„Wie bekämpft man den „Reformwiderstand“? – Das ZEW-Mannheim als Psychodoktor“
Das ist der Titel eines interessanten Beitrags von Friedhelm Grützner. „Er ist länger geworden als ursprünglich geplant“, so Grützner, „aber die methodologische Unbedarftheit dieser sich selbst aufblasenden “Experten” (und deren teilweise richtig drollige Argumentation) hat bei mir das unwiderstehliche Bedürfnis hervorgerufen, hier mal in medias res zu gehen – und zwar weniger von der fachlichen wirtschaftswissenschaftlichen Seite her, sondern mehr unter sozialwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten.“ Schwerer Stoff, aber sehr lesenswert. Ein großes Dankeschön geht an den Autor. Albrecht Müller.
Der folgende Text ist bisher auf der Website der Partei DIE LINKE in Bremen veröffentlicht. Wir stellen ihn Ihnen ebenso zur Verfügung:
Wie bekämpft man den „Reformwiderstand“? –
Das ZEW-Mannheim als Psychodoktor
von Friedhelm Grützner
Wenn die Staatsmänner im antiken Griechenland nicht mehr weiter wussten, dann suchten sie Rat bei den Göttern. Im Apollotempel zu Delphi trafen sie auf die Pythia, welche ihnen auf dem Dreifuss thronend in dunkler Sprache das Orakel verkündete, das die Gegenwart deutete und Wege aufzeigte, um aktuelle Krisen zu meistern.
Wir leben allerdings nicht mehr im Altertum. Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) brachte es mit sich, dass in unseren säkularisierten Verhältnissen direkte göttliche Ratschläge nicht mehr so gefragt sind wie früher (wenn ich mal den aktuellen US-Präsidenten George W. Bush ausnehme), was aber nicht heißt, dass unsere Regierenden vom Bedürfnis nach Vergewisserung, autoritativer Deutung und Weisung „von oben“ völlig frei wären. Nur sind es heute nicht mehr die Seher und Propheten, die in ekstatischer Rede transzendente Wahrheiten verkünden, sondern die „Experten“, welche als „Sachverständige“ (oder „Wirtschaftsweise“) dem „Treiben der Welt“ enthoben im „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft hocken und von dort ihre priesterliche Funktion ausüben.
Die Bundestagswahlen 2005 machten deutlich, dass der als „Reformpolitik“ getarnte Sozialabbau und die einseitige Bevorzugung der Kapital- und Vermögensbesitzer inzwischen unter erheblichen Legitimationsdruck geraten ist. Vor allem die SPD musste für die AGENDA 2010 und Hartz IV seit 2003 bei den Landtagswahlen einen hohen politischen Preis zahlen und dazu noch drastische Mitgliederverluste hinnehmen. Was lag also näher, als dass ein exponierter Vertreter dieser Partei – der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück – die „Experten“ ersuchte, dieses für ihn nicht erklärbare Phänomen zu deuten. Er wandte sich dabei ausgerechnet an eines jener Wirtschaftsforschungsinstitute (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschungsinstitute [ZEW] in Mannheim), welche der AGENDA-SPD mit ihren doktrinären Ratschlägen überhaupt erst „die Suppe eingebrockt“ hatten. Heraus kam ein mit „Psychologie, Wachstum und Reformfähigkeit“ betitelter Forschungsbericht des ZEW Mannheim, der zusammen mit Vertretern der Universität Salzburg und der Ludwig-Maximilian-Universität München erarbeitet und im „Monatsbericht des BMF – April 2007“ auf den Seiten 43 – 55 veröffentlicht wurde.
Schon die Tatsache, dass mit der Erstellung des Forschungsberichts das ZEW Mannheim beauftragt wurde, ist methodisch zu beanstanden. Der Volksmund würde sagen: „Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht“. Es gehört zu den allgemein üblichen wissenschaftlichen Standards, dass Forscher zum zu erforschenden Gegenstand reflexiv Distanz halten. Diese reflexive Distanz liegt jedoch beim ZEW Mannheim nicht vor, denn es soll erklären, warum die von ihm an anderer Stelle so warm empfohlene Politik von weiten Kreisen der Bevölkerung hartnäckig abgelehnt wird und gleichzeitig Möglichkeiten aufzeigen, wie diese zukünftig besser zu „verkaufen“ ist. Der eigenen Interessenlage gemäß kann daher der vom ZEW vorgelegte Forschungsbericht nur apologetisch gefärbt sein, was den wissenschaftlichen Wert der Arbeit stark einschränkt.
Im Gegensatz zum neuzeitlichen Denken („Wir leben in einem Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“ [Kant]) setzt der Forschungsbericht die neoklassische Dogmatik als undiskutierbar voraus, was den Schreiber dieser Zeilen an jenen Stellen zu Heiterkeitsausbrüchen veranlasste, wo sie in ihren Schlussfolgerungen – soweit nachprüfbar – jeder empirischen Evidenz widerstreiten. Eingangs wird behauptet, dass die „Reformen auf Dauer weiten Kreisen der Bevölkerung einen Wohlstandzuwachs ermöglichen würden“ (S. 43). Die Formulierung „auf Dauer“ impliziert, dass es sich hier um keine empirische Zustandsbeschreibung, sondern um eine Prognose mit unbestimmtem Zeithorizont handelt. „Auf Dauer“ sollte es schließlich auch den Menschen im Realsozialismus besser gehen, bis dieselben schließlich meinten, siebzig Jahre warten, harren und hoffen seien genug. Jede Heilslehre, die auf bessere Zeiten in weiter Ferne verweist und damit aktuelles Leiden rechtfertigt, wird irgendwann einmal mit dem Problem der „Parusieverzögerung“ konfrontiert (Parusie = Wiederkunft des Herrn am Ende aller Tage). Das Christentum hat es hier einfacher – denn nach Matthäus 25, Vers 13 „kennen wir weder Zeit noch Stunde“ dieses kosmischen Ereignisses und die Wege Gottes sind bekanntlich unerforschlich. In der profanen Politik gelten dagegen andere Regeln. Außerdem ist der Satz in der vorliegenden Form empirisch nicht falsifizierbar und damit keine überprüfbare wissenschaftliche Aussage.
Auf S. 44 wird contra factum eine „Minderheit von Reformverlierern“ einer „Mehrheit der Reformgewinner“ gegenübergestellt. Nach dieser Logik gehören also die Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger, die seit Verkündigung der glorreichen AGENDA 2010 (und auch schon davor) mit stagnierenden oder sinkenden Realeinkommen vorlieb nehmen müssen, zu den „Gewinnern“ der Reformen. Aber was ist mit den Arbeitnehmern, deren Vollerwerbsplätze in Mini-Jobs zerlegt wurden, den Hartz-IV-Arbeitslosen und den als „Aufstocker“ bekannt gewordenen Alg-II-Bezieher im Niedriglohnbereich? Die wird uns doch wohl selbst das ZEW-Mannheim nicht als „Gewinner“ verkaufen wollen.
Zu welch abstrusen Ergebnissen diese „Gewinner“-Logik führt, verdeutlicht folgender Satz (S. 45): „Bestimmte Reformen – wie etwa die Einführung der >Rente mit 67< oder beschäftigungssteigernde Arbeitsmarktreformen – begrenzen Unsicherheiten und machen die Zukunft wieder berechenbar.“ Nun ja - mit ein wenig Wohlwollen kann man sagen, dass die de-facto-Rentenkürzung die „Unsicherheiten“ insofern „begrenzt“ und die „Zukunft wieder berechenbar“ macht, da sich jetzt jeder durchschnittliche Arbeitnehmer mental auf seine Altersarmut einstellen und vorsorglich schon einmal ein asketisches Leben einüben kann. Als rational vorausschauendes Wirtschaftssubjekt sollte er sich auch frühzeitig nach „Armentafeln“ in den Großstädten erkundigen, damit er weiß, wo es für ihn und Seinesgleichen später etwas zu essen gibt. Wie allerdings „beschäftigungssteigernde Arbeitsmarktreformen“ – ob und wieweit sie wirklich „beschäftigungssteigernd“ wirken, lasse ich hier unerörtert – „Unsicherheiten begrenzen“ und die „Zukunft wieder berechenbar“ machen sollen, ist mir schlicht schleierhaft. Denn wenn ich mir die vorgeschlagenen neoliberalen „Arbeitsmarktreformen“ anschaue, dann laufen sie auf eine Lockerung des Kündigungsschutzes und die Zunahme prekärer Beschäftigung hinaus, was für die jeweils Betroffenen eine geradezu existenzielle Verunsicherung ihrer gesamten Lebensumstände mit sich bringt (und sie beispielsweise als „rationale Egoisten“ von der Kinderzeugung abhält, womit sich allerdings das behauptete „demographische Problem“ verstetigt).
Und dann gibt es Passagen in diesem Forschungsbericht, wo der Leser nicht weiß, ob er mehr die Ignoranz der Autoren bestaunen oder sich eher über ihren Zynismus empören soll: „Typischerweise sind Verlierer von Reformen schon im Vorfeld identifizierbar, hingegen sind Gewinner (Menschen etwa, die aufgrund einer Arbeitsmarktreform in Zukunft einen Arbeitsplatz finden würden) nicht persönlich identifizierbar. Wenn die Verlierer ein Gesicht haben, die Gewinner aber nicht, erschwert das die Vermittlung einer Reform entscheidend“ [S. 47 – Hervorhebung von mir. F.G.]. Natürlich ist es schwierig, Personen, welche nur im Konjunktiv existieren, ein „Gesicht“ zu verleihen, während die „Verlierer von Reformen“ real unter uns weilen. Auch ist der Satz insofern fragwürdig, als Menschen immer ein „Gesicht“ haben. Auch jene „Gewinner“, die aus dem Alg-II-Bezug in einen Job wechseln, wo sie mit einem Hungerlohn von 4,15 Euro pro Stunde abgespeist werden, verfügen über ein „Gesicht“ und sind „persönlich identifizierbar“. Offensichtlich können sich nur Modellplatoniker aus der neoklassischen Schule „gesichtlose“ Menschen vorstellen, die als mathematische Abstraktionen den Ideenhimmel ihrer ganz speziellen Vorstellungswelt bevölkern.
Es gehört zu den Eigenarten der dem Neoliberalismus zugrunde liegenden neoklassischen Volkswirtschaftslehre, dass sie – der aristotelischen Scholastik des Mittelalters vergleichbar – ihre Rezepte rein deduktiv aus undiskutierbaren Axiomen (synthetischen Sätzen a priori) ableitet, ohne sich groß um die empirische Einlösung der so gewonnenen Schlussfolgerungen zu kümmern. Überraschenderweise stellen nun die Autoren zentrale Grundannahmen dieses Theoriengebäudes aufgrund experimentalpsychologischer Forschungsergebnisse zur Disposition. Sie verweisen dabei auf Erkenntnisse der „verhaltensorientierten Ökonomik“ (Behavioural Enonomics) von Daniel Kahneman und Vernon Smith, wo „von der strengen Rationalität des homo oeconomicus abgerückt wird“ sowie auf die „Prospekttheorie“ von Kahneman und Amos Tversky, welche „auf empirischen Beobachtungen (fußt) und nicht auf plausiblen Axiomen wie die traditionelle mikroökonomische Entscheidungstheorie“ (S. 45). Auch die reduktionistische Sichtweise des allein seinen Nutzen maximierenden homo oeconomicus, der lediglich entsprechender „Anreize“ bedürfe, um wie ein „pawlowscher Hund“ in der gewünschten Weise zu funktionieren, wird relativiert. „Ein zentrales Resultat der verhaltensökonomischen Literatur ist, dass menschliche Verhaltensweisen nicht von einer isolierten Eigennutzmaximierung getrieben werden, sondern zusätzlich Vergleiche mit den Nutzenniveaus der Mitmenschen eine maßgebliche Rolle spielen. Menschen verhalten sich reziprok, d.h. altruistisch oder egoistisch, wenn sie den Eindruck haben, wichtige Referenzpersonen handelten ebenso. Im Reformkontext ist beobachtbar, dass die wahrgenommene Gerechtigkeit einer Reform wichtiger für deren Akzeptanz sein kann als die Frage nach den vermuteten ökonomischen Folgen der Reform“ (S. 47). Dass Menschen nicht ausschließlich ihren Nutzen maximieren, sondern sich als moralische Subjekte auch wertrational verhalten, ist zwar in der allgemeinen abendländischen Philosophie eine so selbstverständliche Erkenntnis, dass sie schon fast trivial ist – aber offensichtlich bedürfen Ökonomen erst komplizierter experimentalpsychologischer Forschungsergebnisse, um hier wieder Anschluss zu gewinnen.
Selbstverständlich ist es begrüßenswert, wenn Wissenschaftler aufgrund empirischer Beobachtungen aus ihrem „dogmatischen Schlummer“ (Kant) erwachen. Allerdings muss man dann von ihnen auch erwarten, dass sie im Lichte der neu gewonnenen Erfahrungen ihre bisherigen Lehrmeinungen überprüfen. Dies gilt gerade für die neoklassische Volkswirtschaftslehre, die in ihrer streng logisch-deduktiven Architektur mit der Plausibilität der ihr zugrunde liegenden Axiome steht und fällt. Wenn also die „strenge Rationalität des homo oeconomicus“ nicht mehr gegeben ist und überdies Gerechtigkeitserwägungen die individuelle „isolierte Eigennutzmaximierung“ relativieren, dann fallen alle mit diesen Axiomen verbundenen deduktiven Schlussfolgerungen in sich zusammen. Denn schließlich gilt auch in der Wirtschaftswissenschaft der logische Grundsatz, wonach eine falsche Prämisse (hier der „isolierte nutzenmaximierende homo oeconomicus“) zu falschen Konklusionen führt. [1] Da aber die Autoren des ZEW-Forschungsberichts diesen logischen Schluss nicht ziehen, so ähneln sie den Kreationisten aus dem evangelikal-fundamentalistischen Spektrum, die trotz aller entgegenstehender empirischer Befunde weiterhin unverdrossen daran festhalten, dass Gott vor 6000 Jahren die Welt in sieben Tagen schuf.
Auch wenn es immerhin ein Fortschritt ist, wenn neoklassische Ideologen empirischen Untersuchungen näher treten, so methodisch fragwürdig bleibt der Erkenntniswert der daraus gewonnenen Ergebnisse. Allein die Formulierung „Wenn beispielsweise internationale Erfahrungen vorurteilsfrei (?) ausgewertet würden, ließe sich auf diese Weise der Widerstand gegen manche Anpassungen in den sozialen Sicherungssystemen mit der Zeit überwinden. Dies würde jedoch eine rationale (?) und unverzerrte (?) Auswertung verfügbarer Informationen bedingen, mit der nach den Erkenntnissen der Psychologie nur bedingt gerechnet werden kann“ (S. 46) ist in ihrer erkenntnistheoretischen Naivität atemberaubend. Denn hier wird eine völlig platte Widerspiegelungstheorie vorausgesetzt, welche von der passiven „vernehmenden Vernunft“ des „Experten“ ausgeht und dabei die gesamte Rationalitätskritik von Kant bis Popper unberücksichtigt lässt. Seit Kant wissen wir, dass Erkenntnisse subjektabhängig sind – d.h. beispielsweise, dass wir keine „objektiven Naturgesetze“ vorfinden, sondern diese nach a priori vorgegebenen anthropologischen Anschauungs- und Denkformen der „Natur vorschreiben“, während die „Dinge an sich“ unerkennbar bleiben. Wie viel mehr gilt dies für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, wo der Forscher selbst innerhalb des untersuchten Feldes agiert, Interessen vertritt, über „handlungsleitende Weltbilder“ (Max Weber) verfügt und in frameworks eingebunden ist. Diese methodischen Einschränkungen „objektiver“ Erkenntnisse gelten nicht nur für die neoklassischen „Experten“, sondern auch für ihre Kontrahenten aus der konkurrierenden keynesianischen Richtung. Aus diesem Grunde gibt es die Postulate der Wissenschaftsfreiheit und des Wissenschaftspluralismus, damit die unterschiedlichen Schulen sich in Kritik und Antikritik aneinander abarbeiten, um die Forschung insgesamt voranzubringen.
Die Thesen, welche die Autoren anhand der Behavioural Enonomics und der „Prospekttheorie“ vortragen, mögen empirisch durchaus sauber erarbeitet und auch interessant sein (vor allem da, wo sie die neoklassische Axiomatik widerlegen oder deren Gültigkeit einschränken). Die angeblich experimentell festgestellte Tatsache, „dass Verluste emotional stärker erlebt werden als Gewinne“, will ich nicht bestreiten. Und auch für die „Status-quo-Bias“-Theorie, wonach „bestimmte Zustände, die gänzlich zufällig zustande gekommen sein können, eine hohe Wertschätzung genießen, weil sie den Status quo darstellen“ (S. 45 f.), ist als Erklärung für den Alltagskonservativismus plausibel. Dieser Alltagskonservativismus ist insofern psychologisch verständlich, als die Menschen für ihre Lebensbewältigung stabiler und überschaubarer Strukturen bedürfen, die ihnen Orientierungen liefern, während sie sich in rasant verändernden gesellschaftlichen Situationen häufig kognitiv und emotional überfordert fühlen. Unmittelbar einleuchtend ist auch das experimentalpsychologisch ermittelte Ergebnis, wonach Studenten „sowohl ein(en) ungewöhnlich persönlich gestaltete(n) Brief zur Erläuterung der Studiengebühren als auch eine offenbar nicht ernst zu nehmende Mitsprachemöglichkeit … als unzulässige(n) Beeinflussungsversuch“ empfanden (S. 48).
Insgesamt stellt sich jedoch methodisch die Frage, ob die von den Behavioural Enonomics und den Vertretern der „Prospekttheorie“ herausgefundenen Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Strategien zur Verhaltensbeeinflusse umstandslos in soziale Prozesse eingespeist werden können. lassen. Die Psychologie (vor allem eine unter Laborbedingungen arbeitende) geht stets vom Individuum aus, während die Sozialwissenschaft das Interagieren gesellschaftlicher Gruppen und ihre Beziehungen zueinander analysieren. [2] Das „Labor“ isoliert zwingend den Probanden von allen gesellschaftlichen Einflüssen (Familie, Freundeskreis, Kollegenschaft, Medienkonsum usw. usw.), die seine politische Meinungsbildung und sein daraus resultierendes Verhalten determinieren. Es mag ja sein, dass „in einem Experiment zur Unternehmersteuerreform“ die „Personen für eine Reform, die Unternehmen betrifft, eher zu begeistern (!?) sind, wenn es gilt, >Verluste< (in Form von sinkenden Marktanteilen, Stellenabbau und sinkenden Investitionen zu vermeiden“) (S. 52) [was die Probanden auch erst mal glauben müssen! FG.] - aber wenn sie sich dann außerhalb des „Labors“ in ihren lebensweltlichen Bezügen wiederfinden und die allgemeine Berichterstattung verfolgen, wird sich die „Begeisterung“ schnell relativieren. Das „Labor“ ist immer die Ausnahme, die Interaktion innerhalb von peer-groups mit ihren jeweiligen Deutungsangeboten dagegen die Regel. [3]
Die vorliegende Studie wurde für das Bundesfinanzministerium angefertigt. Da es sich bei letzterem um eine politische Institution handelt, so verwundert es doch sehr, wie unpolitisch die Autoren die Dinge sehen. Ständig ist von „Experten“ die Rede, welche außerhalb sozialer Kontexte und politischer Konfliktlinien stehend ihren Rat erteilen und die „Reformwiderstände“ zu erklären suchen, womit sie ihr Thema ursächlich verfehlen. Das Verhältnis von „Wissenschaft“ und „Politik“ ist nun einmal eine komplizierte Angelegenheit, wobei Wissenschaftler häufig dazu neigen, ihren Einfluss (und ihre Wichtigkeit!!) im politischen Feld zu überschätzen. Jeder politische Akteur in einem demokratischen Gemeinwesen ist ganz elementar auf Mehrheiten angewiesen, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Die Vorstellung, diese Mehrheiten mit Rezepten aus der experimentellen Laborpsychologie erzielen zu können, ist schlicht und einfach naiv. Dies gilt übrigens auch für mediale Propagandakampagnen, die allenfalls kurzfristig wirken, weil ihr Manipulationscharakter schnell durchschaut wird und dann auf die Urheber zurückschlägt. Das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen hat dies eindrucksvoll bestätigt. Mehrheiten in einer pluralistischen Gesellschaft können nur gewonnen werden, wenn es der Politik gelingt, relevante Interessen ideeller und materieller Art im Kompromisswege so zu bündeln, dass daraus ein (möglichst kohärentes) Politikkonzept entsteht, das auch mehrheitsfähig ist. Die „Wissenschaft“ kann zwar gute Ratschläge geben – also politikberatend tätig sein -, aber sie kann für ihre Vorschläge keine Mehrheiten produzieren, und sie trägt für deren Umsetzung auch keine politische Verantwortung. Jeder Wissenschaftler wird sich zu Recht dagegen wehren, seine nach bestem Wissen und Gewissen erarbeiteten (richtigen oder falschen) Forschungsergebnisse einem Majoritätsvotum zu unterwerfen. Eine politische Konzeption dagegen steht und fällt mit ihrer Mehrheitsfähigkeit. Außerhalb ihrer – politisch nicht verantwortlichen – beratenden Tätigkeit sind Wissenschaftler nichts weiter als ein Teil der „räsonierenden Öffentlichkeit“ einer freien und egalitären Staatsbürgergesellschaft, wie übrigens der Verfasser dieser Zeilen auch. Von daher ist der elitär-dünkelhafte Duktus, den die „Experten“ gegenüber einer angeblich schlecht informierten und vorurteilsbehafteten Mehrheit der Bevölkerung anschlagen, völlig unangebracht.
Die unpolitische „Experten“-Sicht der Autoren des Forschungsberichts korrespondiert mit einem höchst fragwürdigen Demokratieverständnis. Als demokratisch nicht legitimierte und selbsternannte Elite führen sie sich wie platonische Philosophenkönige auf, die meinen, im Besitz der „reinen Wahrheit“ zu sein, aber leider vom „unwissenden Pöbel“ nicht verstanden werden. Es gehört zu meinen aus der Geschichtswissenschaft gewonnenen Grundeinsichten, dass der Neoliberalismus bei allen Geländegewinnen in den letzten Jahrzehnten stets seine Begrenzungen im allgemeinen und gleichen Wahlrecht (suffrage universel) finden wird – diesem Vermächtnis der nie in Kraft getretenen jakobinischen Revolutionsverfassung von 1793.
Der oberste demokratischen Grundsatz besagt, dass „alle Macht vom Volk ausgeht“, welches in Wahlen seine Abgeordneten benennt, die auf Zeit bestellt sind und die in seinem Namen wirken. Im altkonstitutionellen Staatsrecht hieß es: „Der Monarch herrscht, aber er regiert nicht“. „Herrschen“ bezog sich darauf, dass die monarchische Souveränität vor allem einen legitimationsspendenden Charakter für die Regierenden besaß. Aber so wie in früheren Zeiten die Krone als Ausfluss ihrer Souveränität jederzeit – begründungslos! – die Minister entlassen und durch neue ersetzen konnte, so kann heute „das Volk“ als „herrschender“ Souverän ähnlich verfahren und die in seinem Auftrag Regierenden per Wahlakt einfach nach Hause schicken, wenn ihm deren Taten nicht (mehr) gefallen. Die Minister im altkonstitutionellen System waren ihrem Souverän politisch verantwortlich und mussten sich bei ihren Vorhaben seiner prinzipiellen Zustimmung versichern. Unter demokratischen Bedingungen gilt dies analog für das Verhältnis von „Volk“ und Mandatsträgern. Und wenn „das Volk“ als Souverän eine neoliberale Mehrheit nach dem Geschmack des ZEW Mannheim nicht zulässt (und sogar noch den fürchterlichen Oskar samt seinen LINKEN in den Bundestag entsendet), dann lässt sich auch hier ein altkonstitutioneller Grundsatz sinngemäß anwenden: „The King can do not wrong!“ – wobei nur zu beachten ist, dass anstelle des „Königs“ das „Volk“ tritt.
Diesem Souverän bekunden die Autoren des Forschungsberichts allerdings wenig Respekt. Aus ihrer Sicht leidet nämlich die „allgemeine Öffentlichkeit“ darunter, dass sie „nicht über den Informationsstand der Experten verfüg(t) und daher möglicherweise Reformen aufgrund von falschen Einschätzungen über deren Konsequenzen ab(lehnt)“ (S. 46). Sie sei aus experimentalpsychologischer Sicht nicht zu einer „rationale(n) und unverzerrte(n) Auswertung verfügbarer Information“ in der Lage (ebd.). Darüber hinaus hätten „viele Menschen zu den lange bekannten Phänomenen wie Arbeitslosigkeit, demographischem Wandel oder Staatsverschuldung sich bereits vor langer Zeit Meinungen gebildet, so dass neue Ideen nicht mehr unvoreingenommen reflektiert werden“ (S. 53). Bei dieser behaupteten Ansammlung von Ignoranz und Unverstand – der nebenbei mit der neoklassischen Axiomatik vom vollständig informierten und rational handelnden homo oeconomicus überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist (s.o) – will der „Experte“ fast verzweifeln.
In historischer Perspektive stellen wir fest, dass sowohl die staatsinterventionistische Entwicklung im Wirtschaftsleben als auch die sozialstaatliche Expansion mit der sukzessiven Ausweitung des Wahlrechts und der gleichzeitigen Herausbildung eines (ökonomisch gesprochen) „politischen Massenmarktes“ verbunden war. Das suffrage universel legte nämlich stets implizit die Drohung nahe, dass allein auf Grund ihrer Anzahl die have nots die haves ganz demokratisch majorisieren können. Insofern war es nicht zufällig, dass ausgerechnet das autoritär regierte Deutschland mit seinem egalitären Wahlrecht zum Vorreiter in der Sozialgesetzgebung wurde. Und in England wurden die ersten Sozialgesetze gegen den Widerstand des konservativ beherrschten Oberhauses von der Regierung Asquith in einer Wahlschlacht unter der Parole „Das Volk gegen die Herzöge“ durchgepaukt.
In seiner historischen Genese beruht das europäische Sozialmodell auf einer Mixtur aus herrschaftslegitimatorischen Bedürfnissen, politischem Machtkalkül und ethischen Überzeugungen. Diese genuin politischen Faktoren kommen natürlich in der mathematischen Modellwelt der Neoklassiker nicht vor. Sie sind allenfalls störende „externe Effekte“, die es ausgiebig zu bejammern gilt. Entsprechend hilflos fallen die Ratschläge der „Experten“ aus, wenn es darum geht, wie man den „Großen Lümmel“ doch noch zur Räson bringen oder zumindest übertölpeln kann. So wird in einem der o.g. psychologischen Laborexperimente am Beispiel der Mehrwertsteuererhöhung untersucht, „ob die wahrgenommene (?) Unvermeidbarkeit (?) einer Reform Personen dazu bewegt, Reformpläne zu akzeptieren. Die Ergebnisse zeigen, dass standhaft vertretene Reformpläne und eine damit einhergehende Wahrnehmung (?) der Bürger, dass die Reform unvermeidbar (?) ist, zu höherer Akzeptanz führen. Personen beurteilen >sichere< Reformen positiver als >unsichere< Reformen, um kognitive Dissonanzen zu vermeiden“ (S. 50).
Die hier referierte wissenschaftliche These ist sehr voraussetzungsreich. Denn sie unterstellt, dass die Probanden zuvor von der „Unvermeidbarkeit“ der Reform kognitiv überzeugt worden sein müssen (oder es schon sind). Überzeugungen beruhen jedoch auf einer intellektuellen Leistung des erkennenden Subjekts und nicht auf seiner rezeptiven „Wahrnehmung“. Hätten sich beispielsweise für das Laborexperiment die Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel und Gustav Horn als Probanden zur Verfügung gestellt, dann wäre das Ergebnis sicherlich etwas anders ausgefallen.
Das angeführte psychologische Laborexperiment kann natürlich auch als Anleitung zur Gehirnwäsche verstanden werden. Denn ebenso experimentell erwiesen ist, dass man Leute im isolierten Raum unter Hinweis auf den „Expertenstatus“ nur intensiv genug bearbeiten muss, damit sie am Ende die unsinnigsten Dinge für wahr halten und auch die ethisch zweifelhaftesten Anweisungen der „Experten“ befolgen (siehe das Milgram-Experiment). Und was die Akzeptanz „standhaft vertretener Reformpläne“ angeht, so ist die These im politisch-sozialen Raum bei Wahlen eindeutig widerlegt worden. Denn je „standhafter“ beispielsweise Gerhard Schröder seine AGENDA 2010 vertrat, desto mehr liefen der SPD die Wähler weg. Und auch die „standhafte“ Angela Merkel (und mit ihr viele „Experten“) schaute am Wahlabend 2005 recht „dumm aus der Wäsche“, als sich das mickrige CDU-Ergebnis abzeichnete.
Die Verachtung der „Experten“ gegenüber dem „mündigen Bürger“ kommt vor allem in den beiden letzten Absätzen (S. 54) zum Ausdruck. Leicht beleidigt heißt es dort: „Schlecht schneiden die kommunikativen Wirkungen von Experten ab. Die Befragten reagieren hier mit Reaktanz und Widerstand. Vor allem sind die Personen mit schon festen Meinungspositionen (also die „mündigen Bürger“. F.G.) Beeinflussungen von Experten gegenüber verschlossen (oh, wie angenehm wäre doch aus „Expertensicht“ eine zu manipulierende „Knetmasse“ leichtgläubiger und autoritätsfixierter Menschen. FG.). Vermutlich haben die Befragten die Erfahrung gemacht, in den letzten Jahren mit vielen und teilweise verschiedenen Expertenmeinungen konfrontiert worden zu sein, so dass sie diesen Meinungen nur noch mit Skepsis gegenübertreten.“ Da kann man nur sagen: der Wissenschaftspluralismus ist wirklich eine ärgerliche Sache. Wenn „verschiedene Expertenmeinungen“ miteinander konkurrieren, dann werden die Leute nur dazu verführt, selbständig zu denken. Leider gibt es in den Wirtschaftswissenschaften noch kein „allerhöchstes Lehramt“, obwohl der Sachverständigenrat der „Wirtschaftsweisen“ auf dem besten Wege ist, ein kollektiver „Ratzinger“ zu werden.
Ich will es bei den eingeschobenen Kommentaren bewenden lassen, denn diese Mischung aus „Experten“-Arroganz und naiver Chuzpe macht mich ansonsten einfach sprachlos. Daher nur noch abschließend die Mahnung von Karl R. Popper an all diejenigen, die meinen, im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein: „Sicheres Wissen ist uns versagt. Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen. Diese Einsicht mahnt zur intellektuellen Bescheidenheit. Im intellektuellen Bereich - besonders in der Philosophie - gilt, trotz Goethe, >nur die Lumpe sind unbescheiden<" (Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, 3. Auflage, Tübingen 1969, S. XXV).
Der Forschungsbericht schließt mit einem in seiner Einfalt würdigen Allgemeinplatz: „Wenn Personen eine allgemein positive Einstellung zur Arbeit der Regierung haben, bewerten sie auch die Details von deren Reformarbeit positiver. Reaktanz und Widerstand lassen sich durch eine optimistische Erwartungshaltung und Vertrauen in die Regierung ebenfalls reduzieren.“ Dahinter steht die Hoffnung, dass es den „Experten“ doch noch gelingen möge, die renitenten „mündigen Bürger“ an ihren „beschränkten Untertanenverstand“ zu erinnern, damit sie der hochwohllöblichen Bundesregierung das ihr gebührende „kindliche Vertrauen“ (so sprach man zu Kaiser Wilhelms Zeiten) entgegenbringen. Der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wird den letzten Satz wohl mit großem Behagen gelesen haben. Denn irgendwo müssen die in den Forschungsbericht investierten Steuergroschen doch einen Nutzen erbracht haben.
[«1] Ein weiterer schöner Satz (S. 50), der die eigene Axiomatik widerlegt, lautet: „Die Hoffnung, dass Arbeitnehmer mittels rationaler Erwartungen eine langfristige Steigerung ihres permanenten Einkommens vorwegnehmen und unmittelbar ihren Konsum steigern, kann für Arbeitsmarktreformen … empirisch nicht untermauert werden.“ Aber da nicht sein kann, was nicht sein darf, so wird dazu ausgeführt, dass „solche Reformen immer Gefahr laufen, mit >J-Kurven-Effekten< verbunden zu sein, also mit einer Dämpfung des Wachstums, bevor sich (irgendwann einmal! F.G.) positive Folgen einstellen“. Unsere Neoklassiker sind offensichtlich unter die Propheten gegangen.
[«2] In den Geschichtswissenschaften (ganz gleich, ob sie sich als Geistes- oder Sozialwissenschaft verstehen) gilt es geradezu als degoutant, zur Erklärung komplexer gesellschaftlicher Phänomene – beispielsweise des Nationalsozialismus – mit Rezepten aus der Psychokiste zu arbeiten.
[«3] Die Bedeutung des „persönlichen Umfelds“, der peer groups sowie Rolle des „interpersonellen Meinungsaustauschs“ für die politische Urteilsbildung wird auch von den Autoren eingeräumt, wenn gleich sie methodisch naiv solche sozialen Prozesse für „Informationsverzerrungen“ verantwortlich machen.