Regierung sehr wohlwollend, aber nicht unkritisch gegenüber steht, lässt klar erkennen, dass der Auftritt und die Aussagen von Tsipras in Berlin mindestens ebenso sehr auf das griechische wie auf das deutsche Publikum wirken sollten. Ich habe die Pressekonferenz Merkel/Tsipras in Athen über die griechischen TV-Kanäle verfolgt und hatte den Eindruck, dass die Darlegungen von Tsipras sehr direkt auch an seine eigenen Landsleute und Wähler gerichtet waren. Das gilt vor allem für folgende Punkte:
- Den Appell, das deutsch-griechische Verhältnis zu normalisieren und die Klischees abzubauen, die in Deutschland und Griechenland über die jeweils andere Seite nicht nur existieren, sondern in den letzten Monaten eine gefährliche Zuspitzung erfahren haben. Tsipras nannte dabei explizit das primitive Bild vom „faulen“ Griechen einerseits, und die „simplistische“ Darstellung der heutigen Deutschen (und ihrer Politiker) als alte und neue Nazis. Dabei ging Tsipras so weit, in Berlin noch einmal explizit die unsäglichen Karikaturen in seiner eigenen Parteizeitung zu verurteilen.
- Die Klarstellung, dass die Frage der Reparationen und des Zwangskredits, die sich auf die Nazi-Okkupation beziehen, nichts mit den aktuellen Forderungen nach einer finanziellen Entlastung für Griechenland zu tun haben und auf keinen Fall mit dem jetzigen Schuldenstand „verrechnet“ werden sollen und können. Das ist zwar in erster Linie ein Signal an die deutsche Öffentlichkeit, tritt aber auch den populistischen Stimmen im eigenen Lande entgegen, die argumentieren, die griechischen Schulden könnten durch Reparationsgelder quasi gelöscht werden. An beide Adressen ging auch die Aussage, dass seine Regierung auf keinen Fall wichtige Institutionen wie das Goethe-Institut konfiszieren werde, dessen Arbeit im Sinne einer griechisch-deutschen Verständigung er ausdrücklich würdigte (das wurde in den griechischen Medien auch als Zurechtweisung des eigenen Justizministers empfunden).
- Den Satz, den der Kommentar als besonders „mutig“ bezeichnet, nämlich die Aussage, dass an der griechischen Misere von heute „nicht nur die anderen Schuld sind“, sondern dass dafür auch viele eigene Versäumnisse und eingefleischte Übel wie die Korruption und die mangelnde Steuerdisziplin verantwortlich sind.
Dieser letzte Satz ist von besonderer Bedeutung, zumal in der entscheidenden Phase der Verhandlungen zwischen Griechenland und den „Institutionen“ , die früher Troika genannt wurden. Zwar hat die Syriza dem klientelistischen Erzbübel, das die griechische Gesellschaft in die Situation von 2009 gebracht hat, bereits in ihrem Wahlkampf entschieden den Kampf angesagt. Aber dass Tsipras seine Landsleute mit der komplexen „Schuldfrage“ gerade jetzt konfrontiert, ist kein Zufall. Da die Regierung in allernächster Zeit einschneidende Reformen beschließen und auch umsetzen muss, die gesellschaftlich notwendig und überfällig sind, aber nicht allen Leuten gefallen werden, muss sie ein Narrativ von der „eigenen Verantwortung“ entwickeln. Griechenland selbst soll endlich mit den Reformen vorangehen und sich die Prioritäten nicht mehr von außen diktieren lassen. Wenn die Tsipras- Regierung die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Reformprogramms stärken will, muss sie die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstkritik stärken. Die ist zwar grundsätzlich vorhanden – mehr als es nach außen sichtbar wird – aber im öffentlichen Diskurs wird diese Einsicht immer wieder durch das entlastende Argument blockiert, dass nur „das Ausland“ an der griechischen Misere schuld sei. Darüber ist bei vielen die Erinnerung verloren gegangen, dass Griechenland vor allem auch deshalb zum Opfer der Finanzmärkte und in der Folge der katastrophalen und gescheiterten Troika-Politik werden konnte, weil die öffentlichen Finanzen schon vorher durch die „griechische Krankheit“ des Klientelismus geschwächt und ausgehöhlt waren.
So gesehen ist der Versuch, das griechisch-deutsche Verhältnis zu verbessern und die – keinesfalls beendeten – politischen Auseinandersetzungen zwischen Athen, Berlin und Brüssel zu ent-hysterisieren, ein Beitrag auch zur Versachlichung der Debatte in Griechenland. Eine „klare und direkte“ Bestandsaufnahme der eigenen Situation und der selbstgemachten Probleme ist die Voraussetzung dafür, dass der Syriza-Regierung jener Neuanfang gelingt, den die Regierungen der alten, verbrauchten Parteien weder gewollt noch angepackt haben.