“Kanadas Einwanderungsprogramme degradieren Menschen zu Arbeitsrohstoffen”

Patrick Schreiner
Ein Artikel von Patrick Schreiner
Lucio Castracani

Migration ist nicht nur mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, sondern auch mit Arbeitsausbeutung der Eingewanderten eng verbunden. Extreme Beispiele in diesem Zusammenhang finden sich in der deutschen Fleischindustrie und in der Landwirtschaft Süditaliens und Südspaniens. Die Ausbeutung immigrierter Arbeiter ist allerdings keineswegs nur ein europäisches Phänomen. Dies zeigt das nachfolgende Interview mit Lucio Castracani [*] zur Lebens- und Arbeitssituation temporärer Arbeitsmigranten (Wanderarbeiter) in Kanada. Das Interview führte Patrick Schreiner.

Vorbemerkung: Migration war immer schon vielfältig. Grob (und in der Realität nicht immer ganz trennscharf) lassen sich zwei Formen der Migration unterscheiden: Die dauerhafte und feste Einwanderung in andere Länder einerseits, die vorübergehende, auf wenige Wochen oder Monate begrenzte andererseits. Durch beide werden dem Arbeitsmarkt Arbeitskräfte nach verschiedenen Bedürfnissen zur Verfügung gestellt, und beide gehen regelmäßig mit Ausbeutung sowie prekärer Beschäftigung einher. Dabei spielt die Unterscheidung zwischen hochqualifizierten und geringqualifizierten Immigranten eine wesentliche Rolle. Dies wird auch im nachfolgenden Interview deutlich. Es widmet sich der Einwanderung nach Kanada, in ein Land also, dessen Einwanderungspolitik bzw. Punktesystem in Deutschland oft als vorbildlich beschrieben wird, zuletzt durch die SPD-Bundestagsfraktion und den CDU-Wirtschaftsrat. – Die NachDenkSeiten haben die Problematik der Ausbeutung und Ausgrenzung von Migranten immer wieder aufgegriffen, so in Artikeln zum SPD-Papier, zur Migration als Folge der Eurokrise, zu den Arbeitsbedingungen häuslicher Pflegekräfte oder zu den Bildungschancen von Kindern mit Migrationsgeschichte.


Welche Formen der temporären Migration gibt es in Kanada? Wie funktionieren sie?

Castracani: Um als temporärer Arbeitsmigrant nach Kanada zu kommen, gibt es mehrere Wege – eingeschlossen auch die Einreise als Tourist, als Geschäftsreisender oder als Student. Der heute wichtigste und meistdiskutierte Weg aber ist der über spezielle Programme zur temporären Arbeitsmigration. Diese sollen dazu dienen, für eine “begrenzte” Zeit Arbeitsplätze in jenen Branchen zu besetzen, in denen heute ein Mangel an “einheimischen” Arbeitskräften herrscht. Diese Art der Rekrutierung ist in Kanada keineswegs neu. Eines der älteren Programme, das “Seasonal Agricultural Workers Program” (SAWP) zur Vermittlung von Wanderarbeitern in landwirtschaftliche Betriebe, wurde 1966 auf der Grundlage eines entsprechenden Abkommens zwischen Kanada und Jamaika geschaffen. Einige Jahre später, 1973, wurde das wichtigste Programm zur Rekrutierung temporärer Arbeitsmigranten geschaffen, das “Non-Immigrant Authorization Workers Program” (NIEAP).

Was sich heute gegenüber damals verändert hat, ist der Umfang dieser Programme: In den letzten 15 Jahren wurden sie massiv ausgeweitet. Seit 2000 ist die Zahl temporärer Arbeitsmigranten stark angestiegen, und seit 2008 übersteigt sie die Zahl der dauerhaft Einwandernden. Das bedeutet, dass temporäre Arbeitsmigration für verschiedene Tätigkeiten durchaus einen strukturellen und dauerhaften Charakter hat, wenngleich sie aus individueller Perspektive zeitlich begrenzt ist. Ein zentraler Moment in dieser Entwicklung war der Start eines Pilotprojekts für geringqualifizierte Tätigkeiten im Jahr 2002. Dieses Projekt erlaubte es, die Logik temporärer Arbeitsmigration auf weitere Produktionssektoren auszuweiten, sofern diese geringqualifizierte Arbeitskräfte benötigten, solche aber nicht finden konnten. Dies betraf insbesondere den Bausektor sowie den Bergbau. Hinzu kam, dass das SAWP-Programm im Bereich der Landwirtschaft zunehmend dazu genutzt wurde, einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Herkunftsländern zu entfachen.

Was bedeutet es für die einzelnen Arbeiterinnen und Arbeiter, sich im Rahmen temporärer Arbeitsmigration in Kanada aufzuhalten?

Castracani: Durch die Gesetzgebung, wie ich sie eben beschrieben habe, wird eine Unterscheidung zwischen qualifizierten und geringqualifizierten Arbeitskräften getroffen. Grundlage dieser Unterscheidung sind insbesondere auch Herkunft und Geschlecht. Dieses Gesamtkonstrukt wiederum liefert eine Rechtfertigung für eine Form der Einbindung mancher Männer und Frauen in den Arbeitsmarkt, die zu prekären und nachteiligen Arbeitsbedingungen führt. Menschen, die im Rahmen des Pilotprojekts für geringqualifizierte Tätigkeiten, des SAWP oder auch im Rahmen eines Programms für Pflegekräfte in Privathaushalten nach Kanada kommen, unterliegen besonderen Auflagen und Einschränkungen. Zuallererst haben sie ein sehr restriktives Arbeitsvisum – mit der Konsequenz, dass sie ihren Arbeitgeber nicht wechseln und sich am Arbeitsmarkt nicht frei bewegen können. Zweitens sind viele von ihnen gegenüber den Einheimischen aufgrund von sprachlichen und sozialen Hürden isoliert. Manchmal kommt eine räumliche Isolation dazu, denn die Wanderarbeiter sind bezüglich ihrer Unterkunft von ihren Arbeitgebern abhängig. Oft werden sie gezwungen, am Arbeitsplatz zu leben. Drittens schließlich haben temporäre Migranten aus dem SAWP oder dem Pilotprojekt für geringqualifizierte Tätigkeiten nicht die Möglichkeit, sich um eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu bewerben. Zu diesen Lebens- und Arbeitsbedingungen passt das Zitat von Stephen Castles, der über die Gastarbeiterprogramme europäischer Staaten während der 1960er Jahre geschrieben hat, diese zielten darauf, “Arbeit zu importieren, nicht Menschen”. Mit anderen Worten: Ich denke, Kanadas Programme zur temporären Arbeitsmigration verwirklichen den Wunsch des Kapitals, Menschen zu einfachen Arbeits-Rohstoffen zu degradieren, um extrem flexible und unterwürfige Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben und so die Kapitalakkumulation voranzutreiben.

Eine aktuelle Frage ist, wie die Zukunft dieser Programme aussieht. In den letzten Jahren haben kanadische Medien immer wieder darauf hingewiesen, dass Wanderarbeiter in Sektoren angestellt werden, die von Arbeitskräftemangel gar nicht betroffen sind – wie etwa Banken, Fluggesellschaften oder manchen typischen “Studentenjobs” beispielsweise in Fastfood-Restaurants. 2013 hat die kanadische Regierung ein Reformprogramm vorgestellt, um in dieser Kontroverse eine politische Antwort zu geben. Allerdings zeigt sie dabei keinerlei Bemühen, das Problem der unterschiedlichen Bedingungen am Arbeitsmarkt zu lösen. Ganz im Gegenteil habe ich den Eindruck, dass die Reform die Segregation am Arbeitsmarkt sogar noch verstärken wird.

Was meinen sie, wenn sie sagen, dass Herkunft und Geschlecht Grundlage der Unterscheidung zwischen qualifizierten und geringqualifizierten Migranten sind?

Castracani: Ich meine damit, dass die Segregation am Arbeitsmarkt nach wie vor auf solchen Kategorien beruht. Im Rahmen des Pilotprojekts für geringqualifizierte Tätigkeiten werden Statistiken geführt. Wenn man sich diese ansieht, so stellt man fest, dass die Zahl der Frauen ansteigt, die als temporäre Arbeitsmigranten in Kanada ankommen. Zudem haben wir noch immer eine größere Zahl an Menschen aus Asien und Lateinamerika in der Kategorie der Geringqualifizierten, während zwei Drittel der qualifizierten Immigranten aus Europa und den USA kommen.

Welche Rolle spielen internationale Freihandelsabkommen und insbesondere die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA für temporäre Arbeitsmigration?

Castracani: NAFTA spielt eine aktive Rolle für diese Form der Immigration. So gründet die internationale Migration hochqualifizierter Arbeitnehmer ganz wesentlich auf NAFTA und den anderen internationalen Abkommen, wie etwa dem Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS). Wenn wir diese Abkommen auf einer übergeordneten Ebene betrachten, so müssen wir feststellen, dass sie sich auch auf alle Formen temporärer Arbeitsmigration auswirken. Der Anthropologe Leigh Binford beispielsweise hat gezeigt, wie NAFTA mexikanischen Kleinbauern die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzog, wodurch sie gedrängt wurden, etwa mittels des Programms SAWP als Saisonarbeiter in die kanadische Landwirtschaft zu kommen. Es ist wichtig, solche Programme nicht nur aus einem nationalen Blickwinkel heraus zu betrachten, sondern im internationalen Kontext unter der Beachtung von Herkunfts- und Zielländern.

Versuchen kanadische Gewerkschaften, temporäre Arbeitsmigranten zu organisieren oder ihnen zu helfen? Und gibt es Versuche der Wanderarbeiter, sich selbst zu organisieren und für die eigenen Rechte zu kämpfen?

Castracani: Ja, das machen die Gewerkschaften. “United Food and Commercial Workers”, zum Beispiel, unterhält gemeinsam mit der “Agriculture Workers Alliance” mehrere Hilfs- und Beratungszentren in ganz Kanada. Sie versuchen, temporäre Arbeitsmigranten in der Landwirtschaft zu verteidigen. Wenn ich mir die Besonderheiten dieser Gruppe von Arbeiter vor Augen führe, denke ich allerdings, dass wir diese Aktivitäten mit Erfahrungen von unten kombinieren sollten, um Isolation, zeitliche Befristungen und Beliebigkeit in den Arbeitsverhältnissen zu bekämpfen. In Montreal etwa hat das “Immigrant Workers Center”, ein Netzwerk von Arbeitern, Aktivisten und Wissenschaftlern, eine “Vereinigung der Wanderarbeiter” (Temporary Foreign Workers Association, TFWA) gegründet. Auch ich bin dort engagiert. Unser Ziel ist es, temporäre Arbeitsmigranten aller Branchen in Quebec zu stärken und zu organisieren. Wir probieren dazu neue Formen der Mobilisierung aus, indem wir einzelne Fälle mit breiteren programmatischen Themen verknüpfen, indem wir einen informellen Ansatz verfolgen und indem wir Unterstützungsleistungen und eine Selbstorganisation der Wanderarbeiter zugleich anbieten. Ich denke, es ist wichtig, dass Gewerkschaften mit dieser Art von Netzwerken zusammenarbeiten. Angesichts der Fragmentierung und Prekarisierung von Arbeit brauchen wir flexible Allianzen auch bei der Organisation von Arbeitern.

In Deutschland wird Kanada (mitsamt seinem Immigrationssystem, das auf der Bepunktung von Alter, Sprachkenntnissen, Qualifikationen u.a. beruht) oft als gutes Vorbild für eine erfolgreiche Einwanderungspolitik gesehen. Was denkst Du über dieses kanadische System? Wie ist es mit temporärer Arbeitsmigration verknüpft?

Castracani: Das ist eine gute Frage, denn wir können Programme zur temporären Arbeitsmigration nicht verstehen, ohne auch das übergeordnete Migrationsregime Kanadas in den Blick zu nehmen. Das Punktesystem bei der Einwanderung wurde 1967 eingeführt, im gleichen Jahr wie das Programm für temporäre Arbeitsmigration NIEAP also. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wie Victor Piché betont, führt die Kombination von Programmen zur temporären Arbeitsmigration mit dem kanadischen Punktesystem zu einem “Zwei-Schichten-Migrationsregime”: Auf der einen Seite gibt es hochqualifizierte Immigranten, die durch ein Punktesystem ausgewählt werden und die eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Arbeitskräfte, denen man den dauerhaften Aufenthalt verweigert, weil sie lediglich als Arbeits-Rohstoffe angesehen werden. Um dieses System am Laufen zu halten, ist es wichtig, manchen Immigranten keinen dauerhaften Aufenthalt zu erlauben und ihre Möglichkeiten des Aufenthalts zu begrenzen. Der “Immigration and Refugee Protection Act” (IRPA), ein Gesetz, das wenige Monate vor dem Pilotprojekt für geringqualifizierte Tätigkeiten verabschiedet wurde, verdeutlicht diese Logik. Durch IRPA wurden Asylverfahren schwieriger, während Abschiebungen und Einwanderungshaft zugenommen haben. Dadurch sind heute Programme zur temporären Arbeitsmigration für viele Migranten der einzige Weg, um die eigene Abschiebung zu vermeiden und einen legalen Status in Kanada zu erlangen, wenngleich nur zeitlich begrenzt.

Dies spiegeln auch die Migrationsverläufe der Wanderarbeiter wieder. Einer der Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, mit denen ich im Rahmen meiner Feldforschung sprechen konnte, entschied sich, nicht in sein Herkunftsland Mexiko zurückzukehren, nachdem sein Arbeitsvisum ausgelaufen war. Er beabsichtigte, in Kanada zu bleiben und Flüchtlingsstatus zu erlangen. Das Problem war allerdings, dass die kanadische Regierung 2013 Mexiko in eine Liste “sicherer Herkunftsländer” aufgenommen hatte. Die Möglichkeit, Flüchtlingsstatus zu bekommen, ist dadurch äußerst schlecht. Der Arbeiter begann daraufhin, undokumentiert (“illegal”, d.Ü.) in Kanada zu leben; er arbeitete im gleichen Sektor, in dem er auch zuvor tätig war. Seine Geschichte zeigt, wie dieses Immigrationsregime funktioniert: Um manche Menschen in die Programme zur temporären Arbeitsmigration zu drücken, wird ihnen einwanderungspolitisch jede andere Möglichkeit des Aufenthalts verweigert. Die einzige Alternative zu diesen Programmen ist der undokumentierte Weg – mit dem Risiko, in Haft genommen und abgeschoben zu werden.

Würden sie also sagen, dass Immigrationssysteme für hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ohne die Ausbeutung Geringqualifizierter funktionieren können? Wenn ja, weshalb?

Castracani: Manchmal ist diese Unterscheidung weniger eindeutig, als wir meinen. Zum Beispiel, wenn die Menschen als qualifizierte Arbeitskräfte ankommen und dann in “geringqualifizierten Sektoren” arbeiten müssen, um zu überleben. Dennoch würde ich sagen, dass “Qualifikationen” oftmals schlicht als angeblich “neutrale” Kriterien verwendet werden, um Differenzen und Hierarchien bei der Kontrolle von Migration und Arbeit zu legitimieren. Ziel dessen ist es, (auch) billige und unterwürfige Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben. Immigrationssysteme für Hochqualifizierte können ohne geringqualifizierte Arbeiter nicht existieren, denn in solchen Systemen drückt sich immer die gesellschaftliche Arbeitsteilung aus. Hochqualifizierte brauchen immer Landarbeiter, um ihre Früchte zu ernten, sie brauchen Hausarbeiterinnen, um ihre Kinder zu versorgen, und sie brauchen Küchenhilfen, um im Restaurant ihre Teller zu waschen. Interessanterweise stimmen Befürworter des bestehenden Immigrationssystems mit dessen Kritikern ja bezüglich dieser Notwendigkeiten der Hochqualifizierten überein. Der Unterschied ist allerdings, dass die Kritiker diese Form der Segregation am Arbeitsmarkt nicht einfach hinnehmen.


[«*] Lucio Castracani ist Anthropologe und PhD-Student an der Universität Montreal (Quebec/Kanada). Er ist Mitglied des Immigrant Workers Centre (IWC) in Montreal, wo er in einer Kampagne zur Gründung einer Vereinigung der Wanderarbeiter (Temporary Foreign Workers Association, TFWA) aktiv ist.

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