Wer auf andere Länder Steine wirft, sitzt im Glashaus. Beispiel: Umgang mit Schwulen
„In unserem Lande war noch bis vor wenigen Jahrzehnten selbst nationalsozialistisches Unrecht recht bei Bekämpfung der Schwulen. …
Etwas mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit wäre für uns angebracht, wenn wir Länder kritisieren, die aus welchen Gründen auch immer die von uns eingeschlagene Richtung langsamer oder gar nicht mittragen können oder wollen“, schreibt Hans Weiß, Rechtsanwalt, Freund der NachDenkSeiten, Autor von Büchern über die Kampagnen gegen Kuba („Kuba – Nachrichten von der Schurkeninsel“). Danke vielmals für den Artikel. Albrecht Müller.
A.M.’s nachträgliche, korrigiernde Ergänzung: Es darf oben nicht heißen das für solche Länder, die unsere Richtung nicht mitgehen, nicht kritisieren und zum Wandel drängen dürfen. Das sollten wir tun, allerdings in der Tonlage in kenntniss dessen wie lange wir selbst gebraucht haben.
Hier der Text von Hans Weiß:
„Er war Zahnarzt. Er war 58. Und er war schwul.
Und weil er schwul war drohte ihm der Staat Gefängnis an, sollte er sich nochmals homosexuell verhalten. Die Richter hielten dem Mann zugute, dass er kein Jugendverderber war, sich weder an Kindern noch an Wehrlosen vergriffen hatte. In beiden Fällen, die ihm vorgeworfen wurde, hätte er keine besondere Aggressivität entfaltet. Vielmehr war er im einen Fall der Versuchung der Situation erlegen. Im anderen Fall ging die Initiative zu den homosexuellen Handlungen nicht von ihm aus. Zudem stand er zum Zeitpunkt der Tat unter Alkoholeinfluss.
Da wollte man nicht so sein und ließ ihn laufen. Wenn auch auf Bewährung.
Aber acht Monate später wurde er wieder rückfällig. Er wurde verurteilt und eingesperrt. Er legte Berufung ein. Das Berufungsgericht hielt ihm zugute, dass es nur bei „tastenden Verführungsversuchen“ geblieben sei. Der 19 ½ Jahre alte Zeuge habe hierdurch keinen Schaden erlitten. Die Strafkammer kam zu dem Ergebnis, dass die von ihm vorgenommenen unzüchtigen Handlungen „nicht zu den schwersten dieser Art“ gehörten und hat ihm „trotz seiner Vorstrafen“ mildernde Umstände zugebilligt.
Dass der Zahnarzt trotz der Milde des Berufungsgerichts in den Knast kam, war selbstverständlich. Die gerichtliche Milde zeigte sich aber vor allem daran, dass das verurteilte Geschehen nicht zum Anlass genommen wurde, dem Zahnarzt die zukünftige Ausübung seines Berufes zu untersagen.
Anders sah das aber das Berufsgericht. Es erachtete die Entfernung des Zahnarztes aus seinem Beruf auf Grund des Vorfalls mit dem jungen Mann für erforderlich. Die bürgerliche Existenz des 58-jährigen musste ausgelöscht werden.
Der Zahnarzt beantragte deshalb die strafrechtliche Wiederaufnahme des Verfahrens. Begründet wurde dieser Antrag durch den Mann damit, dass er durch vorhergehenden Alkoholgenuss zur Begehung der Tat leicht beeinflusst gewesen sei. Das führte jedoch dazu, dass er in eine Nervenheilanstalt eingesperrt und dort mehrere Wochen lang durch einen psychiatrischen Gutachter beobachtet wurde. Dessen Gutachten kam zu folgendem Ergebnis:
„Die Untersuchung und Beobachtung des Verurteilten in der Anstalt hat ergeben, dass bei ihm cardiale und cerebrale Durchblutungsstörungen vorkommen; nach dem EEG kann sogar ein cerebraler Gefäßprozeß nicht ausgeschlossen werden. Der Verdacht auf – wenn auch nicht sehr hochgradige – Folgeerscheinungen einer in früheren Jahren durchgemachten Encephalitis und die Möglichkeit einer damit in Zusammenhang stehenden, sich auf das Triebleben auswirkenden Wesensveränderung hat sich nicht ausräumen lassen. Bei dieser Konstellation lässt sich die Möglichkeit, dass unter dem Einfluß von Alkohol, Übermüdung und Störungen der cerebralen Durchblutung Bewusstseinsstörungen erheblichen Ausmaßes auftreten, während derer es zu sexuellen Entgleisungen kommen könnte, keinesfalls ausschließen..“
Und fährt fort:
„Der Verurteilte ist ein kranker Mann; er ist außerdem durch das Strafverfahren und die bereits verbüßte Freiheitsstrafe so stark beeindruckt, dass er sich in Zukunft des Alkoholgenusses enthalten und damit dem Auftreten bedenklicher Situationen wirksam entgegentreten wird.“
Eine Wiederaufnahme des Verfahrens schließen die Richter jedoch aus:
„Die durch das Gericht genügend bestätigte neue Tatsache, dass der Verurteilte entgegen der Feststellung des Urteils, er sei voll zurechnungsfähig gewesen, nur vermindert zurechnungsfähig gewesen ist, rechtfertigt die Wiederaufnahme nicht. Denn diese Tatsache könnte nur eine Milderung der Strafe wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit herbeiführen; eine Wiederaufnahme zu diesem Zweck ist aber durch § 363 Abs. 2 StPO (Strafprozessordnung) ausdrücklich ausgeschlossen.“
Das Gericht aber zeigt seine Gewogenheit dem Dentisten gegenüber dadurch, dass es einen Rauswurf des Mannes aus dem Kreis der Zahnärzte ausnahmsweise nicht für notwendig erachtet:
„Aus all diesen Gründen hält der Senat die Entfernung des Klägers aus seinem Beruf auf Grund des § 4 Abs. 1 Nr. 3 ZHKG (Zahnheilkundegesetz) nicht für gerechtfertigt. Insbesondere ist der Vorfall, der die Zurücknahme der Bestallung ausgelöst hat, zu wenig gravierend, um daraufhin die bürgerliche Existenz des jetzt 58jährigen Klägers auszulöschen.“ Mehr Gnade kann es in diesem Staat aber dann doch nicht geben.
Wer ist der Staat, der seinen Bürgern so etwas antut, nur weil sie eine andere sexuelle Ausrichtung haben als die Mehrheit?
Nordkorea vielleicht, das Land, in dem Menschenrechte nichts gelten?
Oder etwa der Iran, der die Homosexualität strafrechtlich verfolgt bis zur psychischen und physischen Vernichtung der Schwulen?
Vielleicht dann doch Russland mit seinen Gesetzen gegen „homosexuelle Propaganda“, einem Land, in dem 38 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich halten und weitere 36 Prozent für eine psychische Krankheit? Nur 15 Prozent der Menschen in diesem Land halten Homosexualität für eine alternative Form der menschlichen Sexualität.
Nein. Der Staat heißt Bundesrepublik Deutschland. Das entscheidende Gericht war das Bundesverwaltungsgericht. Die Entscheidung stammt nicht aus dem Mittelalter, sondern datiert vom 27.10.1966 (veröffentlicht in „Neue Juristische Wochenschrift“, Jahrgang 1967, Seiten 314). Ein knappes Jahrzehnt vorher urteilte das Bundesverfassungsgericht auf den Einwand eines Beschwerdeführers, der „Schwulen-Paragraf 175“ sei durch das sogenannte Ermächtigungsgesetz im ersten Jahr des Nazi-Regierung 1933 ohne Mitwirkung eines demokratischen Gesetzgebers erlassen worden, dahingehend, „dass die Paragrafen 175 und 175 a StGB (Strafgesetzbuch) nicht in dem Maße ‚nationalsozialistisch geprägtes Recht’ seien, dass ihnen in einem freiheitlich demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse.“ (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10.5.1957, veröffentlicht in „Neue Juristische Wochenschrift“ 1957, Seite 865, Randnummer 121).
In unserem Lande war noch bis vor wenigen Jahrzehnten selbst nationalsozialistisches Unrecht recht bei Bekämpfung der Schwulen.
Der Paragraf 175 wurde in seiner Gesamtheit in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahre 1994, also vor zwanzig Jahren, aufgehoben.
Etwas mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit wäre für uns angebracht, wenn wir Länder kritisieren, die aus welchen Gründen auch immer die von uns eingeschlagene Richtung langsamer oder gar nicht mittragen können oder wollen.“
Ergänzung Albrecht Müller: Es gäbe noch einige andere Beispiele dafür, wie rückständig unser Land noch nach 1945 war und teilweise noch ist, z.B.: Konfessionsschulen, oder: die Ehefrau brauchte die Erlaubnis des Mannes, wenn sie arbeiten wollte. Dazu ein Zitat aus Focus:
„Das Bürgerliche Gesetzbuch schrieb es vor: Wollte eine Frau arbeiten, musste das ihr Ehemann erlauben. Erst 1977 wurde das Gesetz geändert. Bis 1. Juli 1958 hatte der Mann, wenn es ihm beliebte, den Anstellungsvertrag der Frau nach eigenem Ermessen und ohne deren Zustimmung fristlos kündigen können. In Bayern mussten Lehrerinnen zölibatär leben wie Priester – heirateten sie, mussten sie ihren Beruf aufgeben. Denn sie sollten entweder voll und ganz für die Erziehung fremder Kinder zur Verfügung stehen. Oder alle Zeit der Welt haben, um den eigenen Nachwuchs zu hegen.“