Zur Reform des dualen Bildungssystems
Nahezu alle internationale Untersuchungen, zuletzt der UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz stellen fest, dass das deutsche Schulsystem zu den sozial ungerechtesten vergleichbarer Staaten gehöre, weil es viel zu früh selektiere und Kinder aus sozial schwachen Familien benachteilige. Da die Abschaffung des dreigegliederten Schulsystems zugunsten einer integrierten Schule als ein Tabuthema gilt, wird nunmehr vermehrt über die Zukunft der Hauptschulen und ihrer Reform debattiert. Der bayerische Städtetag befasste sich aktuell mit einer Zusammenlegung von Real- und Hauptschule als zehnjähriges Schulmodell, wie das etwa auch von Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär a.D. vorgeschlagen wird. Eine erfolgreich abgeschlossene Berufsausbildung in Kombination mit einer Zugangsberechtigung zu Hochschulen ist ein weiterer Vorschlag. Von Christine Wicht.
Die Anstöße zur Schulreform gehen zunehmend von den Kommunen aus
Der bayerische Städtetag berichtet in der aktuellen Juli-Ausgabe 3/2007 über den Hauptschulkongress, auf dem Ziele für eine Hauptschulreform in Bayern vorgestellt wurden. Der bayerische Kultusminister Siegfried Schneider beabsichtigt, die Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss kurzfristig zu halbieren, indem alle Jugendlichen für eine Berufsausbildung qualifiziert werden. Darüber hinaus soll Hauptschülern der mittlere Bildungsabschluss ermöglicht werden. Mit diesen Reformen soll eine stärkere berufspraktische Orientierung in Kooperation mit Berufsschulen, Betrieben und Maßnahmeträgern angestrebt werden. Der Schulminister möchte die Pädagogik der Hauptschule von Grund auf ändern, indem Unterrichtspläne stärker auf die einzelnen Schüler eingehen und diese besser fördern sollen. Den Rahmen für die neue Pädagogik soll ein flächendeckender, bedarfsorientierter Ausbau der Ganztagsschule bieten. Diesbezügliche Gesetzesänderungen sind zum 1. August 2008 vorgesehen. Die Frage, ob der Freistaat Bayern auch bereit ist, das vom Städtetag geforderte Sonderinvestitionsprogramm für die Hauptschulen aufzulegen, ist noch offen. Von Seiten des Staates werden Mehrkosten von ca. 175 Millionen Euro kalkuliert, aus kommunaler Sicht sind die Kosten eher bei 600 Millionen Euro anzusetzen. Der Vorsitzende der Bayerischen Städtetages Hans Schaidinger sagte: „Wer bessere Bildungschancen will, muss konsequenter Weise auch viel Geld in die Hand nehmen. Aber Bildungsinvestitionen zahlen sich mit Zins und Zinseszins aus, weil in einer globalisierten Welt gut ausgebildete Menschen der wichtigste „Rohstoff“ sind“. Seiner Ansicht nach ist das Ziel des Kultusministers gut, die Umsetzung sei aber mangelhaft.
Eine Regelschulzeit von 10 Jahren, und die Anerkennung von Ausbildungsberufen als Eingangsvoraussetzungen zu einem Studium, wären gute Ansätze, um künftigen Generationen neue und gerechtere Chancen bieten zu können. Dieses Modell kann aber nur erfolgreich sein, wenn die Bereitschaft der Betriebe zur Ausbildung wieder steigt und wenn die Strukturen zwischen einer klassischen Berufsausbildung und der akademischen Ausbildung durchlässiger werden.
Die Zukunftsfähigkeit des Deutschen Bildungssystems sichern
Catenhusen hat für das Netzwerk Bildung der Friedrich Ebert Stiftung eine politische Stellungnahme zum Thema „Die Zukunftsfähigkeit des Deutschen Bildungssystems sichern“ [PDF – 140 KB] verfasst. Für Catenhusen ist die berufliche Bildung ein zentraler Teil unseres Bildungssystems und eine zentrales Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik. Das duale Bildungssystem galt und gelte auch heute noch als Stärke des deutschen Bildungs- und Qualifizierungssystems. Ein entscheidender Vorteil dieses Systems sei die hohe Übergangsquote junger Menschen aus der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt, was im internationalen Vergleich mit einer geringeren Jugendarbeitslosigkeit verbunden sei. Ebenso leiste das duale Bildungssystem einen entscheidenden Beitrag zur Qualifikation der Beschäftigten, die maßgeblich für die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft seien. Catenhusen hat aufgezeigt, dass das duale Bildungssystem sich in einer kritischen Entwicklung befinde, die eine Reform der Strukturen notwendig mache:
- Anhaltende Probleme bei der Bereitstellung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebotes im Dualen System
- weniger als die Hälfte der Schulabgänger eines Jahrgangs wechseln direkt in die duale Berufsausbildung
- ein anhaltender Strukturwandel der deutschen Wirtschaft hin zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft
- die wachsende Internationalisierung des Arbeitsmarktes und die EU-Perspektive eines europäischen Bildungsraumes
Catenhusen empfiehlt Reformanstrengungen zur Verbesserung der Berufsausbildung, die auf einer grundlegenden Reform der schulischen Ausbildung bis Klasse 10 aufbauen. Damit soll die Stärkung der Berufsausbildungsreife und die Halbierung der Schulabbrecherquote erreicht werden. Schülern mit Migrationshintergrund soll eine besondere vorschulische und schulische Förderung zukommen. Da der Realschulabschluss de facto zum „Durchschnittsbildungsniveau“ geworden ist, soll er zum Regelabschluss für alle Jugendlichen nach der Klasse 10 werden, eine Auflösung von Real- und Hauptschule als eigenständige Schulform wäre seiner Ansicht nach sinnvoll. Der geplante Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) sollte als eine gemeinsame Bezugsebenen definiert werden, die eine grenzübergreifende Einordnung von Qualifikationen aller Bildungsbereiche ermöglichte. Mit dem europäischen Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung (ECVET) soll die Mobilität und Flexibilität von Lernenden auf ihrem Berufsbildungs- und Karriereweg innerhalb der europäischen Bildungssysteme erleichtert und die Vergleichbarkeit, Transferierbarkeit und wechselseitige Anerkennung von Qualifikationen verbessert werden. Es sei nach Meinung von Catenhusen im deutschen Interesse, die Gleichwertigkeit der verschiedenen Bildungsgänge des deutschen Bildungssystems angemessen wiederzugeben. Der Vorschlag der EU-Kommission zur Einführung eines europäischen Qualifikationsrahmens stelle keinen Anschlag auf das duale Bildungssystem in Deutschland dar, seiner Meinung nach eröffnet dieser vielmehr Chancen für Reformen auf nationaler Ebene. Die EU würde auf dem Feld der beruflichen Bildung keine Harmonisierungskompetenz besitzen, sie ginge von der Perspektive einer „alternierenden Berufsausbildung“ aus, also einem längerfristigen Nebeneinander von vorrangig beschäftigungsbezogener oder vorrangig schulischer Berufsbildung in Europa aus.
Aufgrund der fortschreitenden Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und des Arbeitsmarktes fordert Catenhusen eine international ausgerichtete Bildung. Aus diesem Grunde müsse Deutschland eine konstruktive Haltung im Umgang mit dem geplanten europäischen Bildungsrahmen (EQF/EQR) und dem geplanten europäischen bildungsbereichsübergreifenden Punktesystem ECVET (European Credit System for Vocational Education and Training ) einnehmen. In die Bewertungskritierien des ECVET gehen ein:
- Dauer der Ausbildung
- Art der Ausbildung
- Ziele und/oder Ergebnisse der Ausbildung
- erforderliche Kompetenzen, um bestimmte Tätigkeiten ausüben zu können
- Position einer Qualifikation in der Berufshierarchie
- Einordnung von bestehenden Niveaus aufgrund von Entsprechungsnachweisen
Für Catenhusen zielt die Initiative der EU-Kommission zur Förderung von Mobilität, von lebenslangem Lernen und verstärkter Kooperation in der beruflichen Bildung auf die Schaffung eines europäischen Bildungsraums ab. Darin bestünde auch eine Chance die weitgehende Trennung von höherer Allgemeinbildung und Berufsbildung aufzubrechen, die jeweils erworbenen Qualifikationen können transparent und vergleichbar gemacht werden, was die Übergänge zwischen beiden Bildungsbereichen erleichtere. Die Berufsausbildung könnte auch Ausgangspunkt für den Erwerb der Fachhochschulreife werden, orientiert an der österreichischen Berufsmatura mit dem Ziel der Erlangung der allgemeinen Hochschulreife. Dafür würde eine bundesweite Strategie der Anerkennung von Ausbildungsleistungen in der beruflichen Bildung als Module in Hochschulstudiengängen notwendig sein. Durch die Einführung des Bachelor-Studiengangs würde sich an Fachhochschulen die Chance bieten, ein System integrierter dualer BA-Studiengänge zu schaffen, die auch duale Berufsausbilder- und Weiterbildungsgänge und schulische Berufsausbildung ersetzen könnten, die derzeitig nur Abiturienten vorbehalten sind. Für ihn geht es um ein modulares Ausbildungskonzept, einerseits im Übergangssystem erworbene Qualifikationen in der Berufsausbildung anerkennungsfähig zu machen, und dass andererseits die Kompetenzen, die in der Berufsausbildung erworben wurden, wiederum an Hochschulen akzeptiert werden.
Bemessungsgrundlagen werden kritisch gesehen
Eine Studie, die im Auftrag der IG Metall und Ver.di von Ingrid Drexel erstellt wurde, sieht die geplanten Bemessungsgrundlagen ECVET und EQF für die europäische Union allerdings viel kritischer: „Die Europäische Bildungspolitik, verfolge das Ziel, ein „neues System“ der Berufsbildung zu schaffen, dessen Grundlage ECVET und der EQF sei.“ Es wird kritisiert, dass damit nur die Branche der Bildungsanbieter und Zertifizierungsunternehmen verdeckt gefördert werden soll und dass eine Angleichung der Bildungssysteme angestrebt werde. Nach Ansicht von Drexel hätten die Strukturprinzipien des EQR/ECVET-Systems vielfache Deregulierungswirkungen, so berge die Ausrichtung auf eine Kompetenz-Orientierung die Gefahr einer Einengung beruflichen Lernens auf einzelne Arbeitsplätze statt auf Berufsfelder (Quelle: gew-hamburg [PDF – 76 KB]).
Es sei ein schwieriges Unterfangen, in einem praktisch grenzenlosen Wirtschaftsraum wie der EU, eine einheitliche Bewertung unterschiedlicher beruflicher Qualifikationen herzustellen.
ECVET und der Europäische Qualifikationsrahmen EQF
Die Bildungsminister der EU, der EFTA-Staaten (Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein) sowie die europäischen Sozialpartner beabsichtigen die europäische Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung zu verstärken. Dazu definierten sie mit der am 30.11.2002 verabschiedeten Kopenhagener Erklärung konkrete Themenfelder und Umsetzungsschritte. Am 14.12.2004 fand in Maastricht die vereinbarte Folgekonferenz mit 32 Bildungsministern, Sozialpartnern und der Europäischen Kommission statt, um die bislang im Kopenhagen-Prozess erreichten Fortschritte zu diskutieren und zukünftige Prioritäten festzulegen. Auf europäischer Bühne erteilte das Kommuniqué der Fortsetzung der Entwicklungsarbeiten an einem europäischen Leistungspunktesystem für die berufliche Bildung (ECVET) und einem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQF) ein klares Mandat (Quelle: BMBF).
Der European Round Table (ERT) will in die Bildungspolitik eingebunden werden 1989 veröffentlichte die Unternehmerlobby European Round Table (ERT), der die Interessen der 47 größten europäischen Unternehmen in Brüssel vertritt, einen Bericht. Der Bericht “Bildung und europäische Wettbewerbsfähigkeit” befasste sich mit der Erneuerung der Unterrichtsinhalte und forderte eine Anpassung an die Entwicklung der Unternehmen. Der ERT monierte den schwachen Einfluss der Industrie auf die Lehrpläne und forderte die verantwortlichen Politiker auf, Unternehmen künftig stärker in die Bildungspolitik einzubinden. 1991 veröffentlichte die EU ein Hochschulmemorandum, das zum gleichen Ergebnis gelangt, wie der ERT. Im März 2000 verfasste die Europäische Kommission ein Memorandum über “lebenslanges Lernen”, im gleichen Jahr einigte sich der Europäische Rat von Lissabon auf das neue strategische Ziel, die EU „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden zu lassen, der fähig ist, dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. Er nannte Vollbeschäftigung als allgemeines Ziel der Beschäftigungs- und Sozialpolitik und legte konkrete Zielvorgaben bis, die bis 2010 zu erreichen sein sollen, beispielsweise die Förderung des lebenslangen Lernens.
Die Lissabon-Strategie
Der im Jahr 2003 durch private Initiative gegründete Brüsseler Think-Tank “Lisbon Council for Economic Competitiveness” strebte die Umsetzung der am 23. und 24. März 2000 vom Europäischen Rat verabschiedeten Lissabon-Strategie an. Gründer des Lisbon Council ist Paul Hofheinz, ehemaliger Journalist des Wall Street Journal. Leitende Direktorin ist Ann Mettler, die ehemalige Europadirektorin des World Economic Forum, einer privaten Stiftung von über 1000 weltweit führenden Wirtschaftsunternehmen, deren Mitglieder einen Jahresumsatz von einer Milliarde US-Dollar aufweisen müssen. Die Stiftung arbeitet mit dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation WTO zusammen.
Es ist nachvollziehbar, dass Vertreter der Wirtschaft eine Bildung fordern, die auf dem neuesten Stand ist. Diese Forderung ist jedoch für alle Entscheidungsträger der Bildungseinrichtungen eine Gradwanderung zwischen wirtschaftlichen Interessen einerseits und der Wahrung unabhängiger allgemeiner (humaner) Bildung andererseits. Eine Anwendung der geplanten Bemessungsgrundlagen birgt das Risiko die Schulbildung auf ihre instrumentelle Verwertbarkeit zu reduzieren. Die gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen einer solchen vor allem auf den ökonomischen Nutzen ausgerichteten Bildung wären fatal. Der Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg, Autor des Buches “Amok – Kinder der Kälte” vertritt die Ansicht: “Schulen müssten gegen den Zugriff der Industrie geschützt sein, damit ein Kind lernen kann, ohne immerzu an seine Tauglichkeit, Verwertbarkeit zu denken.”