Jobwunder in Ostdeutschland?
Euphorische Stimmungsmache: Die in der Sommerperiode von der Presse gern lancierten Schlagzeilen-Knüller sind diesmal um die Voraussage eines Jobwunders in Ostdeutschland bereichert worden, das mit über 1 Mio. neue Stellen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für die Zeit bis 2020 vorausgesagt wurde.
Starke Vereinfachungen des Sachverhalts sorgen seitens der Presse für den gewünschten Nachrichten-Hit. Was ist tatsächlich an dieser „Vision“ dran?
Ein Kritischer Kommentar von Karl Mai.
Zunächst ist es Fakt, dass es ein Auftragsgutachten für das DIW gibt, das schon im März 2007 datiert und erst jetzt vor der Presse bekannt gegeben wurde, und zwar eindrucksvoll durch den Bundesminister Tiefensee höchst persönlich.
Doch der exakte Wortlaut der Studie ist nüchterner. Danach könnte mit ca. 1 Million neue Jobs bis 2020 in Ostdeutschland gerechnet werden, wenn „die richtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen“ speziell für Ostdeutschland wirksam sind.
Der entscheidende Passus in der Studie lautet:
„Die dargestellten Projektionen zeichnen allerdings lediglich einen möglichen Entwicklungspfad an. Dieser Entwicklungspfad ist zwar realistisch, aber er ist nicht per se wahrscheinlicher als andere denkbare Entwicklungspfade. Inwieweit das beträchtliche Beschäftigungspotenzials von jährlich nahezu 75 000 neue Jobs im Dienstleistungssektor (Ostdeutschlands) auch tatsächlich erschlossen wird, hängt entscheidend von richtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in Deutschland und speziell für Ostdeutschland ab.“ (S. 153) Also eine Projektion, die nicht wahrscheinlicher ist als andere – welche pressewirksame neue Errungenschaft?
Diese Weichenstellungen sind von vornherein nicht voll wirksam. Die Studie vermittelt daher eine Reihe von Empfehlungen an die Politik, die umzusetzen erhebliche Anstrengungen erfordern würde. Es geht dabei letztlich um das Problem, in einer Großregion mit schrumpfender Wohnbevölkerung und sinkendem Arbeitsangebot der Altersgruppe Erwerbsfähiger noch die Einrichtung von jährlich 75.000 neuen Stellen im privaten Dienstleistungsbereich zu ermöglichen, während auch der staatliche Dienstleistungsbereich noch immer rückläufig ist.
Zum Verfahren der Projektionen ist zu bemerken: Zunächst wurde die gesamtdeutsche Entwicklung eingeschätzt und danach die ostdeutsche abgegrenzt. Gesamtdeutsch wird davon ausgegangen, dass zwischen 2004 und 2020 1.250 Tsd. Beschäftigte im Verarbeitenden Gewerbe abgebaut werden, im Bergbau/Energie-Sektor 134 Tsd. Arbeitsplätze verloren gehen, dafür im Baugewerbe 413 Tsd. Arbeitsplätze zunehmen. Der gesamte deutsche Produktionsbereich schrumpft also saldiert um 971 Tsd. Beschäftigte.
Im Dienstleistungsbereich soll dagegen die Zunahme der Beschäftigung 5.316 Personen erreichen. In der gesamten Wirtschaft wird also mit einem Plus von lediglich 4.000 Tsd. Arbeitsplätzen gerechnet. (DIW-Studie, Tabelle 9-3)
Die „Bildzeitung“ bringt jedoch unbekümmert eine Schlagzeile über „5 Mio. neue Stellen“ (am 25. Juli, S. 1)
Für Ostdeutschland (m. Berlin) wird ein Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor im Jahr 2020 in Höhe von 1.106 Tsd. Beschäftigten abgegrenzt, d.h. ca. 23,6 % des projizierten gesamtdeutschen Zuwachses in diesem Sektor. Von diesen 1.106 Tsd. Beschäftigten entfallen auf Berlin 459 Tsd. und auf die NBL (o. Berlin) 647 Tsd. neue Arbeitsplätze im gesamten privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich. (Tab. 9-5)
Mit 41,5 % Anteil an den neuen Dienstleistungsarbeitsplätzen in Ostdeutschland entfällt auf Berlin bis zum Jahre 2020 ein hauptstädtisch bedingter Löwenanteil. Demgegenüber haben die fünf neuen Bundesländer (NBL) als Flächenländer nur mit weiteren 647 Tsd. im regionalen Dienstleistungsbereich zu rechnen – eine Projektion bis 2020, deren Höhe vom DIW als „nur durchschnittlich“ bewertet wird. (S. 152)
Entwicklung der Einwohnerzahlen in Ostdeutschland bis 2020 | 2004 | 2020 | % |
---|---|---|---|
Berlin | 3388 | 3531 | 4,2 |
Brandenburg | 2568 | 2720 | 5,9 |
Mecklemburg-Vorpommern | 1720 | 1652 | -4,0 |
Sachsen | 4296 | 4079 | -5,1 |
Sachsen-Anhalt | 2494 | 2236 | -10,4 |
Thüringen | 2355 | 2223 | -5,6 |
NBL o. Berlin | 13433 | 12910 | -3,9 |
Quelle: Auszug aus Tabelle 9-4 der DIW-Studie
Das große „Jobwunder“ geht damit an den NBL eigentlich vorbei – entgegen manchen euphorischen Pressestimmen auch im Osten. Gemäß DIW-Angaben werden in Ostdeutschland bis 2020 die Einwohnerzahlen wie folgt zurückgehen:
Auf dem Hintergrund dieser Projektion der Bevölkerungsabnahme um 523 Tsd. Einwohner kann eine Zunahme der Jobs für die ostdeutschen Flächenländer allein im gesamten Dienstleistungsbereich um 647 Tsd. nur möglich werden, wenn ein ebenfalls hoher Jobabbau im Produktionssektor Ost eintritt, wobei auch ein kalkulierter Rückgang der Beschäftigung im staatlichen Dienstleistungsbereich der NBL um 79 Tsd. Noch beachtlich ist. (Tab. 9-5)
Allerdings ist der Produktionssektor Ost auch immer die Vorbedingung für einen produktionsnahen Dienstleistungsbereich – was auf eine widersprüchliche Sichtweise beim DIW hindeutet.
Wie man sieht, bleibt nach Betrachtung der tatsächlichen Aussagen in der Studie wenig übrig, was die euphorisierte Stimmung rechtfertigt.