Zur Aktualität der Kritik an Axiomen der neoklassischen Theorie

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Der neoliberale Umbau der Gesellschaft ist langfristig angelegt, wird mit dem Anspruch objektiver Notwendigkeit durchgesetzt und vor allem ordnungspolitisch begründet. Kritik an der daran ausgerichteten Politik genügt daher nicht. Ebenso wichtig ist es, das marktgläubige, ökonomische Weltbild kritisch zu hinterfragen und als Legitimation zu entwerten. Hans-Peter Büttner hat dazu im Blog „Oeffinger Freidenker“ einen Beitrag geleistet. Mit seinem Text „Die Nutzlosigkeit der neoklassischen Nutzenlehre – eine Kritik der Grundlagen der subjektiven Werttheorie“ stellt er ein zentrales Element neoklassischer Ideologie in Frage. Der Wert dieser Kritik für tagesaktuelle Diskussionen kann anhand von konkreten Beispielen verdeutlicht werden. Kai Ruhsert

Büttners Ausgangspunkt sind die Gossenschen Gesetze:

„Das Erste Gossensche Gesetz (auch Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen oder Sättigungsgesetz) besagt, dass der Konsum eines Gutes mit zunehmender Menge einen immer geringeren Zusatznutzen (Grenznutzen) stiftet.“
Quelle: Wikipedia

(Beispiel: das erste Glas Wasser mag gut schmecken, jedes weitere bereitet stets weniger Genuss).

Daran interessiert uns zunächst nur der Begriff des Grenznutzens, der von großer Bedeutung für das Zweite Gossensche Gesetz ist: „Ein (privater) Haushalt befindet sich demnach in einem Haushaltsoptimum, wenn seine Grenznutzen für alle Güter, jeweils geteilt durch den Preis des Gutes, übereinstimmen. Andernfalls könnte er seinen Nutzen steigern, da sich eine Umstrukturierung des Konsums so vornehmen ließe, dass eine Ausgabenreduzierung bei einem Gut weniger Nutzeneinbuße als eine entsprechende Ausgabenerhöhung bei einem anderen Gut Nutzenzuwachs bedeutet.“ (Quelle dito)

Aus diesen Axiomen werden theoretisch fragwürdige und empirisch nicht abgesicherte Postulate und Modelle abgeleitet, um den so genannten „Strukturreformen“ den Anschein objektiver Notwendigkeit zu verleihen. Dazu zwei Beispiele:

Die Politik bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen, und begründet dies mit Annahmen, die aus der Nutzentheorie abgeleitet sind

Die Mehrheit der deutschen Ökonomen fordert eine umfassende und tiefgehende Deregulierung des Arbeitsmarkts. Arbeitslosigkeit in größerem Umfang wird gedeutet als Ergebnis der Störung von Marktkräften: „Am Arbeitsmarkt wird ein Anbieter unterstellt, der sich in der komfortablen Situation befindet, auf der Basis seines eigenen Kosten-Nutzen-Kalküls zu entscheiden, in welchem Ausmaß er Arbeit anbietet. … Der Anbieter der Ware Arbeit kann sich also den Luxus leisten, im wahrsten Sinne des Wortes die Lust an der Arbeit zu verlieren. Demnach liegt die Entscheidungssouveränität für das Ausmaß der Arbeit (bzw. der Arbeitslosigkeit, KR) ausschließlich beim Anbieter der Arbeit.“ [*1]
Unter der Voraussetzung unbehinderter Marktkräfte habe der Arbeitsuchende die freie Wahl zur Maximierung des persönlichen Nutzens: Er könne auf einem hohen Lohn bestehen und entscheiden, dass ihm Freizeit wichtiger als Erwerbsarbeit für weniger Geld sei. Wolle er jedoch unbedingt arbeiten, dann brauche er die Freiheit, seinen Lohnanspruch so weit zu verringern, bis er einen Arbeitgeber finde. Kollektive Lohnvereinbarungen (z.B. Mindestlöhne oder Tarifverträge) behinderten den Arbeitsuchenden bei der Maximierung seines Nutzens. Mehr noch: „Weil …Arbeitslosigkeit freiwillig gewählt worden ist, sind auch sozialstaatliche Leistungen oder gar eine Beschäftigungspolitik völlig sinnlos.“ [*1]

Grundlage dieser Politikberatung ist eine „Ideologie, die sich bei der Deutung der Ursachen der Arbeitslosigkeit nur auf die Suche nach marktinkomformem Fehlverhalten der Beschäftigten sowie der Arbeitslosen begibt.“ [*1] Doch die „Fiktion (von der freien Entscheidung der Arbeitsuchenden zur Maximierung ihres persönlichen Nutzens, KR) steht im Widerspruch zu realen Lage der Beschäftigten in der Arbeitswelt. (…) Die harte Wirklichkeit ist: Die existenziell von der Erwerbsarbeit Abhängigen bieten ihre Arbeit zu jedem Lohnsatz an. Die Nachfrage nach Arbeit ist gegenüber Lohnveränderungen unelastisch.“ [*1]
Der Arbeitsmarkt unterscheidet sich grundsätzlich von Güter- und Kapitalmärkten: „Es ist ein Grundirrtum der Neoklassik, zu unterstellen, über die Höhe der Beschäftigung und spiegelbildlich der Arbeitslosigkeit würde auf den von allen anderen Märkten separierten Arbeitsmärkten entschieden. Sind die Gewinnerwartungen auf den Gütermärkten und Kapitalmärkten mangels Nachfrage schwach, oder lassen sich auf den internationalen Kapitalmärkten höhere Renditen als durch die Produktion erzielen, dann können die Löhne noch so sehr sinken: Eine Zunahme der Beschäftigung ist nicht zu erwarten. Der Arbeitsmarkt spielt keine Rolle, vielmehr wird auf den Güter- und Kapitalmärkten der Bedarf an Arbeitskräften definiert. … Wird unter dieser Konstellation getreu der neoklassischen Doktrin der Lohn gesenkt, dann kann wegen des Rückgangs konsumtiver Nachfrage auf den Gütermärkten die Nachfrage nach Arbeit zurückgehen.“ [*1]

Das trifft zumindest für Länder wie Deutschland zu, in denen die von der Binnennachfrage abhängige Wirtschaft den weitaus größten Teil der Arbeitsplätze stellt. Dass der eingeschlagene Weg nicht zum behaupteten Ziel, der Senkung der Arbeitslosigkeit, führen wird, scheint den Handelnden bewusst zu sein: „Es gibt kein durchgerechnetes neoliberales Modell, in welchem Ausmaß die Löhne sinken müssten, damit diese Arbeitslosigkeit verschwindet.“ [*1]

Ein soziales Sicherungssystem (die Arbeitslosenversicherung) wird ohne schlüssige, makroökonomische Begründung zerstört: „Nicht die Arbeitslosigkeit wird bekämpft, sondern der Arbeitslose, der einen bitteren Preis für den Verlust seines früheren Arbeitsplatzes zahlen muss. Mit Hartz IV ist eine kurze Leiter des sozialen Abstiegs aufgestellt worden. Die hoch motivierte und engagierte Bankfachfrau zum Beispiel, die ihren Job bei einer Großbank gegen ihren Willen verloren hat und ein Jahr erfolglos Bewerbungen schreibt, muss am Ende damit rechnen, als Servicekraft im Niedriglohnsektor zu landen – ohne Chance, diesem irgendwann wieder zu entkommen. (…) Mit einem äußerst weiten Begriff von Zumutbarkeit wurde der Marsch vormals hoch qualifizierter Arbeitskräfte in den Niedriglohnsektor erzwungen. (…) Die Politik konzentriert sich darauf, deren Vermittlungswillen auch unter der Bedingung von Billigarbeit zu erzwingen.“ [*1]
Die Nutzentheorie hilft, diese Politik zu legitimieren.


Die Durchsetzung des prinzipiellen Vorrangs für den Markt

Nicht nur die neoklassischen Vorstellungen über die Entscheidungsspielräume von Arbeitsuchenden und den Einfluss der Lohnhöhe auf die Zahl von Arbeitsplätzen kollidieren mit der Realität. Auch das theoretische Modell des Homo oeconomicus (Quelle: Wikipedia), das eine zentrale Rolle für die ordnungspolitischen Vorstellungen der Mehrheit der Ökonomen spielt, ist fragwürdig. Rogall charakterisiert dieses Modell u.a. durch die folgenden Punkte:
Quelle: Holger Rogall [PPT – 852 KB]

  • Alle Wirtschaftsakteure (Konsumenten und Produzenten) verhalten sich eigennutzstrebend (nutzen- und gewinnmaximierend). Sie bewerten alle Alternativen an Hand des eigenen kurzfristigen Nutzens (also ökonomisch zweckrational).
  • Alle Wirtschaftsakteure haben die gleichen Ausgangsbedingungen (Fähigkeiten, Bildung, Macht usw.) und verfügen über alle notwendigen Informationen (Wissen), um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
  • Die gesellschaftliche Wohlfahrt wird ausschließlich aus den Präferenzen der Akteure abgeleitet („denn nur jeder einzelne kann wissen, was für ihn am besten ist“).

Daraus werden weit reichende Schlussfolgerungen gezogen:

  • Gesellschaftliche Ziele jenseits der Interessen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder existieren nicht.
  • Eine reine Marktwirtschaft (ohne Staatseingriffe) führt zum Gesamtwohl. Forderungen nach einem Sozialstaat sind abzuwehren.
  • Staatliche Einflussnahme ist überflüssig.

(Der oben angegebene Link enthält auch eine Zusammenfassung der Kritik an diesem Modell sowie eine kurze Liste mit weiterführender Literatur.)

Der Homo oeconomicus liefert somit den ideologischen Hintergrund für

  • den zuweilen blinden Eifer, Marktkräfte zu entfesseln – auch dort, wo diese sich makroökonomisch und gesamtgesellschaftlich fatal auswirken
  • die Weigerung, grundsätzliches Marktversagen wahrzunehmen
  • die Verdrängung des Staates aus immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens (z.B. die Demontage des Sozialstaats, die Kampagnen zur Privatisierung öffentlichen Eigentums oder die Propagierung makroökonomischer Untätigkeit).

Nur das gedankliche Konstrukt der Nutzentheorie ermöglicht es, dem Homo oeconomicus ein ökonomisch-zweckrationales Verhalten zu unterstellen. Durch ihre Widerlegung wird ein in der praktischen Politik wirkungsmächtiges, neoklassisches Modell obsolet.

„Die Nutzlosigkeit der neoklassischen Nutzenlehre“


[*1] Kassensturz, Rudolf Hickel, ISBN 13: 978 3 498 02982 1