Blinde Eliten: Erfahrungen anderer Länder werden ignoriert
Aus Anlass der Übernahme der Regierung in London durch den bisherigen Schatzkanzler Brown hier ein Auszug aus Albrecht Müllers „Machtwahn“ (2006), Seiten 66f. zur Optimierung der wirtschaftspolitischen Instrumente in den USA (der 90er) und in Großbritannien.
Blinde Eliten: Erfahrungen anderer Länder werden ignoriert
Wenn unsere Spitzeneliten uns erklären wollen, warum es trotz aller bisherigen Misserfolge weitergehen soll mit der »Erneuerung« und mit den Reformen, dann verweisen sie in der Regel auf andere Länder: auf Großbritannien, auf Schweden, auf Dänemark, auf die USA, jetzt auch auf Österreich und früher gern auf die Niederlande. Es ist richtig, dass die meisten Länder viel besser abgeschnitten haben als wir. Sie haben höhere Wachstumsraten und niedrigere Arbeitslosenquoten erreicht – zum Teil auch eine Verringerung der Staatsschulden. Aber ansonsten stimmt nahezu nichts an den gängigen Parolen. Sie beeindrucken nur, weil sie so massiv vorgetragen werden, im Brustton der Überzeugung daherkommen und von vielen Absendern gleichlautend verbreitet werden.
Bis vor drei Jahren wurde immer mit den Ergebnissen der Reformen in den Niederlanden gepunktet. Dabei wurde auf die totale Flexibilität und auf das sogenannte Polder-Modell hingewiesen, bei dem Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung ihre eigenen Interessen hintanstellten und gemeinsam eine Strategie für die Zukunft des Landes entwickelten. Jetzt unterbleibt dieser Hinweis, weil die Niederlande ganz und gar nicht mehr erfolgreich sind: Die Arbeitslosigkeit ist von 3,0 Prozent im Jahr 2000 auf geschätzte 6,2 Prozent13 in 2005 gestiegen; die Wachstumsrate lag im Jahr 2000 bei 3,5 Prozent, davor noch höher; seitdem erreichen die Niederlande jedoch nur noch Werte wie wir: 1,4 Prozent (2001), 0,1 Prozent (2002), -0,1 Prozent (2003), 1,7 Prozent (2004) und 0,7 Prozent (2005). Angesichts dieser Entwicklung könnte man fragen: Liegt dieser Niedergang auch an den Reformen?
Besonders gern wird mit den Vorbildern Großbritannien und USA gearbeitet. Es wird der Eindruck erweckt, als hätten diese Länder ihre Erfolge bei den Wachstumsraten und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor allem mit Reformen erreicht.
Wahr ist: Die USA verdanken ihre einigermaßen erfolgreichen Ergebnisse vor allem einem intelligenten Mix verschiedener Maßnahmen. Die amerikanische Notenbank Fed hat unter Alan Greenspan nie nur das Ziel Preisstabilität verfolgt, wie es unsere Bundesbank und die Europäische Zentralbank tun. Die Fed hat ihre Geldpolitik auch zugunsten des Wachstums und der Beschäftigung eingesetzt. So hat die US-Notenbank nach dem Einbruch der Aktienmärkte im Jahr 2001 sofort eine expansive Geldpolitik betrieben und, beginnend im Januar 2001, in zehn Schritten bis November 2001 die »Federal Funds Rate«, eine Art Leitzins, von 6,5 Prozent auf 2 Prozent gesenkt (also um 4,5 Prozentpunkte). Im selben Ausmaß senkte sie den Diskontsatz von 6 Prozent auf 1,5 Prozent. Und die USA haben eine Verschuldung des Staates von 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hingenommen. Nur in dieser Kombination einer expansiven Fiskalpolitik und einer expansiven Geldpolitik ist es gelungen, den Einbruch, der auf den Niedergang der Aktienmärkte folgte, zu überwinden.
Wenn Sie glauben, die Briten hätten deshalb bessere Wachstumsraten und eine niedrigere Arbeitslosenrate erreicht, weil Großbritannien ein Musterbeispiel einer angebotsorientierten Politik sei, liegen Sie voll im Trend. Auch Peter Bofinger, das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, musste sich mit dieser gängigen These auseinandersetzen. In einem Minderheitenvotum zum Gutachten 2005/2006 hat er sich ausführlich damit beschäftigt.14 Unter der Überschrift »Das britische Beschäftigungswunder« weist Bofinger darauf hin, dass die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre eingeleiteten Reformen zunächst keinen nachhaltigen Erfolg hatten. Die Arbeitslosenquote hatte beim Amtsantritt von Maggie Thatcher 1979 bei 4,6 Prozent gelegen und stieg mit ihrer Wirtschaftspolitik auf 11,2 Prozent 1985 an. Sie ging dann auf 6,9 Prozent im Jahr 1990 zurück und erreichte 1993 mit 10 Prozent fast wieder einen Höchststand.
Eine wirkliche Belebung setzte erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man, dass die britische Regierung nach 1992 einen ausgesprochen antizyklischen Kurs fuhr, dass sie akzeptierte, dass die Neuverschuldung 1993 fast 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte, zugleich das Pfund abgewertet wurde und die Zentralbank die Zinsen senkte. Und die Löhne durften steigen.
Auch die Berufung auf die vermeintliche Reformpolitik Großbritanniens ist also grotesk. Die britische Regierung hat keynesianische Rezepte angewandt, während hierzulande Elaborate darüber geschrieben werden, dass und warum und seit wann der britische Nationalökonom Sir John Maynard Keynes falsch liegt. Die Briten haben das gemacht, was auch bei uns nötig wäre: Sie haben den Einsatz aller möglichen Instrumente der Wirtschaftspolitik optimiert. Warum auch nicht? Warum verstehen wir in Deutschland dieses Einmaleins einer vernünftigen Wirtschaftspolitik nicht?