Rezension: „Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa –revisited

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Nach der Krise ist vor der Krise, hätte der Untertitel zu diesem Buch sein können. Inzwischen freilich sieht es so aus, als befände sich die EU längst schon wieder im Krisenmodus. Da kommt ein Buch zur rechten Zeit, das in zehn sehr präzisen Länderstudien zeigt weshalb und auf welche Weise die Integration in den Mitgliedsländern zwischen Stockholm und Athen aus dem Ruder läuft. Es ist das zweite Mal nach der großen Krise, dass ein europäisches AutorInnenteam um Steffen Lehndorff zehn Länderstudien vorlegt, die für GewerkschafterInnen, Arbeits- und SozialpolitikerInnen eine ebenso detaillierte wie kompakte Innenansicht der verschiedenen EU-Länder anbietet. Von Harald Werner[*].

Ging es bei der ersten, 2012 erschienenen Studie mit dem Titel „Ein Triumph gescheiterter Ideen“ noch um die unmittelbaren Verlaufsformen und Folgen der Krise, so geht es im neuen Band um die Umrisse eines unaufschiebbaren Kurswechsels, der allein das Auseinanderbrechen der Währungsunion verhindern könnte.

Obwohl es nicht an kritischen Analysen der Verwerfungen auf EU-Ebene mangelt, besteht der große Vorteil dieses Bandes darin, dass er zwar auf der europäischen Ebene mit interessanten Beiträgen beginnt, dann aber mit seinen Länderstudien in die Tiefe geht. Das ist schon deshalb von besonderem Wert, weil die Länderstudien die gravierenden Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten aufdecken, welche in der üblichen Berichterstattung zur EU-Politik kaum in Erscheinung treten. Und nichts belegt die „Spaltende Integration“ besser, als dass es keine bei allen Ländern gleichermaßen wirkende Medizin gibt, Zwar leiden alle auf die gleiche Weise unter der Austeritätspolitik und dem irrwitzigen Konzept, sich aus der Krise heraus zu sparen. Doch wenn man sich die einzelnen Länderstudien anschaut, zeigen sich so gravierende Unterschiede, dass das Projekt fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, wenn nicht ein vertiefender Integrationsmodus gefunden wird, mit dem die schwächeren Ländern gezielt unterstützt werden.

In seinem Einleitungskapitel fasst Lehndorff zunächst einmal die mit den Maastricht-Kriterien festgezurrten Konstruktionsmängel der „Konkurrenzunion“ zusammen, die das Euro-Gebäude 2010 fast zum Einsturz brachten, obwohl hinter dem auslösenden Faktor des Desasters, nämlich der nach oben korrigierten Staatsschuld Griechenlands, ein Land stand, das damals nur 1,8 Prozent zur EU-Wirtschaftsleistung beisteuerte. Kein Spekulationsangriff hätte den Euro in Gefahr bringen können, wäre der gegenseitige Beistand der Euro-Länder in Maastricht nicht ausdrücklich verboten worden. Doch der Fluch der blöden Tat konnte Blödes nur gebären, als mit der vor allem von Deutschland verordneten Rezeptur versucht wurde, die Wirtschafts- zu einer „Stabilitätsunion“ zu erheben. Seit dem „hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur in vier der im vorliegenden Buch analysierten Länder das Vorkrisen-Niveau wieder erreicht oder übertroffen.“ (S.15)

Dieser Rückblick ist zusammen mit Lehndorffs Kapitel zur „neuen Karriere des Modell Deutschland“ (S.131) insofern besonders lesenswert, weil er nicht nur die Fakten für die überfällige Revision der europäischen Austeritätspolitik liefert, sondern auch für die politische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bundesregierung. Denn was Merkel & Co als Erfolgsmodell verkaufen möchten, verdankt sich nicht nur einer Politik, die im eigenen Land mit stagnierenden Arbeitseinkommen und der Aufblähung des Niedriglohnsektors bezahlt wurde, sondern dieses Modell speist sich auch aus der Not anderer. Einerseits bremst die deutsche Binnenmarktschwäche die Importe anderer Mitgliedsländer aus und andererseits kann sich der deutsche Staat auf Grund der Schuldenprobleme seiner Nachbarn sich „real zum Nulltarif“ verschulden . (S.151) Auch die berechtigte Klage über die den deutschen Exportüberschuss muss eigentlich umformuliert werden: „Deutschland importiert zu wenig“. (S.93)

Natürlich werden sich die meisten zunächst für die Länderstudie Griechenlands, gewissermaßen den Brandherd der Staatsschuldenkrise interessieren. Der Beitrag belegt aber zunächst einmal wie hoffnungsvoll sich seine Wirtschaft vor der Krise entwickelte, als Griechenland nach den Iren die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Eurozone war.(S,83) Zwar listet die Autorin ausführlich die inneren Probleme auf, die der Staatsverschuldung einen enormen Aufschwung verliehen, macht aber auch deutlich, dass erst die dann verordnete Schocktherapie in die griechische Tragödie mündete.

In seiner Hauptaussage am überraschendsten ist der Beitrag über Irland, dem es überraschenderweise gelang, den sozialen Zusammenbruch zu verhindern und wo der Gini-Koeffizient trotz allgemein sinkender Einkommen sogar leicht zurückging. Auch in Österreich konnte in der Krise eine leichte Reallohnsteigerung durchgesetzt werden, weil letztlich die „Krise zu einer Wiederbelebung der österreichischen Sozialpartnerschaft geführt hat.“ (S.185) Ähnlich in Schweden wo es trotz erheblicher sozialer Einbrüche gelang, mit geldpolitischen Maßnahmen „zwischen 12.000 und 15.000 Beschäftigungsverhältnisse zu sichern.“ (S.237) Bei all diesen eher positiven Beispielen ist jedoch unübersehbar, dass die nächste Krise größere Opfer kosten wird, weil sich die Sonderbedingungen der eher glimpflich durch die Krise gekommenen Länder erschöpft haben.

Ausgesprochen dramatisch die spanische Bilanz, wo ein auf die Bau- und Tourismusbranchen gegründetes Wachstumsmodell zusammenbrach, zu dem es in keiner Branche eine Alternative gibt. (S.40) Gleichzeitig ist „die Kluft zwischen den Einkommen der unteren 20% in Einkommensskala (…)um fast 30% größer geworden“, so dass der Anteil der armutsgefährdeten Beschäftigten in Spanien auf 12,3 % gestiegen ist. (S.60)

Wie Spanien leiden auch Frankreich und Italien unter erheblichen Strukturdefiziten, die allein schon deshalb problematisch sind, weil beide Länder zusammen mit Deutschland von zentraler Bedeutung für die Euro-Zone sind. So leidet Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit nicht etwa an zu hohen Arbeits- oder Sozialkosten – wie öffentlich gern behauptet – sondern dass die Unternehmen einen immer größeren „Anteil des erwirtschafteten Überschusses an die Anteilseigener“ ausschütten, während der Anteil der FuE-Aufwendungen seit 1992 dramatisch gesunken ist. (S.69) Italien wurde von der Krise gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt, weil sie ausgerechnet jene Firmen mittlerer Größe traf, die eine führende Rolle bei Prozess- und Produktinnovationen spielten und die Wettbewerbsfähigkeit Italiens deutlich hätten steigern können. (S.66) Auch dies ein Beispiel für die Untauglichkeit eines Integrationsmodells, das alle über einen Kamm scheren will.

Alles in allem zeigen die Länderstudien zwar ein unterschiedliches Bild, machen aber immer wieder deutlich, dass sie geschwächt in die nächste Krise gehen. Das gilt natürlich als erstes für die Mittelmeerländer, für die Annamaria Simonazzi schlussfolgert: „Die enormen ökonomischen und politisch-institutionellen Unterschiede zwischen den Ländern im Norden Kontinentaleuropas und dem europäischen Süden haben deutlich gemacht, dass es im Fall der Mittelmeerländer ein Fehler war, Mitglied einer Währungsunion ohne Fiskal- und politische Union zu werden. Das Überleben der Schwachen in einer Währungsunion erfordert Solidarität.“ Eine ebenso späte wie bittere Einsicht, von der Deutschland als europäische Hegemonialmacht freilich noch weit entfernt ist.

Steffen Lehndorff (Hrsg.) Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa – revisited. Zehn Länderstudien. 350 Seiten, VSA-Verlag 2014, 24.80 €

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Download des Einleitungskapitels [PDF – 236 KB]

Mit freundlicher Genehmigung der GEGENBLENDE – dem gewerkschaftlichen Online-Magazin für die Debatten zur Zukunft unserer Gesellschaft.


[«*] Dr. Harald Werner, Redakteur und Autor, Berlin